Kapitel 2
Den ganzen Sommer barfuß laufen macht auch keinen Spaß. Zumal, wenn einem nur die Bekleidungsstücke gehören, welche den Körper bedecken. Nun ja, womöglich verfügt Annerose über ein wenig mehr Klamotten, als Mädchen ist es ihr zu gönnen. Ohne dies auszusprechen, herrscht bei uns eine Hierarchie wie in einem Wolfsrudel. So geschieht das auch am Mittagstisch. Als Erster macht sich Franz mit den besten Stücken den Teller voll. Dann unsere Mutter. Wenn noch etwas übrig bleibt, ist die liebe Annerose an der Reihe, der eventuelle Rest wird mir überlassen. Genau wie in einem Raubtierrudel, nur bei uns fletschen die Hungerleider nicht so laut die Zähne.
Heute war wieder nichts Essbares im Brotkasten, nur gut, dass es den Schulkameraden Günter Mehlhorn gibt. Eine halbe Schnitte von seinem Schulbrot kann er abgegeben. Wer erlaubt schon, die Hausaufgaben abzuschreiben, dazu sogar die Hälfte seines Frühstücks verspeisen zu dürfen. Der Günter ist wirklich ein guter Kamerad, den man ganz sicher nur einmal auf der Welt findet. Vielleicht gelingt es eines Tages, sich dafür erkenntlich zu zeigen. Das darf natürlich keiner wissen, schon gar nicht unser Vater.
Mein größter Wunsch wäre, wenigstens Brot im Überfluss zur Verfügung zu haben. Dann gibt es Leute, die bestreichen ihre Stullen sogar mit Butter. Wenn wir solch einen Brotaufstrich kaufen könnten, wäre ein völlig neues Leben möglich. Das wirkt sich aus auf den Geist und die Seele, es erlaubt ein erweitertes Denkvermögen. Satt zu sein, empfinden Hungrige als eine Art Lebensglück, nicht jedem Menschen wird das vergönnt. Vielleicht gelingt es einmal, bessere Zeiten zu erleben. Notfalls stehen mir noch rohe Zuckerrüben, zudem die Krautköpfe zur Verfügung, welche für die Stallhasen bestimmt sind. Sicher würde damit der Zorn von Franz auf mich hereinbrechen, denn die Tierchen sollen für ihn einen fetten Braten ergeben: "Kinder brauchen kein Fleisch, schon gar nicht solche wie wir. Ja, das wäre sogar ungesund, eine gute Körner- oder Weißkohlsuppe ist auch wesentlich bekömmlicher", sagt er.
Der bringt es fertig und frisst ein ganzes Kaninchen alleine auf, dabei stört ihn nicht, wenn seine Familie zuschaut. Obwohl er genau weiß, wie sehr denen der leere Magen in den Kniekehlen hängt.
Oder es gibt Abnehmer für den Schlachtkörper, schließlich braucht der feine Herr auch ein bisschen Kleingeld. Man gönnt sich ja sonst nichts. Das Gleiche trifft auf seinen Sohn zu, diesmal wird das mühsam erarbeitete Geld besser versteckt. Dass es nicht wieder spurlos aus der Hosentasche verschwindet. Zumal keiner etwas bemerkt oder gar gestohlen haben will.
