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»Wir könnten dort ein Ekeby schaffen, wie wir es uns längst erträumten, der Insel im Strome gleich!«, schreibt Gretha Jünger 1946 an Fritz Lindemann, nachdem sie ein Domizil dafür gefunden hatte. Ekeby war ihrem »Seelenfreund«[1] wohlvertraut, denn so nannte sie seit Dekaden ihren ersehnten imaginären Ort der verlorenen Stammgüter, von denen die Geschichte ihrer Familie so suggestiv erzählt. Ihr Verlust war für sie von solcher Tragweite, dass sie 1955 ihre Erinnerungen damit beginnen lässt: »Das Recht eines meiner Vorfahren, seinen gesamten Besitz, der drei Güter umfaßte, in einer einzigen Nacht an seine jüngeren Brüder zu verspielen und für sich und seine Nachkommen den endgültigen Verzicht auszusprechen, wurde noch von meinem Großvater angefochten; und auch mein Vater setzte einen dieser langwierigen Prozesse fort, die zwar zur Armut führen aber zu keinem Richterspruch. Das Bild dieses Ahnen bildet den einzigen Bestand, der mir verblieb. [.] Ich betrachte dieses Profil mit den dunklen Augen, der geraden Nase und dem für unser Geschlecht typischen Merkmal - der stark betonten Unterlippe - nicht ohne Sympathie und kann ihm durchaus nicht gram sein. Man behauptet, daß die physiognomische Ähnlichkeit zwischen ihm und mir erstaunlich sei.«[2]
Emotionen und Spielleidenschaft, Prozesse und verlorene Güter, aber auch Ritter und efeuumrankte Türme prägen Grethas imaginäre Familienerzählung, in deren Verlauf die Strahlkraft jenes sagenhaften Vorfahren mit der besonderen Unterlippe hervortritt, der zornig aufbrausend »seinen Rivalen und Verführer seiner Frau im Beichtstuhl erschlug«.[3] Diesem genealogischen Arsenal ihrer landadligen Herkunftsfamilie von Jeinsen entnahm sie die »Waffen« zur Bewältigung der ihr Leben begleitenden, teilweise heftigen Krisen.[4] Dass sie ihre Distinktionsmerkmale - ob ironisch, dramatisch oder ins Komische gewendet - meist treffsicher inszenierte, verdeutlicht ihr Brief an Ernst Jünger, in dem sie ihn als »seriösen Herrn« klassifiziert, doch »ohne die Jeinsen'sche Unterlippe, versteht sich«.[5] Sie traf damit einen wunden Punkt, denn Ernst Jünger war bereits in jungen Jahren von großen Selbstzweifeln geplagt, in denen er schon früh eine »Prädestiniertheit zur verkrachten Existenz« erkennen wollte, gegen die er sich mit einer Panzerung, jederzeit in Sorge um seinen guten Ruf, zu schützen suchte.[6]
Als Gretha Jünger im Alter von vierzig Jahren ihr neues Ekeby fand, 1946, ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war ihre Krisenlage bedrückend: Sie fühlte sich bis zur Unsichtbarkeit marginalisiert und wusste nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren zum ersten Mal nicht, ob sie ihr bisheriges Leben an der Seite von Ernst Jünger, mit dem sie seit zwanzig Jahren verheiratet war, fortsetzen konnte. In dieser Zeit mobilisierte sie das Narrativ ihres Familienromans, der die Geschichten ihrer Familie seit Generationen im Familiengedächtnis lebendig hält. Sie träumte von der Wiederkehr der vor Jahrhunderten verspielten Güter und knüpfte damit an die dem 19. Jahrhundert entstammende »Pathosformel« einer »natürlichen Genealogie« an, die ihr Reputation und Stärke verlieh.[7]
Denn Ekeby, so die Erwartung, führt sie zurück an ihre verlorenen »Quellen«, hier will sie ihr persönliches und soziales Leben neu einrichten.[8] An diesem endlich gefundenen »romantischen Sitz« der von ihr so geschätzten Alten Welt soll es Türme geben für die verschiedenen Musen und Freunde; »dem Dichter, dem Schauspieler, dem Maler und dem Astrologen« soll je ein Turm zur Verfügung stehen, in dem er sich in Gemeinschaft mit den anderen Künsten entfalten kann.[9] An ihrem Zukunftsentwurf fällt auf, dass in dieser Turmgesellschaft der Platz für sie selbst gänzlich unbestimmt bleibt, ja gar nicht vorhanden ist. Diese Unsichtbarkeit ihrer Person erweist sich als Merkmal ihrer Biographie, das sich erst in dem Augenblick auflöst, als die exzessive Leserin Gretha Jünger selbst zur Feder greift und nicht ohne Erfolg mit eigener literarischer Produktion beginnt.
