Schweitzer Fachinformationen
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Tote laufen nicht davon
Die Sonne ging auf und es begann einer dieser angenehmen Herbsttage, dessen Hochglanzbilder es bis in die verheißenden Reisemagazine schafften. Die leuchtenden Farben der Fotos und die ungefähre Erinnerung an den Duft des welken Laubs der Bäume weckten Sehnsüchte. Wonach genau wusste der Betrachter meist nicht. Eine diffuse Lust auf Freiheit und Reisen überkam Kommissarin Bernard nach einem langen Blick auf das verlockende Bunt unten auf dem Parkplatz der Kriminaldirektion Trier. Herabgefallene Blätter schimmerten matt in Erdfarben auf dem grellen Weiß des Autolacks ihres Renaults. Die frühe Morgensonne hatte bereits den zarten Reif auf der Windschutzscheibe des Mégane tauen lassen. Die Scheibenwischer würden die verbliebenen Wassertropfen mühelos entfernen. Sie frohlockte, das verhasste Eiskratzen sollte ihr an diesem Morgen erspart bleiben. Sie schaute kurz auf ihre neue Armbanduhr. Ein Geschenk von Torben. Einfach so, ohne besonderen Anlass. Er wollte sie überraschen. Sie hatte sich riesig darüber gefreut. Nun betrachtete sie das schmale Edelstahlgehäuse, ein Schmuckstück, rechteckig, mit klassischem Ziffernblatt. Der herbe Duft des Lederarmbands stieg ihr in die Nase. Sie umfasste das Gehäuse mit Daumen und Mittelfinger und schob es an ihrem Handgelenk in die korrekte Position.
Etwas mehr als eine Stunde noch, dann endete ihre Schicht. Kriminaldauerdienst mit Polizeimeisterin Tanja Rieger. Jeder war halt mal dran. Schade nur um das freie Wochenende. Christine und Torben liebten den Herbst gleichermaßen. Die kühle, klare Luft zu Tagesbeginn, die sanft wärmenden Sonnenstrahlen am Mittag und das wohlige Frösteln am Abend auf der Terrasse, bevor sie sich eine Strickjacke um die Schultern legte und Torben sie fragte, ob er von dem milden Schwarzriesling nachgießen durfte. Sie schliefen gern bei offenem Fenster und die Heizung blieb aus. Erst Ende November wurde es ihnen dafür zu kalt.
Eine ruhige Nacht lag hinter den beiden Beamtinnen. Zweimal mussten sie ausrücken. Die Kollegen von der Streife hatten sie gleich nach Dienstbeginn zu einer Leiche mit ungeklärter Todesursache angefordert. Verdacht auf Vergiftung. In der Gerichtsmedizin stellte sich jedoch schnell heraus, es war ein Herzinfarkt, der verdächtige Schaum vorm Mund heraufgewürgte Magensäfte. Also kein Gift. Fall abgeschlossen. Etwas länger dauerte ihr Einsatz bei einem Ausbruch von häuslicher Gewalt. Immer wieder das Gleiche. Desillusionierter, betrunkener Mann schlägt auf Frau und Kinder ein. Es fließen Blut und Tränen. Geschrei, Gepolter. Bis die Nachbarn die Polizei rufen. Der Schläger wurde festgenommen und unter Protest und gegrölten Beschimpfungen in Gewahrsam gebracht. Ausnüchterungszelle. Die Kollegen der nächsten Schicht würden sich um ihn kümmern. Meistens mussten sie ihn wieder gehen lassen, weil die Geschädigten keine Anzeige erstatteten. Mehr als eine Strafe wegen nächtlicher Ruhestörung und Beamtenbeleidigung war nicht drin. Ein lächerlich geringer Bußgeldbetrag wurde verhängt. Das war's. Und dafür schlugen sich die Beamten des KDD die Nächte um die Ohren und kämpften gegen die Müdigkeit an.