Eine wunderbare Familie, wie die ihre Kinder beschützt und behütet. Heute kommt mein Freund Klaus in unsere Wohnung. Wir wollen anschließend im naheliegenden Revier, nämlich am Bahnhof, Buntmetall sammeln. Für diese Diebestour trägt jeder einen Rucksack mit den entsprechenden Zangen, dazu anderem Werkzeug, auf dem Rücken. Denn das Metall liegt nicht einfach so lose auf den Gleisen herum. Unser Tätigkeitsfeld liegt westlich des Güterbahnhofes. Dort stehen auf den Abstellgleisen nicht mehr funktionstüchtige Dampflokomotiven. Die entweder im Krieg einen Treffer abbekommen haben oder sonst irgendwie außer Gefecht gesetzt wurden. Mit Sicherheit ist das nicht ganz ungefährlich, seitdem die Amerikaner für ein Stück von Berlin wieder abgezogen sind. Jetzt, da Russen die Straßen unsicher machen, wird derartiger Diebstahl als Sabotage bestraft. Das bedeutet fünfzehn Jahre Zwangsarbeit in Sibirien, darauf hat keiner von uns Lust. Auch wenn denen nachgesagt wird, sie wären kinderlieb, wollen wir es nicht darauf ankommen lassen, dies auszuprobieren, bei diesen asiatischen Typen mit Schlitzaugen und hervorstehenden Wangenknochen. Wenn die mit ihren komischen Pferdewagen durch die Straßen fahren, haben die uns noch nicht ein einziges Stück Brot zugeworfen. Da konnte man sich auf die Amis eher verlassen, Kinder bekamen manchmal sogar einen Kaugummi. Es geht am Güterschuppen vorbei, dann unterhalb des Bahndammes entlang, damit wir nicht schon von Weitem gesehen werden. Klaus bleibt plötzlich stehen: "Sag mal, du wolltest mir heute das Geheimnis anvertrauen, wie mit einem entsprechenden Zauberspruch ein bissiger Köder zu einem lammfrommen Hündchen manipuliert wird. Oder hast du das vielleicht vergessen?", fragt er. Oh lieber Herrgott, jetzt fängt der Nerventod tatsächlich mit diesem Kinderkram an: "Mensch du glaubst wohl immer noch an Märchen. Meine Hoffnung war, wir bräuchten darüber nicht mehr sprechen", bekommt er als Antwort. "Versprochen ist versprochen", erwidert Klaus vorwurfsvoll. Der gibt ohnehin keine Ruhe und nervt, bis ihm irgendein Schwachsinn vorgegaukelt wird. Womöglich glaubt dieser ewige Träumer das sogar: "Also gut, ich weihe dich ausnahmsweise in dieses Geheimnis ein. Jedoch nur unter der Bedingung, dass du anschließend hilfst, Karnickelfutter zu suchen."
Klaus erklärt sich sofort einverstanden: "Ja das geht in Ordnung", spricht er. So ausdrucksvoll als möglich muss das gelingen. Ich lege dabei die Stirn in Falten, schaue meinem Gegenüber mit stechendem Blick in die Augen: "Pass gut auf, dafür gibt es nur ein einziges Wort, Blackkingdog." Irgendwie scheint Klaus fasziniert zu sein oder wurde er möglicherweise in Hypnose versetzt: "Blackkingdog", wiederholt Klaus langsam mit großen Augen. Als wurde ihm soeben eine Goldlagerstätte verraten: "Oh, klingt das gut, kannst du auch verraten, was das auf Deutsch heißt", will er wissen. Auch das noch, langsam geht der einem ganz schön auf den Wecker: "Ja klar, das ist Englisch. In der Übersetzung heißt das schwarzer Königshund. Da nun mal Englisch in der ganzen Welt gesprochen wird, versteht das auch jeder Hund. Das stammt aus der griechischen Mythologie. Dort gilt der schwarze Königshund als Urvater aller Wölfe und Hunde, deshalb wird er als Gott verehrt." Davon hat Klaus noch nichts gehört, er steht zwischen Unkräutern mit offenem Mund und staunt: "Sag mal, woher weißt du denn das alles?", fragt er. "Na ein Jugendlicher sollte eben nicht immer nur Kinderbücher lesen, sondern welche aus denen er lernen kann", lautet die Antwort. Klaus nickt nachdenklich mit dem Kopf: "Du könntest damit recht haben, kein Wunder, vom schwarzen Königshund noch nie etwas gehört zu haben", erwidert er. "Na prima, dann merke dir das gut, vielleicht können wir nun endlich an die Arbeit gehen", sage ich erbost, in der Hoffnung nie wieder gefragt zu werden.
