Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
After you've lived in Paris for a while, you don't want to live anywhere, including Paris.
John Ashbery
Kaum hatte ich das Paris-Fragment abgeschlossen, das der Leser möglicherweise gerade gelesen hat, schrieb ich drei Jahre lang nichts mehr, absolut nichts, ließ mich treiben. Und kaum hatte ich aufgehört zu schreiben, passierten mir Dinge, eine merkwürdige Erfahrung. Nicht dass mir früher nie Dinge passiert wären, aber allem, was mir passierte, als ich den Schreibtisch verlassen hatte, war eins gemeinsam: Es erfüllte sämtliche Voraussetzungen, um erzählt zu werden, sie verlangten es, schrien geradezu danach.
Und hier bin ich nun, bin zurück. Bin zurück an meinem Schreibtisch, als wären drei Jahre nichts. Ich lasse meine Kampfansage an das Erzählbare, das Erzählte und an jeglichen Plot hinter mir. Auch das Paris-Fragment lasse ich hinter mir, das mich als Schriftsteller drei Jahre lang blockiert hat, vielleicht weil ich versucht habe, die Biographie meines Stils ins Werk zu setzen und zu sehen, wohin mich das führte; es führte in eine Sackgasse.
Für mich ist klar, dass ich mich Hals über Kopf in die Welt Paul Valérys gestürzt habe und mich dann verpflichtet sah, Aphorismen und Ideen zu finden, um mich über das Metier des Erzählens zu mokieren: etwas, von dem ich nicht nur vermutete, dass es nicht zu mir passte, sondern wozu ich mich auch nicht bereit fühlte.
Das Paris-Fragment sollte das erste Kapitel eines inzwischen endgültig aufgegebenen Buchs werden mit dem Anspruch, die gesamte Geschichte meines Stils unter die Lupe zu nehmen, überschrieben mit einem passenden Zitat von Nabokov als Motto: »Der beste Teil einer Schriftstellerbiographie ist nicht die Chronik seiner Abenteuer, sondern die Geschichte seines Stils.«
Dieser Satz deckte sich perfekt mit dem, was ich dachte, nur kann ich als lebenslanger Zweifler nicht umhin, mir zu sagen, eine Alternative hätte auch dieser wunderbar bescheidene Satz von Flaubert sein können: »Ich werde also mein armes, flaches und ruhiges Leben wieder aufnehmen, in dem Sätze Abenteuer sind .«
Mit dem Paris-Fragment wollte ich gerade diese klassische, banale Chronik der Abenteuer eines Schriftstellers vermeiden. Aber die valéryanischen, wie ich die letzten Seiten von Paris nenne, haben alles nur noch komplizierter gemacht.
Heiterer Himmel heute Morgen in Barcelona. Im Radio Stumblin' In, ein Stück, das mich plötzlich so ungemein animiert, dass ich mir sage, das wird gar nicht mehr aufhören. Wie merkwürdig, denke ich, dass es am Ende der Sackgasse Musik gibt, und vor allem einen Ausgang. Und in meiner momentanen Euphorie fühle ich mich in der Lage, die verschiedenen punktuellen Ereignisse zu schildern, die mich von Zimmer zu Zimmer, von Tür zu Tür rund um die Welt zu der neuen Tür führten, die sich exakt zu den folgenden Seiten hin auftat.
Eines schönen Morgens, nicht lange nachdem das Paris-Fragment mich als Schriftsteller eliminiert und ich eine Einladung des portugiesischen Produzenten Paulo Branco zum Filmfestival in Lissabon angenommen hatte, fand ich mich plötzlich in dem portugiesischen Städtchen Cascais wieder, vor mir das unendliche Blau des Atlantiks.
Ich hatte noch nicht meinen Koffer im Hotel abgestellt, da entdeckte ich auf der leuchtenden Terrasse des Miragem Hotels Jean-Pierre Léaud, Truffauts Alter Ego, den Antoine Doinel aus Sie küssten und sie schlugen ihn, den bezaubernden Jungen aus Geraubte Küsse und den weniger bezaubernden Jungen aus Weekend von Godard.
Ich traute mich nicht, ihn zu stören, aus Unsicherheit, die ich mit mir herumschleppte, seit ich nicht mehr schrieb und mich wie ein Niemand fühlte. Aber auch, weil der Schauspieler, der für den höchsten künstlerischen und den rebellischsten Anspruch meiner Generation gestanden hatte, geradezu zum Fürchten war - mehr noch als beim ersten Mal, als ich ihn in Paris gesehen hatte - mit seinem starr aufs Meer gerichteten Blick, und weil es besonders viel Mut erforderte, sich, wie ich es vorhatte, vor ihm aufzupflanzen und ihn - ich denke mit einer Mischung aus Respekt und Furcht - zu fragen, ob es ihn störte, wenn ich ein Foto von ihm machte.
Denn mein erster Impuls war, ihn zu fotografieren, um mich an der für mich außergewöhnlichen Tatsache zu ergötzen, dass ich vor dem Jungen aus Sie küssten und sie schlugen ihn stand, mit dem ich mich vor mehr als einem halben Jahrhundert so sehr identifiziert hatte; ganz besonders, als er am Ende des Truffaut-Films mit dem Meer im Hintergrund in die Kamera blickte.
