1. Kapitel
Sie hatte es gespürt. Als sie sich nach dem Zettel gebückt und die Zeilen gelesen hatte, war es ihr vorgekommen, als hielten ihre Mitschüler den Atem an. Und als würden tausend Augen sie beobachten.
Genauso war es auch jetzt wieder. Obwohl die Straßen menschenleer waren, hatte sie plötzlich das Gefühl, von Blicken durchbohrt zu werden.
Ein klirrendes Geräusch ertönte in ihrem Rücken.
Sie fuhr herum.
Es war nur eine leere Bierflasche, die, von einem plötzlichen Windstoß erfasst, über das Kopfsteinpflaster rollte.
Vielleicht hatte sie auch jemand absichtlich über die Gasse rollen lassen. In ihren Gedanken hörte sie die anderen kichern. Konnte es nicht sein, dass sie sich nur einen Scherz mit ihr erlaubten? Wenn sie sich umdrehte, würden sie alle dort stehen: Thilo, Axel, Anne, Brigitte und all die anderen lieben Klassenkameraden, die sie seit einem halben Jahr derart abfahren ließen.
Erst seit einigen Wochen hatte sie gemerkt, dass sich ihre Geduld bezahlt machte. Man drehte sich nicht mehr demonstrativ um, wenn sie in der Pause jemanden ansprach. Man fragte nach ihrem Rat, wenn es um den Schulstoff ging. Und man hatte sie sogar dreimal eingeladen ...
Vor allen Dingen Axel schien daran interessiert zu sein, dass sie zu ihnen gehörte.
Hcid tetrawre natas!
Man musste es nur rückwärts lesen, um zu wissen, was damit gemeint war. Christine hatte lächeln müssen. Sie war fast zu alt für diese kindlichen Scherze. Aber sie wusste mittlerweile, dass die anderen auf diesen Satanskram abfuhren.
Jetzt war ihr nicht mehr zum Lächeln zumute.
Nachts auf der Straße galten andere Gesetze, galt eine andere Realität. Natürlich glaubte sie nicht, dass gleich der Leibhaftige vor ihr stehen würde. Aber was war, wenn sich die Einladung, die sie erhalten hatte, nicht als harmloses Treffen entpuppen würde? Vielleicht hatten ihre Klassenkameraden nur so getan, als würden sie sich mit ihr, der Neuen, anfreunden.
Um sie heute völlig zu demütigen ...
Mehr denn je glaubte sie, beobachtet zu werden. Die dunklen, schattenübersäten Nischen der verwinkelten Fachwerkhäuser boten genügend Verstecke. Ihre überreizten Nerven gaukelten ihr ein Kichern vor. Anne kicherte so. Anne mochte sie am wenigsten. Sie steckte dahinter, dass sie von den anderen gemieden wurde. Wahrscheinlich war sie eifersüchtig darüber, dass Christine besser aussah als sie.
Aber dafür konnte sie doch nichts!
Auch nicht dafür, dass Axel ihr in letzter Zeit mehr oder weniger den Hof gemacht hatte.
Christine spürte, wie ihr diese Gedanken Kraft gaben. Ihr alter Trotz kehrte zurück. Egal, was passieren würde, sie würde sich nicht von Anne und den anderen ins Bockshorn jagen lassen.
Sie ließ St. Nikolei hinter sich und gelangte auf die Breite Straße. Zum Glück war sie wirklich etwas breiter als die anderen verwinkelten Gassen. Der Druck wich fast spürbar von ihr.
Trotzdem war es noch immer viel zu früh. Sie wollte nicht unbedingt als Erste vor dem Hexenbürgermeisterhaus stehen. Die anderen würden denken, dass sie es nicht erwarten konnte, endlich zu ihnen zu gehören. Sie zwang sich, langsamer zu gehen. Aber auch so würde sie das Hexenbürgermeisterhaus in einer Minute erreicht haben. Die spitzen, reichverzierten Giebel des berüchtigten Hauses waren bereits zu sehen. Sie hatte plötzlich die Vision, als würden die Giebel sich strecken und in lange, gierige Krallen verwandeln, die nach ihr grabschten. Kurzentschlossen wandte sie sich nach links und gelangte durch eine weitere Seitengasse in den Abteigarten. Ihr Gedanke war, sich hier noch eine Viertelstunde aufzuhalten, um dann erst zum Treffpunkt zu gehen.
Der Abteigarten umfasste ein ganzes Karree. Unter seinen hohen, alten Bäumen war sie oft spazieren gegangen. Die mondscheinbetünchte Fläche des Rasens wirkte wie ein gespenstisch ausgeleuchtetes, surreales Bühnenbild auf Christine. Die Büsche bewegten sich wie von Geisterhand sanft im Wind.
Am anderen Ende der Rasenfläche befand sich eine Bank. Man konnte von dort sogar die Giebel des Hexenbürgermeisterhauses sehen. An sonnigen Tagen hatte sie oft dort gesessen. Heute Nacht mochte dies keine gute Idee sein.
Dennoch lenkte sie ihre Schritte dorthin. Es war der alte Trotz, der wie immer die Oberhand in ihr gewann. Sie würde einfach dort auf der Bank sitzen und warten, bis die Kirchenglocken zwölf schlugen.
