Schweitzer Fachinformationen
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Das Wetter nach dem Regen mochte er am liebsten. Gerade ging ein gleichmäßiger Sprühregen zu Ende, so als schüttelten die Wolken das Wasser ab wie Hunde. Er spazierte ohne Eile, die Hände in den Taschen des grünen Regenmantels. Einen Schirm hatte er nicht dabei.
Eine Pupille brennt in den dunklen Augen des Asphalts, dachte er beim Anblick des Spiegelbilds der blassen Sonne in den Pfützen der Straße am Ende dieses kalten grauen Nachmittags. Eine brennende Pupille in den dunklen Augen des Asphalts.
Die Leute kamen von der Arbeit. Schuhe stapften entschlossen über das nasse Pflaster, unbekümmert ob der Glätte oder des Lehms, der erneutes Putzen nötig machen würde. Die Menschen strebten ihren Häusern zu, um der Nässe und der Kälte zu entkommen, um Abendessen zu machen, eine heiße Dusche zu nehmen, sich die Vorabendserie im Fernsehen anzuschauen, noch ein letztes Mal in die virtuelle Welt einzutauchen, dann gute Nacht und ab ins Bett. Sie waren in Eile. Sie hatten Regenschirme dabei.
Die Ameisen haben ihr Tagewerk beendet, dachte er und wartete, dass die Straßen leerer wurden, damit er den Gegenstand verstecken konnte, den er in der Manteltasche in der Hand hielt. Zu viele Ameisen. Zu viele potenzielle Zeugen. Die Revolution wird warten müssen.
Er betrat ein Café, sein Körper war dankbar für die Wärme darin. Er bestellte einen schwarzen Kaffee und kaufte ein Lotterielos mit der Endziffer fünf. Außer ihm waren nur noch der mürrische Wirt da und ein Mann mit einer blauen Baskenmütze auf einem auffallend kantigen Schädel.
Er zog seine Taschenuhr hervor, klappte den abgegriffenen Silberdeckel auf und schaute, wie spät es war. Für Sekunden spürte er den Gang des Uhrwerks auf seiner Handfläche und lauschte dem leisen Ticken des alten Schmuckstücks, bevor er den Deckel zuklappte und die Uhr wieder einsteckte. Dann ging er zur Toilette.
Im Urinal klebte ein farbloses, formloses Stück Kaugummi, das ihn ekelte. Da ging er lieber in die Kabine. Während er die Sekunden zählte, die der helle gelbe Strahl bis zum Versiegen brauchte, entdeckte er ein Schräubchen auf dem Boden. «Siebenundzwanzig Sekunden», sagte er, als er fertig war und den Reißverschluss hochzog. Beim Verlassen der Kabine las er einen in die Tür geritzten Spruch: KEINER MAG MÄNNER!
Der Hilferuf eines einsamen Verzweifelten, dachte er. Die Menschen sind eben verschieden. Manche schleppen ihre Einsamkeit wie einen Anker mit sich und reißen die Eingeweide der Erde auf, über die sie schreiten.
Er wusch sich die Hände und versuchte vergebens, die billige Seife zum Schäumen zu bringen. Er befeuchtete sich das Gesicht. Sein Bild im Spiegel war bleich, in die Länge gezogen und ernst. Gespenstisch irgendwie. Und ungekämmt. Er hatte das Gefühl, die Gesamtheit der einzelnen Erscheinungen (die Botschaft an der Tür, das Schräubchen neben der Kloschüssel, die Dauer seines Strahls) bildeten eine Gleichung, deren Auflösung von ihm verlangt wurde. Oder die er erfinden musste. Denn das Ganze war ein Spiel, und mit Spielen kannte er sich aus.
Er zog zwei Papierhandtücher aus dem Spender, und noch ehe er sich die Hände trocken gerieben hatte, spürte er ein beglückendes Kribbeln in den Schläfen: Er hatte es gefunden. Oder erfunden. Er hatte die Gleichung gelöst! Er hob das Schräubchen vom Boden auf und begann, in die Tür zu ritzen. Das MAG verlängerte er zu MACHT. Das M von Männer wurde durchgestrichen und durch ein L ersetzt, das zweite N wurde zu einem G. Dann kam noch die Klammer hinzu. Und wo vorher KEINER MAG MÄNNER gestanden hatte, las man jetzt: KEINER MACHT LÄNGER (27 Sekunden).
Er legte das Schräubchen wieder dorthin, wo er es gefunden hatte, damit andere die Botschaft um ihre Version ergänzen konnten. Dann ging er zurück an die Bar.
Sein Kaffee war kalt geworden. Er trank ihn in einem Schluck, suchte nach Münzen zum Bezahlen, tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab. Das alles tat er mit der rechten Hand. Die andere steckte schon wieder in der Manteltasche und umschloss den Gegenstand, über dessen unregelmäßige Oberfläche er ab und zu mit der Daumenkuppe strich.
«Der Grenadier .», murmelte er so leise, dass niemand ihn hörte. Nicht einmal der Mann mit der blauen Baskenmütze, der Nachrichten in sein Handy tippte, während er offensichtlich darauf wartete, dass im Fernsehen die Ergebnisse des letzten Pferderennens bekannt gegeben wurden. Weiterhin mit der Rechten steckte er das Lotterielos mit der Endziffer fünf ein, legte die Münzen auf den Tresen und trat hinaus auf die Straße. Immer noch fleißige Ameisen überall, dachte er. Geschwind und gehorsam eilen sie ihren Bildschirmen entgegen, um mit dem virtuellen Ameisenhaufen zu kommunizieren. Jede Ameise einsam für sich, hungrig nach Klatsch und neuen Nachrichten, süchtig nach Bildern, die sie alle selbst propagieren, jede eine Königin der niemals abbrechenden Kommunikation. Abendliches Vogelgezeter in den Bäumen. Nein danke. Ich nicht.