Sie sind äußerst bescheiden, Ihr Handy samt Kamera der letzten Generation weniger, stellte ich mir vor, könnte Léaud mir sagen, wenn ich mit der Frage auf ihn zukäme, wäre mein Ton auch noch so höflich, ob ich ihm ein Bild stibitzen dürfe. Also rührte ich mich aus lauter Vorsicht nicht vom Fleck, bewegte mich nicht einen Zentimeter vorwärts und starrte ihn nur an, beobachtete ihn aus einer gewissen Entfernung. Drei Meter von der Stelle, wo ich stand, unterhielten sich David Cronenberg und Adam Thirlwell an einem nahe gelegenen Tisch. Ich hatte den Eindruck, auf dieser um diese Uhrzeit überfüllten Terrasse saß fast niemand, der nicht zum Filmfestival eingeladen war. Ich weiß noch, dass ich, da ich in meiner Jugend gerne die Cahiers du cinéma gelesen hatte, besonders beeindruckt war, in einer Ecke der vollbesetzten Terrasse einen Mythos jener Jahre zu erspähen: den Polen Jerzy Skolimowski.
Aber da ich glaubte, sie allesamt im besten Moment ihres Lebens anzutreffen, fiel es mir hier mitten unter ihnen wegen meiner peinlichen Blockade und meiner Komplexe als vermeintlich blamable Null schwer, jemanden anzusprechen, in der sicheren Erwartung, dass ich wie gelähmt sein würde, sollte ich es auch nur versuchen.
An dem Tag gingen mir wie so oft die widersprüchlichsten Empfindungen durch den Kopf. Manchmal dachte ich, in den letzten Monaten, seit Paris mich lahmgelegt hatte, sei es mir in meinem Leben gar nicht so schlecht ergangen: Ich hatte mich an einen immer gleichen Alltag gewöhnt, ohne zu schreiben, Tage, die so herrlich sein konnten, wie man eben wollte, denn, wenn ich es recht bedachte, glichen sie dem ruhigen Ende eines unbedeutenden Romans.
Bis mir klar wurde, dass ich mich an Adam Thirlwell wenden konnte, nicht nur weil ich ihn kannte, sondern auch, weil ich ihn als Freund betrachten durfte. Und weil er überdies nicht wissen musste, dass ich unter dem Rimbaud-Syndrom der Virtuosen der Verweigerung litt.
Ich unterbrach Thirlwell quasi mitten in seinem Gespräch mit David Cronenberg, der für mich vor allem der Autor eines Psycho-Thrillers in einer irren Welt war, Spider, der mich, obwohl er nichts mit Joyce, Beckett oder Dublin zu tun hatte, mit seinem Porträt eines jungen, im Osten Londons in ein zerebrales Spinnennetz eingesponnenen Verrückten zu einer Kurzgeschichte inspiriert hatte, aus der nach der Veröffentlichung schließlich mein Roman Die Bucht von Dublin entstand.
Ich erklärte Thirlwell und Cronenberg, Léaud wirke extrem streng, was so furchteinflößend sei, dass ich es nicht wagte, ihn zu fragen, ob ich ihn von vorne fotografieren dürfe. Ich weiß noch genau, wie Thirlwell grinste und mir verkündete, er könne selbst im Vordergrund so für meine ultramoderne Handykamera posieren, dass Léaud, wenngleich winzig klein, ohne es auch nur zu merken, im Hintergrund mit ins Bild rücken würde. So geschah es. Ich habe das Foto aufbewahrt, das jetzt, während ich dies schreibe, neben mir liegt.
Stunden später eröffneten mir António Costa und Paulo Branco, dass ich Léaud nicht nur auf dem Bildausschnitt eingefangen hatte, sondern er diese Nacht auch mein Zimmernachbar sein würde. Ich schenkte dem keine große Beachtung. Ich aß mit den Kindern von Paulo Branco und ihren Freunden im Hotel zu Abend, fuhr anschließend im Fahrstuhl in den dritten Stock und ging auf mein Zimmer.
Gegen Mitternacht, ich lag seelenruhig im Bett auf der Suche nach Ideen für einen künftigen Essay oder einfach nach Ideen für meine Zukunft, den Blick auf den ausgeschalteten Fernsehbildschirm geheftet und das ferne Rauschen des Meeres im Ohr. Ich war hartnäckig auf der Suche nach Ideen für einen Essay - immer noch völlig festgefahren, ohne zu ahnen, wie lange meine Blockade dauern würde - oder, falls sie ausblieben, Ideen, um mein Leben mit etwas auszufüllen und dem drohenden Gefühl der Leere zu entgehen: eine Rückkehr in die Jahre meiner Jugend, als ich gegen das Nichts ankämpfte, vielleicht weil nichts passierte.
Doch ich rechnete nicht wirklich damit, etwas zu finden, denn eigentlich interessierte mich die bloße Suche, das reichte mir - als Ersatz für den altbekannten Trick, Schafe zu zählen, was bei mir noch nie gewirkt hat -, um endlich einzuschlafen.
Ich lag im Bett, vollkommen ideenlos, aber ruhig in meinem Zimmer, und zum ersten Mal fragte ich...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.