Sie ging quer über den Rasen auf die Bank zu. Einen Augenblick lang glaubte sie, dort jemanden sitzen zu sehen, aber es war nur der Schatten eines vom Wind bewegten Astes, der ihr dies vorgaukelte.
Als sie die Bank erreichte, war sie trotzdem nassgeschwitzt. Es war merkwürdig, wie die Nacht alles veränderte und jeden einzelnen Schritt zu einer Mutprobe werden ließ.
Sie ließ sich auf der Bank nieder. Das Mondlicht war so hell, dass sie selbst jetzt die Giebel des Hexenbürgermeisterhauses erkennen konnte. Sogar einige Fledermäuse konnte sie sehen, die die Giebel umflatterten.
Wie bei einem Geisterschloss, dachte sie, aber sie verscheuchte den Gedanken sogleich wieder.
Sie dachte an Axel, und tatsächlich half dieses Bild, ihr ungutes Gefühl beiseite zu drängen. Axel war groß und schlank, und - wie sie fand - für einen Obersekundaner erstaunlich reif und erwachsen. In seiner Gegenwart fühlte man sich geborgen und beschützt.
Zugleich hatte man selbst das Bedürfnis, ihn zu beschützen. Er hatte einen Sprachfehler. Er stotterte. Wenn ihn die Lehrer ansprachen, bekam er merkwürdigerweise fast kein Wort vollständig heraus. In normalen Gesprächen auf dem Pausenhof dagegen konnte er völlig frei reden. Trotz seines Sprachfehlers war er nicht nur bei den Mädchen sehr beliebt. Christine konnte verstehen, dass Anne eifersüchtig auf sie war. Bislang hatte nämlich seine Aufmerksamkeit Anne gegolten ...
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie plötzlich einen dahinhuschenden Schatten sah. Zwischen den Büschen genau auf der anderen Seite des Rasens.
Und diesmal hatte sie es sich nicht eingebildet!
Sie spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. Sie war in Behandlung deswegen und der Doktor hatte ihr bereits zu verstehen gegeben, dass sie nicht uralt werden würde.
Aber sie konnte ihre Dummheit nicht rückgängig machen. Sie saß wie versteinert, während sie den Schatten verfolgte.
Jetzt hatte er das kleine Denkmal erreicht, das sie von ihrem Platz aus gut erkennen konnte. Es war das Denkmal eines Kranichs. Sie kannte die verwitterte Schrift auswendig:
Hier liegt Hans der Schöne
Er, der von Pol zu Pol gezogen,
hoch über Wolken oft geflogen,
sich jedes Beifall hier erwarb,
ach dieser gute Kranig stark
Lemgo 12ten December 1788
Der Schatten bewegte sich weiter, sprang von Busch zu Busch und kam ihrer Bank immer näher.
Sie wollte aufstehen, wegrennen, aber sie konnte noch nicht einmal den Arm bewegen. Der Schatten verschwand aus ihrem Blickwinkel. Wahrscheinlich schlich er sich jetzt von hinten an sie heran.
Sie spürte, wie Panik in ihr aufkam. Sie wollte um Hilfe schreien, aber irgendwie schreckte sie davor zurück. Der Schrei blieb wie ein Kloß in ihrem Hals stecken.
Dann hörte sie das Knacken der Zweige in ihrem Rücken. Es gelang ihr, den Kopf zu wenden, aber hinter ihr war nur Dunkelheit. Das Knacken wurde lauter, und dann sah sie den Schatten herankommen.
Jetzt schrie sie wirklich. Aber augenblicklich legte sich eine Hand auf ihren Mund. Sie japste nach Luft und strampelte.
»Psst!« Der langgezogene Ton ließ sie zur Besinnung kommen.
Es war Axel, der vor ihr stand. Er funkelte sie wütend und gleichzeitig um Verzeihung bittend an. Vor Aufregung brachte er kein Wort heraus.
Christine fasste sich ans Herz. »Hast du mich erschreckt. Ich wäre fast gestorben vor Angst.«
Dass sie es fast wörtlich meinte, brauchte er nicht zu wissen. Zumal sie es überstanden hatte. Ihr Herz pochte wieder ganz normal, und bewegen konnte sie sich auch wieder. Trotzdem spürte sie unbewusst, dass sie diesmal an die Grenze gegangen war.
»Du - du ...«, stotterte Axel.
»Beruhig dich erst mal«, sagte Christine. »Komm und setz dich!«
»Keine Zeit. Wir müssen verschwinden!« Endlich schien er wieder reden zu können, obwohl es ihm nach wie vor Schwierigkeiten bereitete.
»Verschwinden? Steckst du denn nicht hinter dieser Einladung?«
»Es war Annes Idee, und ich bin darauf eingegangen. Fünf oder sechs von uns sind noch mit dabei. Sie erwarten dich im Hexenbürgermeisterhaus und wollen dir einen gehörigen Schrecken einjagen.«
Christine spürte, wie die alte Wut wieder hochkam. »Also geht es gar nicht darum, mich in die Clique aufzunehmen? Die anderen wollen sich einen Scherz mit mir erlauben?«
»So kannst du's sehen, ja. Anne ist verdammt eifersüchtig auf dich. Ich glaube, sie hat sich etwas Gemeines einfallen lassen. Seit einiger Zeit steht sie auf diese Hexenzirkel. Sie hat einige...