Schweitzer Fachinformationen
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Ein kleines Fertigteilitalien im veld, liegt Villa Toscana am Hang eines Höhenzugs neben dem Freeway, ruht auf einer Feuerschneise roter Erde wie eine Spielzeugstadt auf einer Picknickdecke. Daneben sieht alles andere wie Fremdkörper aus - die Wellblechdächer der alten Bauernhäuser auf den angrenzenden Flurstücken, die altersschwachen Windmühlen, die Eukalyptusbäume.
Als Budlender auf der N3 daran vorüberfuhr, bildete er sich ein, Iris an einem Fenster der Villa Toscana sehen zu können, wie sie nach ihm Ausschau hielt. Das war sein fünfter Ausflug in die Toskana. Es sollte der letzte werden, ein so kurzer zudem, dass er noch nicht einmal unter eigenem Namen abgeheftet wurde.
Er nahm die Ausfahrt Marlboro Road. Während er an der Ampel hielt, schob ein Straßenhändler einen Vogel in sein Auto, eine Art Handpuppe mit steifem Kamm und einer scharlachroten Zunge, die in der Kehle zuckte. Durch das dehnbare Gewebe konnte er erkennen, wie die Faust des Mannes die Zunge herausschnellen ließ. Ob es eine Schlange war? Er kurbelte das Fenster hoch und starrte wütend zu den Kuriositätenhändlern und ihren Waren hinüber, die an den Straßenrändern und auf den Verkehrsinseln ausgestellt waren: eine Herde Holzgiraffen, groß wie ausgewachsene Männer, Trommeln und Masken, aus Perlen geknüpfte Anstecker, die für Aids-Bewusstsein oder die Staatsflagge warben, Obstschalen und Krawattenständer und Leuchter aus verdrilltem Draht. Kunst und Kunsthandwerk. Trödel. In Johannesburg wurde jede Straßenecke zum Flohmarkt. Anteil der Beschäftigung im informellen Sektor (in Prozent der Gesamtbeschäftigung): 30. Oder höher?
Zwischen den beiden Autoschlangen näherte sich ein Mann mit einem handgeschriebenen Schild, auf dem er um Geld oder Essen bat, ging von einem Autofenster zum nächsten und führte für jeden Fahrer einen kleinen Stepptanz auf. Immer aufs Neue flammte in seinem Gesicht ein Lächeln auf und verglühte. Er glich einem Spielzeug, das man mit einem Kopfschütteln ausschalten konnte. Unten auf seinem Schild war eine Botschaft zu lesen: Bitte fahren Sie vorsichtig.
Budlender drehte den Kopf so, dass sich der Sprung in seiner Windschutzscheibe, eine Sonnenkorona von der Art, wie sie ein Geschoss verursacht, auf den Leib des Straßenhändlers einstellte und ihn in Stücke zerspringen ließ.
Ob er Nigerianer war? Höchste Zeit, die Merkmale zu lernen. Ein Freund aus der Bank hatte ihm eines Abends nach der Arbeit im Baron and Farrier in der Old Joburg Road bei einem Pint einen Crashkurs in Ethnografie gegeben. Tuschelnd hatten Warren und er in einer Nische gesessen, als ob man sich des Themas schämen müsste, und rau aufgelacht, als ihnen bewusst wurde, was sie da taten.
>Kleine Ohren?<
>Genau. Kleine Ohren, zierlich und eng am Schädel anliegend, wie bei einem Hamster.<
Und das Ergebnis der Übung? Seit er auf die charakteristischen Merkmale aufmerksam gemacht worden war - eine besondere Kräuselung des Haars oder eine Hautschattierung, die Betonung eines Wangenknochens oder der Kieferpartie, die Wölbung einer Lippe, die Schrägstellung eines Auges, die Größe eines Ohrs -, kam es ihm so vor, als wären überall Nigerianer. Auch Mosambikaner sah er jetzt ständig. Und Somalis. Das alte Stereotyp hatte sich umgekehrt: Für ihn sahen sie jetzt alle unterschiedlich aus. Ausländer, wohin man sah. War es möglich, dass die Fremden den Eingeborenen den Rang abgelaufen hatten? Konnte das sein? Es gab keine belastbare Statistik.
Budlender hatte sich an diesem Punkt seiner Karriere genötigt gesehen, seine Leidenschaft für Statistik, wenn man sie als solche bezeichnen konnte, mit einem professionellen Interesse an Einwanderung zu verbinden. Von der Development Bank zu Statistical Services abgestellt, half er dabei, die Fragebögen für die Volkszählung zu überarbeiten - die 1996 bei der Volkszählung verwendeten, der ersten nichtrassischen Auszählung der Köpfe in der Geschichte des Landes, hatten die halbe Bevölkerung völlig überfordert. Um sicherzustellen, dass die neuen Versionen jedermann verständlich waren, hatten die Verfasser eine Gruppe zu befragender Personen gewonnen, Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund (sie bemühten sich, die alten Kategorien >Rasse< und >Bevölkerungsgruppe< zu vermeiden) und aus jeder Einkommensschicht (auch den Begriffen >reich< und >arm< gingen sie aus dem Weg), wie es in der Anleitung hieß. Seit Monaten fuhr er nun zwischen dem Documents Committee und seinem Anteil des Freiwilligenpools hin und her, stimmte Fragen ab, transportierte überarbeitete Entwürfe durch die Gegend. Immer auf Achse, immer unterwegs.