Er ging an einer Mauer entlang, deren groben Steine und Fugen er mit der freien Hand abtastete. Schließlich fand er, was er suchte: einen langen, tiefen Spalt, in dem er den Gegenstand verstecken konnte, den er in der Manteltasche trug. Die Höhle des Grenadiers, dachte er, doch da sind immer noch zu viele Augen. Ziellos schlenderte er weiter, sein unbekümmerter Gang unterschied sich deutlich von der entschlossenen Eile der anderen.
Er kam an einem kleinen Supermarkt vorbei, vor dessen automatischer Eingangstür eine Mutter zu ihren Töchtern sagte, sie sollten hier auf sie warten, bis sie die Einkäufe fürs Abendessen getätigt habe. Kaum hatte sie den Laden betreten, holten die Mädchen ein Tablet hervor, steckten die Köpfe zusammen und begannen zu spielen. Die Spielefalle, dachte er und blieb stehen, um eine im Bau befindliche Mauer als mögliches Versteck für den Grenadier zu begutachten. Nach einem prüfenden Blick erschien sie ihm jedoch zu auffällig. Er hob einen feuchten, porösen Ziegelstein auf. Hinter sich hörte er die Stimmen der Mädchen.
«Pass auf, da kommt ein Zombie. Mach ihn fertig!»
«Erledigt. Jetzt sprenge ich das Haus in die Luft und setze den Wald in Brand.»
«Da kommt noch einer. Hau ihm den Kopf ab, schnell!»
«Ah . mich hat's erwischt.»
«Guck mal, das neue Spiel da, sieht super aus. Und gar nicht teuer. Wir fragen Mama, ob sie es uns kauft.»
Mit einem tiefen Atemzug sog er die kalte Luft ein und damit den Geruch von Zement und Gras, von Abfall und Metall, den der Regen gemischt und verdichtet hatte. Die Zeit nach dem Regen erinnerte ihn an die Nachmittage seiner Kindheit, wenn er, nachdem der Regen endlich aufgehört hatte, auf die Straße durfte, raus aus dem Haus und mit erfundenen Freunden losziehen, deren Namen er sich für seine Mutter ausdachte, damit sie ihm nicht verbot, allein im Viertel herumzulaufen. Damals lernte er, frei zu sein. Damals bastelte er sich Spiele, ohne dass jemand zusah, ohne dass ihm jemand dreinredete oder ihn zur Rechenschaft zog. Damals las er manchmal Lyrik. Und war frei.
Auf dem gegenüberliegenden Gehweg durchstöberte ein Hund einen Mülleimer und riss einen grünen Plastiksack in Fetzen. Hinter einer Straßenecke verborgen und darauf bedacht, von dem Mann im grünen Regenmantel nicht entdeckt zu werden, belauerte ein Zwerg unter breiter Hutkrempe jede Bewegung des Grünen.
«Oh nein!», jammerte eines der Mädchen verzweifelt. «Die Batterie ist leer.»
«Scheiße!», sagte ihre Schwester und starrte entsetzt auf das schwarze Display. «Was machen wir jetzt?»
Er spürte das Gewicht des Ziegelsteins in seiner Hand, lauschte den ärgerlichen Seufzern der Mädchen in seinem Rücken, starrte auf den feuchten Asphalt, schwarz wie ein erloschenes Display, und wusste, dass ihn eine neue Gleichung erwartete. Er würde das Rätsel lüften müssen. Oder eine Lösung erfinden.
Auf der anderen Straßenseite kam der Mann mit dem Quadratschädel aus dem Café. Er sah enttäuscht aus, weil vermutlich das Pferderennen nicht wie erhofft ausgegangen war. Als er sich die Jacke zuknöpfte und die blaue Baskenmütze in die Stirn zog, bemerkte er den Typen im grünen Regenmantel, der vom Straßenpflaster hypnotisiert zu sein schien. Ihm war kalt, er zog sein Handy hervor und ging in Richtung Cava de los Espejos, wo er sich mit einem Whisky oder zweien aufzuwärmen gedachte. Er ging - ohne ihn zu bemerken - an einem Zwerg mit breitkrempigem Hut vorbei, der sich hinter einer Hausecke verbarg und das Tun jenes seltsamen Typen beobachtete, der einen feuchten Ziegelstein in der Hand hielt, der stillen Beichte des Asphalts zu lauschen schien und aussah wie ein Grashüpfer im Regenmantel. Und ungekämmt.
«Palindromus», sagte Calcas und legte eine frisch geknetete Brotkrümelkugel auf den Tisch.
«So heißt er», ergänzte Mopsos, «auch wenn er eigentlich anders heißt.»
Golondrina schaute ihnen interessiert zu, nippte an ihrem Wein und steckte sich ab und zu einen Mandelkern in den Mund, den sie aus einer großen Tasche ihres großen bestickten Pullovers holte. Sie saßen an einem Tisch in der Cava de los Espejos, die ihren Namen von den Spiegeln hatte, die an den Wänden des Lokals vom Fußboden bis zur Decke reichten. Zwei Frauen führten den Laden, die Skylla und Charybdis genannt wurden, wegen all der tapferen Geister, die jeden Abend in ihrem Lokal strandeten. Calcas und Mopsos beschrieben Golondrina die Mitglieder der Gruppe, die sie ihr an diesem Abend oder spätestens morgen vorstellen...
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