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Vielleicht wäre es besser gewesen, mit ihm zu beginnen, dem Boxer, wenn ich schon nicht weiß, welcher der beiden, Max oder Laura, zu diesem Bericht den Anstoß gegeben hat, aber ich weiß, ohne ihn, so viel ist sicher, hätte die junge Frau niemals die Schwelle des Rathauses überschritten, wäre noch viel weniger wie eine gerade erblühende Blume in dieses Bürgermeisterbüro getreten, aus dem einfachen Grund, dass er, ihr Vater, diese Begegnung betrieben, zunächst ihr gegenüber darauf gedrungen hatte, dann beim Bürgermeister selbst, denn er war dessen Fahrer. Seit drei Jahren schon kutschierte er ihn quer durch die Stadt, allmählich kannten sie einander ein wenig - der Bürgermeister vielleicht rund zehn Jahre älter als sein Fahrer, dessen Lächeln er tagein, tagaus im Rückspiegel sah, oder nicht wirklich Lächeln, eher die immer etwas besorgt zusammengekniffenen Augen, die seine, des Bürgermeisters, Aufmerksamkeit suchten, des stets hinten Sitzenden, der das so häufig nicht einmal bemerkte, weil er nur auf die draußen vorüberziehenden Fassaden oder erleuchteten Schaufenster blickte, als wäre es, da er der Bürgermeister der Stadt war, seine Schuldigkeit, sämtliche Häuser mit Blicken zu streifen, sämtliche Gestalten auf den Bürgersteigen, als ob sie ihm gehörten. Dass er wenige Monate zuvor wiedergewählt worden war, seine Konkurrenten sozusagen vernichtend geschlagen hatte auf dem Weg in seine zweite Amtszeit, hatte wohl nicht gerade zur Entwicklung einer demütigen Haltung beigetragen, die er ohnehin nie besessen hatte - jedenfalls hatte er nie eine Kardinaltugend daraus gemacht, sondern erkannte in seinem Erfolg vielmehr seine fleischgewordene Hartnäckigkeit, die er in Worte wie »Mut« oder »Verdienst« oder »Arbeit« kleidete, Worte, die er nach Lust und Laune in die tausend Ansprachen der letzten sechs Jahre eingestreut hatte, bei Grundsteinlegungen oder vor den Fernsehkameras, ohne dass man je hätte ermessen können, ob sie einem militanten Glauben entsprangen oder ein Selbstportrait sein sollten, Worte jedoch, aus denen man schon seit langem heraushören konnte, dass er seine Begehrlichkeiten sehr viel weiter richtete als auf seine jeweiligen Zuhörer, in der Hoffnung, dass der Widerhall seiner Worte bis nach Paris reichen möge, wo bereits das Gerücht umging, er habe das Zeug für ein Ministeramt. Und einer, der dieses Gesicht jeden Tag im Rückspiegel sah, brauchte kein Handbuch der Physiognomie, um genau diese Glut oder Entschlossenheit zu erkennen, unter den schwarzen, dichten und doch beinahe sanften Augenbrauen, die einen umso größeren Kontrast bildeten zu jenem kalten, verschlossenen Blick aller Machtmenschen. Im Laufe von drei Jahren hatte Max gelernt, sämtliche Nuancen und Brüche dieses Blicks aufzuspüren, oder eher nicht Brüche, sondern ganz bewusst gesetzte Öffnungen, da ja die Macht angeblich nicht auf Starre gründet, sondern stattdessen auf deren kalkuliert eingesetzter Aufweichung, wie ein unablässig eingesetztes Stockholm-Syndrom, wenn jede Aufweichung der Strenge im ergebenen Auge des Gegenübers eine Fallgrube aus falscher Sanftheit entstehen lässt, von verführerischem Sog.
Und soweit ich zu wissen glaube, war Max Le Corre ein geeignetes Opfer dieser Masche, wie ein Pferd, das dankbar ist, sobald man die Zügel etwas locker lässt, wozu noch die Schulden kamen, die er zu haben glaubte, denn dieser selbe Bürgermeister hatte ihn zu einer Zeit angesprochen und eingestellt, als Max, wie man so sagt, ganz unten war. Denn das hatte es in Max' Leben auch gegeben: eine Welle zunächst, die ihn wie einen eleganten Surfer hoch auf ihrem Kamm trug, um ihn dann in den immer dunkleren zylindrischen Schatten zu werfen, ein Erlebnis, das noch Jahre später in seiner Erinnerung an die Oberfläche gespült wurde, wie ein Schattenspiel auf einer von sprühender Gischt vernebelten Windschutzscheibe, einerseits die strahlenden Jahre, in denen er sein Talent als Boxer ausgelebt hatte, andererseits die dunkleren Zeiten, die jene guten wie ein Gewitterhimmel überwölkten. Und er hoffte, über sie, die dunklen Jahre, eine dicke Wolldecke gezogen zu haben, die er nicht mehr anheben würde, wegen dieser langen Nacht ohne Boxen, die er durchlebt hatte, als die Lichter des Boxrings für ihn erloschen waren, die unsteten Lichter, schlimmer als ein Leuchtturm an einer Küste. Das kennen alle Boxer, dass der Ring etwas ist wie ein Leuchtturm, dessen Blinken man von der Brücke des Schiffes aus abzählt, um die Gefahr zu ermessen, und als sie dann kam, sah er sie nicht, die Gefahr, sondern ließ sich gegen die Klippen treiben, wie es beim Boxen häufiger geschieht als bei jedem anderen Sport: weil hier die Hell-Dunkel-Kontraste einer Laufbahn erschütternder sind als auf einem Gemälde von Caravaggio.