Nun ist es ratsam, weiterzugehen, schließlich sind wir hier nicht in der Märchenstunde. Die Schrottlokomotiven kommen schon in Sichtweite, nur gut, dass mir immer etwas Oberschlaues einfällt, zumal der Quälgeist endlich Ruhe gibt. Nur wenige Schritte laufen wir bis unterhalb der Ungetüme und können nun den Bahndamm hinaufsteigen. Jetzt ragen unsere Köpfe noch gar nicht richtig über die Gleise, da sind unten hindurch, auf der anderen Seite der Lok, zwei Beine zu sehen. So richtige Ständer eines ausgewachsenen Mannes sind das nicht, eher welche von unserer Sorte. Sogleich bedeutet das, ein Konkurrent treibt hier sein Unwesen. Der scheint etwas bemerkt zu haben, geht nach hinten, kriecht unter den Puffern zwischen zwei Lokomotiven hindurch, dann hat er uns auch gleich erspäht. Die Erleichterung steht auf beiden Seiten: "Was macht ihr denn hier?", will er wissen. Es ist ein Schulkamerad aus der Klasse meines Freundes: "Das Gleiche könnten wir dich fragen, wir suchen Karnickelfutter", sagt Klaus. Als Beweis zupft er eine Staude Löwenzahn aus dem Bahndamm: "Ihr habt es gut, braucht euch nicht mit den schweren Eisenstücken abschleppen, denn das Buntmetall wurde alles schon abgebaut", meint er. "Dafür bekommst du eine Menge Geld, für uns bleibt, wenn es gut geht, ein Lob übrig", erwidert Klaus. Wir suchen weiter Grünfutter, um dann ganz schnell in ein Abwasserrohr zu klettern. So lange bis die Konkurrenz den Heimweg antritt. Auf keinen Fall sollte man jetzt in eine der weiter hinten stehenden Lokomotiven klettern. Dann wäre sofort verraten, wo es noch Buntmetall gibt. Bequem wird es nicht in diesem Versteck, auf der Sohle des Rohres fließt eine stinkende Brühe, was nicht sonderlich stört. Hauptsache der Konkurrent verschwindet bald. Bei seiner Arbeit muss sich der Dieb ohnehin beeilen, sonst besteht die Gefahr, erwischt zu werden. Ziemlich unklug, auf der dem Bahnhof zugewandten Seite zu demontieren. Denn die Wächter beginnen immer von dort eine Kontrolle, ganz eindeutig wird das nicht unser Problem. Es dauert auch gar nicht lange, da sind über den Köpfen Schritte zu hören. Aus dem Versteck heraus ist zu sehen, ganz richtig, der Metalldieb läuft in Richtung Heimat.
Jetzt schlägt unsere Stunde, um Früchte zu ernten, nur noch schnell den Bahndamm hinauf. Hier auf den Schwellen zu laufen wird besser sein, als unterhalb in dem Wildwuchs. Ganz vorn macht das keinen Sinn, nur weiter hinten in den letzten Lokomotiven sind noch Teile aus Buntmetall vorhanden. Eisenschrott ist völlig uninteressant, dafür bekommt ein Verkäufer nur wenige Pfennige pro Kilo. Mit großen Schritten sind bald die letzten Dampfrösser erreicht, es geht die Eisenstufen hinauf, Klaus folgt mir. Ein erster Überblick ergibt, alle Armaturen sowohl Rohre aus Kupfer sind noch nicht gestohlen. Ehe die Arbeit beginnt, sollte einiges geklärt werden: "Ist das so in Ordnung, wenn ich demontiere, während du Wache hältst. Wir liefern das Metall gemeinsam ab und teilen uns das Geld", lautet der Vorschlag.
"Ja einverstanden eine gute Idee, so wird das gemacht", sagt Klaus freudig. Offenbar hatte er befürchtet, den Kürzeren zu ziehen. Nur nicht lange bei der Vorrede aufhalten. Klaus hockt sich in den Einstieg, dann...