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3. Rassengesetze
"Ludwina, Mirjam, hört euch das an!", rief Vater auf dem Sofa hinter seiner Zeitung. "Unglaublich! Die Nationalsozialisten haben am 15. September, zum siebten Nürnberger Reichsparteitag, ein Gesetz 'zum Schutze des deutschen Blutes' erlassen!"
"Und was bedeutet das?", fragte meine Mutter beunruhigt.
Mein Vater vertiefte sich weiter in den Artikel und schüttelte schockiert den Kopf.
"Na, nun sag schon, Friedrich!", drängte Mirjam.
"Ab sofort gelten Ehen zwischen Juden und Nichtjuden als Rassenschande. Es wird zur Auflösung dieser Ehen geraten und neue Eheschließungen oder Liebschaften zwischen Juden und Nichtjuden sind unter Androhung schwerster Strafe verboten. Das bedeutet es!"
"Nicht auszudenken, was diese Gesetze für solche 'Mischehen' bewirken werden!", rief Mutter empört. "Welche Ängste diese Menschen ausstehen müssen, vor allem ihre Kinder!"
"Es ist doch ungeheuerlich, was die Nazis sich alles ausdenken!", pflichtete Mirjam ihr bei. Sie griff nach dem Blatt, um sich selbst von den Ankündigungen ein Bild zu machen.
Daniel und ich tummelten uns gerade mit Purzelbäumen auf dem Parkett und hatten unseren Spaß beim Üben des Spagats.
Erschreckt durch den erregten Tonfall der Erwachsenen, blickten wir verwirrt von einem zum anderen, bis wieder Ruhe eintrat. Wir verstanden ohnehin nichts von "Rassenschande" und "reinem deutschen Blut". Wir hatten uns lieb und wollten zusammen sein. Das war alles, was für uns zählte.
Für die Freundschaft zwischen unseren Familien waren die Rassengesetze ohne Bedeutung. Sie fühlten sich nicht von ihnen betroffen. Es gab schließlich kein Gesetz, das die Freundschaft zwischen Juden und Nichtjuden verbot. Dennoch ergaben sich im Laufe der Zeit Änderungen, die uns allen nach und nach bewusst wurden.
Etwa eineinhalb Jahre später, als unsere Familien Ende Mai, kurz vor meinem vierten Geburtstag, an einem sonnigen Sonntagnachmittag auf der Terrasse der Familie Rosenholz gemütlich am Kaffeetisch saßen, verkündete Mutter, dass es Neuigkeiten gebe: "Röschen, wir haben dich im Kindergarten angemeldet. Ab Montag darfst du in den gleichen Kindergarten gehen, den auch Tante Evis Nichte Helma und Neffe Heinz besuchen. Das ist doch schön für dich, dass du gleich Freunde findest, nicht wahr?"
Mutter hatte mich im Kindergarten angemeldet! In meinem Kopf läuteten die Alarmglocken, denn das konnte nur Trennung von Daniel bedeuten. Auf meinen Protest hin erzählte meine Mutter, dass sie ein Geschwisterchen erwarte, das im September auf die Welt kommen solle, und sie bis dahin Zeit und Ruhe für die Vorbereitungen benötige.
"Aber Mutti, ich brauche doch gar kein Geschwisterchen", sagte ich widerborstig, "ich habe ja Dani!", und nach kurzem Überlegen fragte ich hoffnungsvoll: "Oder kommt Dani mit mir in den Kindergarten?"
"Nein, das geht nicht, Rosalie. Daniel kommt in eine jüdische Vorschule, in der er die hebräische Sprache lernt", erklärte Onkel David.
Daniel wusste das offensichtlich schon. Er sah zwar nicht ausgesprochen glücklich drein, nickte aber brav.
Unsere Eltern hatten unserem kindlichen Fassungsvermögen entsprechend schon frühzeitig versucht, uns die Unterschiede zwischen unseren Glaubensrichtungen verständlich zu machen. Dazu gehörte, dass Daniel die Sprache seiner Urahnen lernen sollte, die früher in Ländern gelebt hatten, welche ich mir allerdings nur schemenhaft vorstellen konnte. Anscheinend war es jetzt so weit und ich musste mich damit abfinden.
"Weißt du", sagte Mutter tröstend, "du bist ja nur vormittags im Kindergarten und Daniel ist zur gleichen Zeit in seiner Vorschule. Nachmittags könnt ihr zusammen spielen, so lange ihr wollt."
"Nun gibt es noch eine Neuigkeit, bei der es um Ruth geht", meinte Onkel David. "Willst du selbst erzählen, Ruth?"
Daniels achtzehnjährige Schwester wirkte ausgesprochen unruhig. Sie wickelte unablässig das Ende ihres dicken Zopfes um die Finger. Nun hob sie ruckartig den Kopf. "Ja, ich . ich habe ja jetzt das Abitur gemacht, aber ich möchte nicht an eine deutsche Universität gehen. Tante Rebekka und Onkel Simon haben mich eingeladen, bei ihnen in Zürich zu wohnen, damit ich dort studieren kann." Ruth senkte wieder den Kopf und fuhr fort, mit ihrem Zopf zu spielen.
Ruth würde uns verlassen? Das war für Daniel und mich unfassbar. Ruth hatte sich immer liebevoll um uns gekümmert, wenn unsere Mütter verhindert waren. Sie spielte uns auf der Flöte vor, sang mit uns Kinderlieder, lehrte uns Kinderreime, reparierte für uns kleine Schäden an Spielzeugen und tröstete uns, wenn wir unglücklich waren, weil mal etwas nicht nach unserem Kopf ging.