Gefunden hatte sie das Vorbild für ihr Lebensmodell Ekeby bereits in den frühen 1920er Jahren in dem Roman Gösta Berling (1891) der Schwedin Selma Lagerlöf, die 1909 den Literaturnobelpreis erhielt und auch in Deutschland eine viel beachtete Autorin war. Nach Krieg und Nazikatastrophe wurde Lagerlöfs Ekeby für Gretha Jünger endgültig zu einem von Aufbruch und Neuanfang geprägten Tagtraum, den sie als »Geheimes Deutschland« mit einem Kreis von George-Verehrern, Vertrauten und Freunden zu realisieren versuchte.[10] Selma Lagerlöf schildert Ekeby als ein in abgelegener Landschaft liegendes großes Gut oder Schloss im Besitz der dort unsichtbar, doch allpräsent herrschenden Marschallin, in der Gretha Jünger ihr Alter Ego sah.[11] Ähnlich der Marschallin will auch sie den in den Türmen tätigen »Kavalieren« ein produktiv-tätiges, intellektuelles Leben ermöglichen, mit dem sie - so ihre Vorstellung - inmitten »aller Wüsten und ausgeglühten Höhlen« nach dem Zweiten Weltkrieg auf die künftige kulturelle Gestalt Deutschlands Einfluss nehmen.[12] Im ersten Nachkriegsjahr glaubte sie den Ort im Schloss des Grafen Schulenburg in Hehlen an der Weser gefunden zu haben, und der von ihr auserkorene Personenkreis stellte sich in Kirchhorst ein, um das neue Ekeby gemeinsam zu verwirklichen.[13] Die Gespräche und Abläufe dieses Projektes schildert Gretha Jünger sehr ausführlich in den Briefen an die Freunde, dagegen deutet sie dieses Projekt in ihren publizierten Erinnerungen lediglich an - in einer für die Öffentlichkeit bestimmten Version.[14]
Gretha Jüngers Sehnsucht nach Ekeby ist zwar mit realen Erfahrungen ihrer frühen Lebensjahre verbunden, ihr Familienroman hat jedoch wenig Ähnlichkeit damit. Umso mehr überrascht, welche Bedeutung sie weit zurückreichenden Ereignissen der Familiengeschichte ihrer eigenen Gegenwart beimisst, denn sie war zutiefst davon überzeugt, dass die Spielsucht ihres Vorfahren und deren Folgen massiven Einfluss auf ihr Leben hatten.[15] Ihr Familienroman legt nahe, dass er den gesamten Besitz ihrer Linie der weitverzweigten Familie von Jeinsen alleine erben sollte. »Der Älteste bekommt alles«, so sah es die Erbübertragung eines Majorates vor, die in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert zunehmend verbreitete Praxis war. Noch das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 regelt, dass der Besitz »unter mehreren gleich nahen an den Älteren geht«, womit ein Vermögen als unteilbar und unveräußerlich festgelegt wurde. Eine solche Politik der toten Hand greift massiv in die Zukunft nachfolgender Generationen ein. Im Laufe der Zeit wurde diese Form der Erbfolge jedoch zunehmend als illegitim empfunden und mit »hohem Konfliktpotential aufgeladen«.[16] Viele Geschichten erzählen von unheilvollen Nachwirkungen dieser Praxis, die als Benachteiligung in der Rangfolge und spätestens um die Wende zum 19. Jahrhundert auch als emotionale Nachrangigkeit elterlicher Liebe erfahren wurde.[17]
Ein solcher Geschwisterkonflikt prägte offenbar auch Gretha Jüngers Urszene, die die Folgen des verhängnisvollen Glücksspiels durch den »Verschwender« (möglicherweise handelte es sich um eines der späterhin verbotenen »Hazard«-Spiele) als Auflösung des Rechts der Güterverfügung erzählt.[18] Demnach scheint am nächtlichen Spieltisch ein schwelender Konflikt ausgetragen worden zu sein, mit nachhaltigen Folgen für Gretha Jünger: »In meiner Kindheit litt ich sehr unter der Vorstellung, daß sich unter den Parkbäumen jenes alten Besitzes die fremden Basen und Vettern tummeln würden, während wir uns mit der Etage einer Stadtwohnung begnügen mußten.«[19] Hier zeigt sich die soziale Degradierung, die sie mit dem Verlust des Erbes und der Unterbrechung des Kontinuums von Vergangenheit und Zukunft verband. Diesen Verlust rückgängig zu machen und die alte Einheit wiederzuerlangen, widmete Gretha Jünger ihre ganze Triebkraft,...
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