Christine gähnte. Sie fühlte sich in diesem Jahr besonders erschöpft. Warum, wusste sie nicht. Lag es an dem zurückliegenden langen und heißen Sommer oder war es das Alter, wie Kollege Kluge sogleich glaubte zu wissen?
Die Sehnsucht nach der Ferne schlich sich wieder an. Reisen. Aber wohin? Vielleicht nach Skandinavien? Torben liebte den europäischen Norden. Dänemark wäre schnell zu erreichen. Ein Strandhaus. Sie spürte schon den Sand unter den Fußsohlen und das kalte Wasser auf der Haut. Jahresurlaub stand ihr noch ausreichend zu. Sie sollte ihn nehmen.
Kommissarin Bernard erhob sich und verließ ihr Büro. Sie lief über den Flur und betrat einen Dienstraum zwei Türen weiter. Tanja Rieger rekelte sich auf ihrem Bürostuhl. War sie eingenickt? Egal. Ihr Dienst war ohnehin gleich zu Ende.
»Lust auf Frühstück?«
Die Polizeimeisterin gähnte ungeniert, nickte stumm und stand auf. Sie schleppten sich die Stufen im Treppenhaus hinauf in die Kantine. Die Motoren der Automaten summten und erwärmten die ohnehin schon stickige Luft in der obersten Etage zusätzlich. Eine Mitarbeiterin vom Catering füllte die Kühlgeräte mit frischen Brötchen auf. Tanja bediente den Kaffeeautomaten. Christine erwarb zwei Sesamstangen mit Mozzarella und Tomatenscheiben. Sogar die Basilikumblätter schmeckten knackig und aromatisch. So musste ein Frühstücksbrötchen sein. Tanja setzte zwei Becher auf dem Tisch ab und schob Christine einen davon entgegen. Die griff danach, nippte aber nur daran und stellte ihn zurück, der Kaffee war noch zu heiß zum Trinken.
Sie kauten mit vollen Backen. Die Kommissarin sah ihrer Kollegin ins Gesicht. Dunkle Ringe hatten sich unter den Augen gebildet. Sie selbst sah bestimmt auch nicht frischer aus. Sie freute sich auf ihr Bett.
Zwanzig Minuten später kehrten sie wieder zu ihren Schreibtischen zurück. Bereits auf dem Flur hörte Kommissarin Bernard das Klingeln des Telefons. Sie beschleunigte ihren Schritt und schaute vorahnungsvoll auf den Becher, den sie in der Hand hielt. Der Kaffee schwappte natürlich über. Warm lief er über ihre Finger und tropfte auf die Fliesen. Eine Angestellte des Reinigungsdienstes bemerkte es, unterbrach ihre Arbeit auf dem Gang und strafte die Schuldige mit einem vorwurfsvollen Blick, bevor sie sich mit dem Wischmopp voran auf die Tropfenspur zubewegte.
Christine betrat ihr Büro, stellte den Becher ab und riss den Telefonhörer vom Gerät.
»KDD. KK Bernard.«
»Polizeihauptmeister Weber. Die Kollegen von der Streife haben einen Todesfall mit Verdacht auf Fremdeinwirkung gemeldet. Ein Roboter soll einen Arbeiter angegriffen und getötet haben.«
Die Kriminalkommissarin runzelte zweifelnd ihre Stirn, hörte aufmerksam zu und notierte sich die Adresse.
»So ein Mist«, dachte sie und legte auf. Ihr Blick streifte die kleine Uhr am Bildschirmrand. Keine dreißig Minuten später hätten sie Dienstschluss gehabt.
Sie trank einen Schluck und trat auf den Gang hinaus. Es roch feucht und nach Putzmittel.
»Tanja! Einsatz!«, rief sie und band sich ihr langes Haar zu einem Zopf zusammen.
»Och, nö«, hörte sie ihre Kollegin maulen und schmunzelte.
