Schweitzer Fachinformationen
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Der Brunnen plätscherte unnatürlich laut in der ungewohnten Stille. Obwohl es bereits kurz vor halb neun war und ein ganz normaler Werktag, schien das kleine elsässische Örtchen Eguisheim wie ausgestorben. Sowohl die Metzgerei als auch die Bäckerei hatten noch geschlossen, ebenso das Café am Marktplatz, und es war kein einziges Auto zu hören. Der malerische Platz, der im Westen ganz von der im neuromanischen Stil erbauten St.-Léon-Kapelle beherrscht wurde, war menschenleer. Auf dem Kopf der Statue des berühmtesten Sohnes des Ortes, dem späteren Papst Leo IX., saß eine einsame Krähe und putzte sich das glänzend schwarze Gefieder. Die wenigen Touristen, die so früh am Vormittag schon im Ort unterwegs waren, traten zögernd, fast ehrfürchtig aus einer der ringförmig angeordneten Gassen auf den verlassenen Platz.
Dann, völlig unerwartet, begannen die vier mächtigen Glocken der St.-Peter-und-Paul-Kirche zu läuten. Das Dröhnen der Glocken hallte von den bunt gekalkten Fassaden der alten Fachwerkhäuser wider, die sich, eng gedrängt wie Küken um ihre Glucke, um den blumengeschmückten Brunnen scharten, und ließ die klare Morgenluft erzittern. Die Krähe gab ein unwilliges Krächzen von sich und flog davon. Überrascht warfen die Touristen einen Blick auf ihre Uhren und gingen dann, vom Geläut der Glocken unwillkürlich angezogen, in Richtung Kirche. Dort stießen sie auf den Trauermarsch, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, und blieben in respektvollem Abstand stehen, während der nicht enden wollende Zug schwarz gekleideter Menschen hinter dem Sarg die Straße entlangschritt.
Die Tote in dem Sarg, der von sechs Männern aus der Kirche getragen wurde, war Madeleine Béranger, die Frau des Bildhauers, doch das wussten die Touristen nicht. Sie sahen nur, dass sich nahezu das gesamte Dorf auf den Weg gemacht hatte, um ihr das letzte Geleit zu geben. Die Glocken läuteten weiter, begleiteten den Zug auf seinem Weg über den Marktplatz hinaus zum Friedhof an der Rue de Malsbach und verstummten dann so abrupt, wie sie begonnen hatten.
In der plötzlichen Stille traten die Touristen zögernd durch das Portal der alten Kirche, atmeten den Geruch von Weihrauch, Kerzen und Tod, und die schweren Türflügel schlossen sich fast behutsam hinter ihnen. Der Marktplatz lag wieder schweigend im hellen Licht des Vormittags, und die schwarze Krähe erhob sich vom First eines etwas entfernter liegenden Hauses und flog zurück auf den Kopf von Papst Leo, um ihre unterbrochene Morgentoilette fortzusetzen.
«Eguisheim trägt heute Schwarz», hob der Pfarrer vor dem offenen Grab zu seiner Ansprache an, «unsere liebe Madeleine hat uns verlassen.» Jemand schluchzte, Taschentücher wurden gezückt, Augen getupft. Der Witwer, Frédéric Béranger, und seine drei erwachsenen Kinder standen in einigem Abstand zu den anderen Eguisheimern vor dem offenen Grab. Sie harrten reglos aus, berührten sich nicht, waren wie erstarrt. Nur die jüngste, Aimée, deren blondes Haar in der Sonne leuchtete, suchte nach einer Weile die Hand ihres Vaters und drückte sie.
Céleste Kreydenweiss, Chef de Police von Eguisheim, stand in ihrer steifen, dunkelblauen Galauniform unter den Trauergästen und kämpfte mit den Tränen. Sie schniefte leise und wischte sich dann mit dem Handrücken über die Augen. Luc Bato, ihr junger Kollege, der neben ihr stand, hielt ihr ein Taschentuch hin.
Céleste nahm es dankbar an und musste bei dem Anblick beinahe lächeln: Es war ein altmodisches hellblaues Stofftaschentuch, sorgfältig gebügelt und zu einem kleinen, akkuraten Viereck zusammengelegt - alte Leute hatten solche Taschentücher. Doch Luc war jung, Mitte zwanzig. Eguisheim war seine erste Stelle nach der Polizeischule, und wenn es nach ihm ginge, würde er von hier wohl auch nicht mehr weggehen. Er hatte als Jahrgangsbester abgeschlossen und durfte sich daher, anders als die Absolventen mit den schlechten Noten, die man gerne in die Banlieues der Großstädte schickte, seinen Einsatzort aussuchen. Wie Céleste stammte Luc aus der Gegend, allerdings nicht aus Eguisheim, sondern aus einem Dorf in den Vogesen, wo seine Familie einen Bauernhof hatte, und er konnte diese Herkunft nicht verleugnen. Groß und kräftig, bedächtig, ja fast ein wenig linkisch in seinen Bewegungen, mit dunklen Haaren und Augen und der Gesichtsfarbe eines Mannes, der sich viel im Freien aufhält, hatte er mehr Ähnlichkeit mit einem Bauern als mit einem Polizisten. Céleste wusste, dass er an den Wochenenden regelmäßig nach Hause fuhr, um dort auf dem Hof mitzuarbeiten und sich von seiner Mutter bekochen und betüteln zu lassen. Céleste stellte sich vor, wie seine Mutter diese Taschentücher für ihn wusch und bügelte und sie ihm dann am Sonntagabend, wenn er wieder nach Eguisheim zurückfuhr, in die Tasche packte.