Wir stürzten auf sie zu. Daniel kletterte auf ihren Schoß und legte die Arme um ihren Hals und ich umklammerte ihre Taille.
"Nein, Ruth, bleib hier!", rief Daniel, wobei ihm Tränen über die Wangen kullerten. "Du kannst doch auch in Nürnberg in die Unität!"
Ich sagte nichts, aber auch ich weinte ihr Kleid nass.
"Ruth möchte Ärztin werden, wie ich", erklärte Onkel David. "Das ist aber in Nürnberg nicht möglich. Stellt euch vor, sie müsste zum Studium in eine andere Stadt ziehen und ganz alleine wohnen, wo sie niemanden kennt. Da ist es doch besser für Ruth, sie geht zu meiner Schwester, eurer Tante Rebekka, und zu Onkel Simon. Das versteht ihr doch! Ihr wollt bestimmt, dass es Ruth gut geht, und bei Tante und Onkel ist es fast wie zu Hause."
"Aber sie hat dann uns nicht mehr", wandte ich ein. "Uns hat sie doch auch lieb!"
Für Onkel David war es wirklich nicht leicht, zwei Vierjährigen klarzumachen, warum Ruth nicht hierbleiben konnte. Für sie als Jüdin war es höchst unwahrscheinlich, in Deutschland einen Studienplatz zu bekommen, daher boten ihr die Schweizer Verwandten ihre Hilfe an.
Um Daniel und mich auf andere Gedanken zu bringen, zog Ruth uns in eine Gartenecke zur Schaukel. Sie schob uns an, bis wir höher und höher flogen. "Noch mehr, Ruth, noch mehr!", riefen wir und jauchzten vor Vergnügen.
Ruth hatte selbst große Bedenken, ob sie in Zürich nicht arges Heimweh nach uns allen plagen würde. Dennoch freute sie sich auf Tante Rebekka und Onkel Simon, die sie in sehr guter Erinnerung hatte. Im tiefsten Innern wusste sie, dass es für sie keine andere Lösung gab, als Deutschland zu verlassen. Das Land konnte ihr keine Zukunft mehr bieten.
"Das Vernünftigste wäre, ihr würdet gleich alle zusammen in die Schweiz auswandern", schlug Vater vor, obwohl er wusste, dass er mit diesem Rat bei David auf Granit biss. Auch die Züricher Verwandten bedrängten David seit Langem, mit seiner Familie das für Juden sich immer unsicherer entwickelnde Deutschland zu verlassen und über die Schweiz nach Amerika zu weiteren Verwandten auszuwandern.
Das lehnte David strikt ab. "Mir und meiner Familie wird nichts geschehen. Mein Vater ist im Vierzehner Krieg (dem Ersten Weltkrieg) gefallen und ich selbst habe als Freiwilliger für Deutschland an der Front gekämpft und sogar das Eiserne Kreuz für besondere Tapferkeit erhalten. Außerdem kann ich als Arzt meine jüdischen Brüder hier nicht im Stich lassen!"
Diese Begründung konnte Ruth als angehende Ärztin zwar verstehen, andererseits hielt sie ihrem Vater vor, dass ihm die eigene Familie doch am wichtigsten sein sollte. Aber seinem Argument, er sei als ehemaliger deutscher Soldat so sicher wie jeder andere Deutsche, hatte sie nichts entgegenzusetzen. (Tatsächlich waren ehemalige jüdische Frontkämpfer im Dritten Reich zunächst von einschneidenden Maßnahmen ausgenommen; das galt aber nur für eine gewisse Zeit; Anmerkung der Autorin.)
Meine Mutter hatte für mich einen evangelischen Kindergarten gewählt. Er wurde von zwei Nonnen und zwei jungen Kindergärtnerinnen geführt. Helma und Heinz, die Zwillinge von Tante Evas Schwester Maja, besuchten diesen Kindergarten bereits seit einem Jahr und fühlten sich dort sehr wohl.
Sie sprangen sofort auf mich zu, nahmen mich an beiden Händen, führten mich herum und zeigten mir die Einrichtung und alle Spielsachen. Entgegen meinen schlimmen Erwartungen, die natürlich kindlichem Trotz entsprangen, gefiel mir alles sehr gut.
Dann forderte eine Kindergärtnerin die Kinder auf, einen Kreis um mich zu bilden, und stimmte ein Begrüßungsliedchen an, in das alle Kinderstimmen einfielen.
Mit allerlei Spielen, dem Lernen eines neuen Liedes und dem Vorlesen einer spannenden Kindergeschichte verflog der Vormittag im Nu. Als Lisa mich um zwölf Uhr abholte, erzählte ich ihr auf dem ganzen Nachhauseweg ununterbrochen von allen Ereignissen während meines ersten Morgens im Kindergarten.
Am Nachmittag berichtete mir Daniel von seinen Erlebnissen in der Vorschule. Es handelte sich allerdings um keine offizielle Vorschule, sondern um die freiwillige Arbeit eines Rabbiners und zweier Lehrer, die abwechselnd in einem der Wohnräume der Teilnehmer stattfand. Sie kümmerten sich um acht Jungen im Alter von vier bis sechs Jahren. Zuerst las der Rabbiner einen Teil einer Bibelgeschichte vor, den sie anschließend gemeinsam nacherzählen mussten, dann sprach er ihnen einen kurzen Satz auf Hebräisch vor und erklärte ihnen dessen Bedeutung auf Deutsch. Die wenigen hebräischen Worte musste jeder Junge so lange nachsprechen, bis er sie fehlerfrei konnte.
Mit der Zeit gewann Daniel immer mehr Interesse an der Vorschule. Das Nachsprechen und Verstehen der hebräischen Worte machte ihm bald keine Schwierigkeiten...
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