TAG 1
Ein Anruf von Käser morgens um halb acht bedeutet, dass irgendwo in Zürich ein Mord geschehen ist. So schnell sie konnte, ist sie ins Kripogebäude geeilt und hat erste kurze Anweisungen erhalten, während sie ihr Gipfeli im Stehen verschlungen und an einem ausgesprochen scheusslichen Kaffee genippt hat.
Sonja stellt die Scheibenwischer auf die höchste Stufe. Der Regen prasselt inzwischen in fetten Tropfen auf die Windschutzscheibe des Einsatzwagens. Sie ist alleine unterwegs. Ruedi Käser, ihr Chef und Leiter der Abteilung für Leib und Leben der Zürcher Kriminalpolizei, will vom Büro aus mit dem Koordinieren beginnen, und von den anderen Ermittlernistkeiner verfügbar: Lea Köhler musste in der Nacht zu einer Messerstecherei in der Langstrasse ausrücken, von der sie noch nicht zurückgekehrt ist, und Adam Eichenberger ist in den Ferien. David Bovic ist sowieso nur im Innendienst tätig, und somit blieb nur sie, um zum Tatort zu fahren.
»Was für ein Wolkenbruch«, murmelt sie vor sich hin, während ihr Blick konzentriert auf der Straße klebt. Nach wenigen Minuten ist der Spuk wieder vorbei, und die dunklen Wolken werden von weißen, freundlichen Wolken verdrängt.
Ist es denn die Möglichkeit? Ein Monsunregen über Zürich.
Das Navi verrät ihr, dass sie ihr Ziel, das Limmatufer unterhalb der Europabrücke, beinahe erreicht hat. Käser hat gesagt, die Tote, eine junge Frau, sei gegen sieben Uhr heute Morgen am Wehr bei Höngg aufgefunden worden.
»Höngg?«, hat sie daraufhin verständnislos gefragt und es gleich wieder bereut, als sie Käsers gerunzelte Stirn sah.
»Du weißt nicht, wo Höngg ist?«
»Ruedi, ich bin erst einige Monate hier und kenn mich noch nicht so .«
»Ja, ja, du bist aus Basel, ich weiß«, hat er sie ungeduldig unterbrochen und dabei Basel so merkwürdig betont. »Kein Problem, das Auto hat ja ein Navi. Du wirst es also schon finden. Ist nicht weit von hier, einfach stadtauswärts, in Richtung Limmattal.«
Sie hat stumm genickt.
Und tatsächlich, keine zwanzig Minuten später überquert sie die Brücke, biegt ab und fährt den relativ kurzen, steilen Hang hinunter bis zur Badi Höngg. Sie parkt den Wagen am Straßenrand, steigt aus und hält eine Hand schützend vor die Augen. Die Sonne blendet inzwischen schon wieder grell zwischen den Bäumen hindurch. Sie sucht mit den Augen die Gegend ab. Sieht eigentlich ganz nett aus hier, denkt sie. Mächtige Bäume, die Limmat, die ihren ganzen Reiz mit ihrem tiefgrünen Wasser ausspielt. Irgendwie romantisch, wenn man auf so was steht. Ben würde es gefallen, davon ist sie überzeugt. Ben . Sie atmet tief durch beim Gedanken an ihn.
Vor rund einem halben Jahr hat sie sich von Basel nach Zürich versetzen lassen. Genau wegen Ben. Wegen der Liebe. Besser gesagt, der ausgebrannten Liebe wegen. Es wäre unklug gewesen, dort zu bleiben und ihm täglich auf den Gängen der Basler Kripo zu begegnen. Auch wenn sie Ben inzwischen wieder trifft, tut die Distanz sehr gut. Zudem hat eine innere Unruhe sie weitergezogen. Vielleicht würde sie sich als geborene Walliserin sowieso nie irgendwo richtig heimisch fühlen. Ihre Seele ist für immer unabwendbar mit den Bergen verbunden.
Nur ein paar Schritte entfernt entdeckt sie einen uniformierten Kollegen der Stadtpolizei und zwei junge Burschen, die dicht nebeneinanderstehen. In wenigen Schritten ist sie bei der kleinen Gruppe und begrüßt den Kollegen, der gerade eine Rolle Absperrband im Kofferraum seines Opel Astras verstaut.
»Sonja Thalmann, Kripo Zürich.« Der Stadtpolizist mit fleischigen Händen wie ein Metzger und einem Hals wie ein Stier starrt sie feindselig an. Der übliche Zwist zwischen Stadt- und Kantonspolizei spiegelt sich deutlich in seiner abweisenden Haltung wider. Seine Uniform ist tropfnass, wie auch die Kleider der Burschen. Anscheinend haben sie dem Wolkenbruch von vorhin nicht mehr ausweichen können.
»Kommt ihr jetzt nicht mehr zu zweit?« Die Ironie spritzt förmlich zwischen seinen zusammengepressten Zähnen hindurch. Dabei fährt er sich mit der Hand über sein stoppeliges Kinn und mustert sie unverblümt von oben bis unten.
Sonja gibt ihm keine Antwort und wendet sich stattdessen direkt an die beiden Jugendlichen. »Ihr habt also die Frau gefunden?« Sonja vermeidet bewusst das Wort Leiche, da die Jungs sowieso schon blass und verstört wirken.
Sie nicken zögerlich. Beide sind mit Turnschuhen, tief sitzenden Hosen und viel zu großen T-Shirts bekleidet. Der eine hat bereits einige Pubertätspickel rund um die Nase, der andere wirkt noch wie ein kleiner Junge mit rosa Haut und schmächtigem Körper.
»Wir wollten angeln gehen, und da . sahen wir sie. Mitten in den Algen und Zweigen. Sie . sie lag einfach so da und bewegte sich nicht.« Der mit den Pickeln schluckt.