Diese Vorstellung rührte sie, und sie warf dem jungen Kollegen einen kurzen Blick zu, während sie sich unauffällig schnäuzte und dabei den leichten Lavendelgeruch des Stoffes wahrnahm. Luc schien zu spüren, dass sie ihn musterte, und es machte ihn offenkundig nervös. Er zupfte an der Krawatte, wechselte das Standbein und schien nicht zu wissen, wohin mit seinen großen Händen. Céleste wandte sich ab und versuchte, sich auf die Ansprache des Pfarrers zu konzentrieren.
Als ein verspäteter Gast durch das Tor des Friedhofs trat, kam eine gewisse Unruhe unter den Trauergästen auf. Die Leute stießen sich gegenseitig an und begannen zu flüstern. Es war Louis Balzac, der Müllmann von Eguisheim, der jetzt mit unsicherem Schritt herantorkelte.
Louis Balzac war im Dorf bekannt wie ein bunter Hund. Wenn er nicht gerade Mülltonnen leerte und Straßen kehrte, trank er und das nicht zu wenig. Louis Balzac hatte sich zeit seines Lebens verpflichtet gefühlt, dem berühmten Schriftsteller, dessen Nachnamen er trug, Ehre zu machen und auch Schriftsteller zu werden, doch leider ohne Erfolg. Seine Geschichten wurden nie irgendwo gedruckt, und so beschränkte er sich darauf - von einigen kleinen Büchlein einmal abgesehen, die er selbst binden ließ -, seine Balladen und Gedichte sowie die zahlreichen Stegreifgeschichten, die er erfand, mündlich zum Besten zu geben. Wenn der Kunst Genüge getan war, widmete er sich wieder der Sauberkeit von Eguisheim. Nach vierzig Jahren im Dienst der Abfallentsorgung konnte man mit Fug und Recht sagen, dass er diese Aufgabe mit Bravour meisterte. Er war sozusagen die Müllabfuhr in Person, denn mit Ausnahme von Abdel Farouk, den er vollmundig seinen nannte und großzügig unter die Fittiche genommen hatte, gab es niemanden in Eguisheim, der auch nur annähernd die gleiche Kompetenz und Erfahrung auf diesem Gebiet hatte wie er.
Madeleines Tod nun hatte Louis besonders erschüttert, was den Alkoholpegel schon am frühen Morgen rechtfertigte. Er war ihr sehr zugetan gewesen, nicht zuletzt deswegen, weil sie sich immer wieder hatte erweichen lassen, Louis' selbstgebundene Bücher in ihrem Laden zum Verkauf anzubieten. Es wurde allgemein vermutet, dass sie sie alle aus Mitleid nach und nach selbst gekauft hatte, denn anders konnte man sich in Eguisheim den Louis' Angaben zufolge «reißenden» Absatz der Werke nicht erklären.
Jetzt mäanderte er langsam heran, noch in staubiger Straßenkehrerkleidung, eine weiße Rose in den Händen. Die Trauergemeinde machte ihm Platz, als er unsicheren Schrittes auf das Grab zusteuerte, eine gewaltige Schnapsfahne im Schlepptau. Während weder Louis' Erscheinen noch sein Zustand die übrigen Anwesenden überraschte, runzelten Nathalie, die elegante ältere Tochter der Verstorbenen, und ihr Bruder Laurent die Stirn. Nathalie zog scharf die Luft ein, als Louis direkt auf sie zusteuerte, und öffnete empört den Mund, um zu protestieren, doch ihre jüngere Schwester Aimée zupfte sie forsch am Ärmel, bevor sie etwas sagen konnte, und schob sie beiseite, um für Louis Platz zu machen.
Jeder trauert auf seine Weise, und Louis Balzac, der verkannte Dichter von Eguisheim, musste die Gelegenheit bekommen, gebührend von Madeleine Abschied zu nehmen. Das verstanden alle hier, und Aimée, die - im Gegensatz zu ihren älteren Geschwistern - schon immer ein Herz für die Verrückten und Zukurzgekommenen dieser Welt gehabt hatte, umso mehr.
«Meine liebe Freundin .», hob Louis mit schwerer Zunge an, als er endlich schwankend vor dem offenen Grab stand. Ein Schluckauf unterbrach seine Konzentration, und er rieb sich mit der Hand mehrmals das Gesicht, um sich wieder zu sammeln. «. in guten wie in schlechten Zeiten . bis dass der Tod .» Ihm fiel auf, dass er etwas vom Thema abgekommen war, zögerte und schloss dann abrupt, jedoch mit einigermaßen klarer Stimme: «Ruhe in Frieden, liebe Madeleine, vergiss nicht, die Hölle, das sind die anderen .»
«Ist das von Honoré oder von Louis Balzac?», wollte Luc wissen.
«Weder noch. Das ist von Jean-Paul», gab Céleste leise zurück.
Luc sah sie verunsichert an.
«Sartre», ergänzte Céleste lächelnd.
Jetzt hob Louis zum Abschied die Hand mit der Rose zu einem kämpferischen Gruß. «Au revoir! Vive la République .» Er geriet ins Schwanken, verlor das Gleichgewicht und fiel mitsamt der Blume kopfüber in Madeleines Grab.
Louis' spektakulärer Sturz sorgte beim nachfolgenden Leichenschmaus im Lieblingsrestaurant der Eguisheimer, dem La Grenouille Grasse - dem Fetten Frosch, das Célestes Mutter Catherine gehörte -, für viel Gesprächsstoff...
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