Es war der Fragebogen, der ihn überhaupt erst in die Toskana geführt hatte.
Johannesburgs Grenzmarken treiben davon, gleiten über uranfängliche Höhenzüge und durch Talsohlen, verweilen in unsicheren Gefilden, entschlüpfen erneut. An den Rändern, dort, wo die Stadt sich für einen Augenblick im Veld verläuft, bilden sich unvorstellbare neue Stimmungsgebilde heraus. Als er zum ersten Mal an den Toren von Villa Toscana vorfuhr, war eine seltsame Erregung über ihn gekommen, eine traumähnliche Mischung aus Vertrautheit und Deplatzierung.
Villa Toscana.
Abheften wollte er alles später. Im Augenblick fühlte er sich wie ein Mensch in einem Film, der sein Gedächtnis verloren hat und zufällig an einen Ort zurückkehrt, den er liebt. In seinem Hinterkopf schwefelten, wie ein hingeworfenes Streichholz kurz vor dem Aufflammen, einige charakterisierende Fakten herum.
Der Architekt hatte der Einfahrt die mittelalterliche Behandlung verordnet. Eisenbahnschwellen unter den Rädern ließen die Zufahrt wie eine Zugbrücke rumpeln, schwer und dunkel sahen die mit Bolzen und Angeln beschlagenen Holztore aus, in die Trockenmauern waren Eisengitter eingelassen. Durch die Schießscharte eines befestigten Wachhäuschens sah ihn ein Wachmann an, der dann, befriedigt darüber, dass er keine unmittelbare Bedrohung darstellte, mit einem Klemmbrett in der Hand herauskam.
Budlender schlug seinen Kalender auf, der auf dem Beifahrersitz lag, um sich des Namens der zu befragenden Person zu vergewissern.
»In welcher Nummer wohnt Miss Iris du Plooy?«
»Unit 24.«
Ein Stift war mit einem Stück Schnur am Klemmbrett befestigt, und an dessen Ende befand sich eine kleine eingravierte Abbildung. Er drehte den Stift, um sie von allen Seiten zu betrachten. Ein dreiköpfiges Tier mit einem Haarwust auf der Schädeldecke, sechs energielosen Augen und drei rosa Nasen. Hündisch. Die Nasen waren Radiergummis.
Er füllte das Formular aus. Name: Iris du Plooy. Diese kieseligen Silben fühlten sich in seinem Mund vertraut an, schmeckten glatt und salzig. Unit: 24. Warum nannten sie die >Units<? Name des Unternehmens. Er schrieb Erbsenzähler. Grund des Besuchs: Erbsen zählen. Ein kleines Spiel, das er mit dem Mann vom Sicherheitsgewerbe spielte. Wie weit man es wohl treiben müsste, bis jemand den Bluff auffliegen ließ?
Der Wachmann nahm ihm das Klemmbrett ab und ging um das Auto herum zum Heck des Wagens, um das Nummernschild zu überprüfen. Budlender beobachtete im Rückspiegel, wie er sich mit dem vielköpfigen Hund hinter dem Ohr kratzte und angestrengt etwas schrieb. Vielleicht hatte er den Witz bemerkt. Er schirrte sich die Hosen zurecht und trat wieder ans Wagenfenster.
»Tut mir leid, Sir, Sie haben die falsche Nummer.« Als ob sie miteinander telefonierten.
Scheiße. Die Nummer war auf das neue Provinzsystem umgestellt worden, als das Auto vor einigen Wochen zugelassen worden war. Gauteng Province. Er hatte, ohne nachzudenken, die alte Nummer mit dem T am Ende eingetragen. Aus alter Verbundenheit zum dahingegangenen Transvaal.
»Ich hab's vergessen. Ich bin erst letzte Woche auf die GP-Schilder umgestiegen.«
»Es ist die falsche Nummer.«
Erwartete man von ihm, dass er die neue hersagte? Einen Augenblick lang fiel ihm nicht ein, wie sie lautete. Dann entdeckte er, dass der Wachmann sie bereits unter der Überschrift >Vorkommnisse< in der Spalte auf der rechten Seite eingetragen hatte.
Gefährliche Zeiten, in denen wir leben, dachte er. Ein kleiner Ausrutscher, ein falscher Strich des Stifts können sich unversehens in ein Vorkommnis verwandeln. Oder verhält es sich genau anders herum? Stimmt es nicht, dass 42 Prozent aller Verkehrstoten Fußgänger sind? Dass 67 Prozent aller Haushaltsunfälle in der Küche geschehen? Dass 83 Prozent der Kindersterblichkeit verhindert werden könnten, wenn die Mütter die Grundregeln der Hygiene befolgten?
»Sie dürfen nicht rein.«
Der Wachmann klang fast ein bisschen...
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