Wie ein aufsässiges Kind stampfte Tanja mit den Füßen über den Gang.
»Ich bin müde«, jammerte sie und fügte sich letztlich doch. So war der Job nun mal und sie erinnerte sich an die oft zitierten Worte ihres Kollegen Hauptkommissar Jörg Rottmann.
»Augen auf bei der Berufswahl.«
Sie nahmen die Treppe. Mit flinken Schritten liefen sie hinab, stießen unten angekommen die Glastür vor der Pforte auf und überquerten den Parkplatz. Ein Druck auf die Fernbedienung ließ die Rückleuchten an Kommissarin Bernards Wagen diensteifrig blinken. Sie stiegen ein. Christine startete den Motor und parkte aus. Die Blätter auf der Motorhaube rutschten herunter. Sondersignal und Blaulicht blieben aus. Sie hatten es nicht eilig. Tote liefen schließlich nicht davon.
Vor der ersten roten Ampel ließ sie ihre Seitenscheibe herunterfahren und entfernte ein kunstvoll gesponnenes Netz vom Außenspiegel. Mühsam schüttelte sie sich die anhaftenden Fäden von den Fingern. Tanja schauderte es bei dem Anblick.
»Ich ekele mich vor Spinnen.«
Die Ampel sprang auf Grün. Christine legte den Gang ein und fuhr los.
»Wir leben nun mal auf dem gleichen Planeten. Für irgendwas werden sie gut sein. Sie gehören zum System.«
»Trotzdem ekelig«, erwiderte die Polizeimeisterin trotzig und fügte hinzu: »Wo fahren wir hin?«
»Trier-Euren. Ein Industriebetrieb. Ein Arbeiter soll von einem Roboter tödlich verletzt worden sein.«
»Ein Arbeitsunfall. Wieso fahren wir da hin?«
»Die Kollegen vor Ort glauben, Hinweise auf Fremdverschulden gefunden zu haben.«
»Morden die jetzt auch schon?«
»Wer?«
»Die Roboter.«
Kommissarin Bernard lachte und warf einen Seitenblick auf ihre Kollegin.
»Ganz bestimmt nicht. Du weißt doch, was sich da oft zusammengesponnen wird. Wir fahren dahin, schauen uns das an und das war's. In zwei Stunden sind wir zuhause.«
Tanja Riegers Gesicht blieb ausdruckslos. Sie schaute aus dem Fenster. Der nächste Mord, der nächste Totschlag. So ging es immer weiter.
»Manchmal vermisse ich das Schöne am Leben«, entfuhr es ihr plötzlich.
Christine wartete darauf, dass die Polizeimeisterin sich erklärte. Aber sie schwieg.
»Du brauchst mal Urlaub. Und einen vernünftigen Mann.«
Ihre Kollegin grinste.
»Du hast echt Glück mit deinem Torben.«
Die Kommissarin lächelte.
»Ich weiß.«
Das Firmengelände war frei zugänglich. Schlichte Produktionshallen und ein mehrstöckiges Verwaltungsgebäude aus aneinandergereihten Büro-Containern erhoben sich weiß in den azurnen Morgenhimmel. »Winkler Automotive« leuchtete ihnen von einem einfachen Schild auf einem kurz gemähten Rasenstück in roten und blauen Buchstaben entgegen.
Die Parkplätze waren alle belegt. Kommissarin Bernard entdeckte den Streifenwagen der Kollegen, einen Rettungswagen und die silberschwarze Kombi-Limousine eines Bestattungsinstituts. Sie stellte den Renault vor dem Haupteingang ab.
Hinter einer Glastür empfing sie gekühlte Luft. Eine Klimaanlage rauschte. Die Dame an der Anmeldung lächelte professionell und pflichtgemäß freundlich. Sie hielten ihr die Dienstausweise entgegen. Das Lächeln erstarb und wich...
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