Überhaupt schon, dass es ihm gelungen war, wieder im Ring zu stehen und zu boxen wie in seinen besten Zeiten, konnte er kaum glauben, wenn er auf den Plakaten in der Stadt sich selbst erblickte, den großen Plakaten, die wie Alleebäume die vierspurigen Straßen säumten und den Schaukampf am kommenden 5. April ankündigten, vor sternenglitzernden Lichtern die Körperfotos der beiden Kontrahenten, die Hände auf Gesichtshöhe, alle Muskeln angespannt - er selbst mit kahl rasiertem Schädel, die Augenbrauen bereits in Richtung des Sieges gespannt, wie er die ganze Stadt mit seiner Wut oder seiner beherrschten Kraft herauszufordern schien, darunter in feurigen Lettern »Le Corre gegen Costa: Die Herausforderung!« Und wer abwechselnd das Plakat und den Mann am Steuer der Dienstlimousine betrachten würde, würde denken, ja, tatsächlich, das war er, Max Le Corre, die schiefe Nase, die von den Schlägen verunstalteten Lider, die glänzende Kopfhaut, genau derselbe Mann, der in wenigen Wochen den anderen Lokalmatador herausfordern würde, der ihm seit langem den Rang abgelaufen hatte.
Nicht mehr so lang hin, sagte der Bürgermeister.
In zwei Monaten um die Tageszeit, sagte Max, steh ich auf der Waage.
Dann jetzt bloß nicht zunehmen, bemerkte der Bürgermeister.
Abnehmen aber auch nicht, antwortete Max.
Und wieder einmal beschworen sie seine letzten Siege herauf, die enorme Freude, mit der er, der Bürgermeister, Max mehrmals den Gürtel des Siegers überreicht hatte, die enorme Freude, hatte er jedes Mal gesagt, zu Ehren eines echten Sohnes der Stadt zu sprechen, der hier zu dem geworden war, der er jetzt war, vor dem restlos begeisterten Saal das zu sagen! Sie alle so stolz auf ihre Verbindung zu einem, der immer hier gelebt hatte, in einem eher unauffälligen Viertel am Stadtrand, dessen Ruhm aber ein wenig in allen Fenstern sämtlicher Wohnblocks zu glitzern schien, wo jene lebten, die ihm in seiner Kindheit begegnet waren, auf den Bänken zwischen den Häusern, im Treppenhaus und dann natürlich im Boxclub, dessen schwere Metalltür sie alle mindestens einmal aufgedrückt hatten, sie alle hatten im Ring die Handschuhe übergestreift, um sich einen Augenblick lang zu fühlen wie Mike Tyson. Und dort, wo Hunderte vergebens darauf gehofft hatten, es würde irgendwann mal einer hinter einem Pfeiler verborgen sie beobachten und mit dem Finger auf sie deuten, wie wenn ein unsichtbarer Gott seine Propheten erwählt, dort war nur einer von ihnen unvermittelt erwählt und wie mit einem Baukran über das gewöhnliche Leben hinausgehoben worden - und das war Max Le Corre.
Denn man musste kein großer Gelehrter sein, um zu erkennen, dass hier, in Max' schwerem und gespanntem Körper, eine das übliche Maß überragende Kraft ruhte, so dass es gar nicht ein so großes Wunder war, als eines Tages ein Mann im weißen Anzug, der sich plötzlich zum Manager berufen sah, die kleine Trainingshalle betrat, in der Max seine Partner so leichthändig zu Boden schickte, und wo dieser Mann beschloss, sich um seine Karriere zu kümmern, die ihn schnell an die nationale Spitze brachte, so dass Max bald den Titel einheimsen konnte, auf den Pokal graviert, der immer noch auf seinem Kaminsims thronte, »Französischer Meister 2002, Halbschwergewicht«. Fünfzehn Jahre später, in so fortgeschrittenem Alter, staunte er natürlich darüber, erneut in der Presse Wörter wie »Wiedergeburt« oder sogar »Auferstehung« zu lesen - Auferstehung, ja, das war das andere Wort, das manchmal in den Zeitungen stand und das er auch nicht lieber hörte als »Wiedergeburt«, denn beide mit Bedacht gewählten Wörter verursachten denselben Luftzug hin zum Abgrund, der ihnen vorausgegangen war.
Wenn mir einer gesagt hätte, dass ich mit vierzig noch boxen werde, sagte er zum Bürgermeister.
Es heißt ja, antwortete der Mann auf der Rückbank, der immer noch nach draußen schaute, Boxen wäre vor allem eine Kopfsache.
Und den Blick fest auf die Straße gerichtet, verzog Max unmerklich den Mund, was vielleicht bedeuten mochte, »Wenn ich dir eine verpasse, wirst du schon sehen, was das mit dem Kopf macht« - aber so unmerklich, mit beinahe innerlich geschürzten Lippen, dass sein Schweigen zugleich als Zustimmung gelten konnte, denn natürlich hatte der Bürgermeister recht, Boxen ist vor allem eine Kopfsache, beim Boxen geht es um Nerven und mentale Stärke, ja, da würde Max als letzter das Gegenteil behaupten.
Jedenfalls ganz schön mutig, Costa herauszufordern, setzte der Bürgermeister wieder an.
Jetzt oder nie, antwortete Max, die Zeit spielt nicht für mich. Womit er recht hatte, denn der Boxsport war in seinem Alter, jedenfalls empfand er das so, wie ganz spät im Winter auf einem zugefrorenen See Schlittschuh zu laufen, und trotz seiner Siege täuschte er sich nie über den dünnen Eisfilm hinweg, auf dem er sich weiterbewegte, wo er ohne Angst immer noch die heikelsten Figuren vollführte,...
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