»Ich habe noch nie eine Leiche gesehen«, stammelt der Schmächtige und verzieht sein Gesicht, als würde er gleich losheulen. Peinlich berührt blinzelt er heftig und senkt seinen Blick.
»Kein schöner Anblick, ich weiß. Daran gewöhnt man sich nie«, sagt Sonja mit ruhiger Stimme und lächelt dem Jungen aufmunternd zu. »Wer von euch hat die Polizei benachrichtigt?«
»Das waren nicht wir. Meine Mam hat angerufen«, ereifert sich der Schmächtige. »Wir wussten nicht, was wir tun sollten, und so rief ich meine Mutter an. Sie kommt auch gleich und holt uns ab.«
»Das ist aber nett von deiner Mutter«, sagt Sonja, und der Junge nickt heftig, erleichtert, dass er das Richtige getan hat.
»Sobald deine Mam hier ist, könnt ihr diesem netten Herrn von der Stadtpolizei eure Adressen und Telefonnummern geben. Wir werden euch später nochmals kontaktieren. Ich denke, ihr werdet zu uns auf die Kriminalpolizei kommen müssen, um eine Aussage zu machen.«
»Zur Kripo? Echt?« Der mit den Pickeln reißt seine Augen weit auf.
»Ja, genau.«
»Wow, cool!«, rufen beide aufgeregt wie aus einem Munde.
Sie kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und verabschiedet sich. Mit langen Schritten eilt sie zum Wehr, einem Kraftwerk der Wasserwerke Zürich, an dem sich die Tote befinden soll.
Wie erwartet haben die beiden Jungs außer der Toten nichts Ungewöhnliches bemerkt. Sie bückt sich unter dem Absperrband hindurch und sieht schon von Weitem die kleine Menschenansammlung: Jogger und Anwohner, die mit ihren Hunden den ersten Spaziergang des Tages auf der Badeinsel tätigen. Die letzten Wassertropfen von dem Gewitter vorhin glitzern wie Perlen auf den Kastanien- und Lindenbäumen. Doch Sonja nimmt dies gar nicht wahr. Sie atmet noch einmal kräftig durch und versucht, den Gedanken an die Wasserleiche zu verdrängen. Wenn sie etwas hasst an ihrem Job, dann sind es ganz klar Wasserleichen. Diese aufgedunsenen Körper, die durch ihre eigenen Körpergase wie Bojen im Wasser schaukeln, sind ihr ein absoluter Gräuel.
Personen in weißen Schutzanzügen und mit Gesichtsmasken stapfen geschäftig an ihr vorbei, in den Händen große schwarze Taschen. Die Spurensicherung.
Zwei weitere Kollegen der Stadtpolizei stehen schwatzend an der Uferböschung, daneben zwei Taucher der Wasserschutzpolizei mit Sauerstoffflaschen auf dem Rücken, die sich gerade ihrer schweren Last entledigen und damit beginnen, ihre Neoprenanzüge abzustreifen.
Ganz hinten kann Sonja einen Mann mit grauem Schnurrbart und rundlichem Bauch ausmachen. Staatsanwalt Walter Schneider. In seiner grauen Tweedhose und seinem bis über die Ellbogen hochgekrempeltem hellblauem Hemd sieht er nicht wie der klassische Jurist aus. Sonja kennt ihn von ihrem ersten Fall hier in Zürich und schätzt ihn. Ein Mann, der sich nicht unnötig in Szene setzt und nicht viele Worte verliert. Eine Seltenheit unter den oft blasierten Staatsanwälten, die sich lieber im Fernsehen zeigen als an einem Tatort. Nicht so Schneider - der ist noch einer der alten Schule: mit Herzblut an der Aufklärung eines Falles interessiert. Vielleicht liegt es auch daran, dass er die ehrgeizigen Karrierejahre bereits hinter sich gelassen hat und mit Mitte fünfzig das Leben von einer anderen Perspektive aus betrachtet.
Schneider ist tief in ein Gespräch mit Diana Sommer verwickelt, der Leiterin der Forensischen Abteilung. Auch sie ist keine Unbekannte für Sonja.
»Guten Morgen«, grüßt Sonja und schüttelt beiden die Hände.
»Wollen wir gleich zu dem unerfreulichen Teil übergehen und uns die Tote ansehen?« Sommer wirkt mit ihrer kleinen Körpergröße und rundlichen Statur wie ein Kind zwischen Sonja und Schneider. »Die Taucher haben die Frau vor wenigen Minuten herausgefischt. Es hat länger gedauert, als angenommen. Die Leiche hat sich stark im Rechen des Wehrs verfangen.«
Sonja verzieht ihr Gesicht zu einer Grimasse.
»Wo liegt sie?«, fragt Sonja.
»Dort drüben.« Sommer deutet mit einem Kopfnicken auf die Stelle, an der die Taucher mit den Stadtpolizisten herumstehen und offenbar derbe Sprüche klopfen.
Sie laufen gemeinsam hinüber, und die Stadtpolizisten verstummen augenblicklich. Wieder diese Abwehrstellung. Sonja schnaubt leise und verächtlich.
Schneider gibt den Kollegen der Stadtpolizei die Anweisung, ihnen sämtliche Gaffer und Journalisten vom Leibe zu halten worauf diese grollend davontrotten.
»Na, dann wollen wir mal sehen, mit was wir es zu tun haben«, sagt er und richtet seinen Gurt an der Hose.
Die Taucher beginnen damit, ihre nassen Neoprens in ihrem Lieferwagen zu verstauen. Ihre Arbeit ist getan.
»Was wissen wir bis jetzt?«, fragt Sonja an Sommer gewandt. Die...