Schweitzer Fachinformationen
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Wann genau wollte dein neuer Gast eintreffen?«, fragte Insa, während sie ihrer Tante Doris drei Gläser Pfefferminztee auf das Tablett stellte.
»Seine Sekretärin meinte, mit der Fähre um eins.« Doris hob den Kopf und blickte zu der Uhr über dem gusseisernen Kaminofen. Ihr kurz geschnittenes graues Haar schimmerte silbern im Licht der Mittagssonne, das in hellen Streifen durch die Fenster fiel.
»Oh, nein!« Voller Entsetzen sah die ältere Frau ihre Nichte an. »Die Blaue Anna dürfte längst eingelaufen sein.«
»Dann mache ich mich besser gleich auf den Weg.« Insa legte zu jedem Glas noch einen Haferkeks auf den Unterteller und löste im Rücken den Knoten ihrer blauen Schürze. »Kommst du allein zurecht?«
»Natürlich, mein Mädchen«, versicherte Doris und strich ihr kurz über die Wange. »Momentan ist nicht viel los im Café, und ich bin froh, dass du mir den Weg zum Ferienhaus abnimmst.«
»Ich nehme das Rad. So bin ich schnell zurück«, versprach Insa und hängte ihre Schürze an den Haken neben der Tür.
»Lass dir genügend Zeit für meinen neuen Gast«, mahnte Doris eindringlich, griff nach dem Tablett und steuerte auf den Fensterplatz zu, wo drei ältere Herren in Wanderkleidung auf ihren Tee warteten.
Noch einmal schweifte Insas besorgter Blick durch ihr kleines Café. Es stimmte. Heute war kaum Betrieb. Außer den fitten Wanderern in der Fensterecke hockte nur noch ein verliebt blickendes Pärchen an einem der Tische. Und jetzt, in der Nebensaison, blieb auch der nachmittägliche Ansturm für gewöhnlich aus. Sie konnte Doris ruhigen Gewissens ein Weilchen allein lassen. Und irgendwie war sie auch froh, endlich einmal etwas für ihre Tante tun zu können. Denn seit Insa Anfang des Jahres das Café im Kirchweg gepachtet hatte, unterstützte Doris sie, wo es nur ging. Ohne die unermüdliche Hilfe ihrer Tante hätte sie den Gästeansturm in den vergangenen Monaten niemals bewältigen können. Doris war stets ihr rettender Anker gewesen, obwohl sie mit der Vermietung ihres Ferienhäuschens selbst genug um die Ohren hatte und mit bald siebzig nicht mehr die Jüngste war. Jede freie Minute hatte Doris in Insas Café verbracht. Zusammen hatten sie im Akkord Torten und Kuchen gebacken, Berge an schmutzigem Geschirr gespült und im Laufschritt die Gäste bedient. Vor allem in den Sommermonaten war ihnen kaum Zeit zum Luftholen geblieben. Insa hätte an so manchen Abenden im Stehen einschlafen können. Doch sie war glücklich, dass ihre erste Saison als Gastronomin auf Hiddensee so fantastisch gelaufen war.
Die Entscheidung, das Café in Kloster zu pachten, hatte Insa vor einem guten halben Jahr spontan aus dem Bauch heraus gefällt. Ihr Bauch siegte meistens über den Kopf. Nach ihrem Master in Geschichte war Insa unsicher gewesen, ob einsame Stunden hinter dem Schreibtisch eines Instituts oder maulende Schüler durch ein Museum zu führen, sie für den Rest ihres Lebens ausfüllen würde. Ihr Bruder Christian hatte fassungslos den Kopf geschüttelt, als er gehört hatte, dass sie ihr erfolgreich absolviertes Studium in den Wind schreiben und auf Hiddensee ein Café betreiben wollte. Mit neunundzwanzig sollte man schließlich wissen, wo der eigene Platz im Leben war. Doch Insa wusste es nicht. Zumindest damals. Heute spürte sie, dass ihr Bauchgefühl sie nicht getrogen hatte und die Entscheidung, auf ihre Heimatinsel zurückzukehren, die richtige gewesen war.
Was vielleicht auch ein wenig an Steffen Facklam lag.
»Insa!« Doris' mahnende Stimme riss sie aus ihrer Tagträumerei. »Mein Gast.«
»Bin doch schon weg, Tantchen«, erwiderte sie neckend und langte nach Schlüssel und Anmeldeformular auf dem Tresen, wo Doris die Sachen am Vormittag abgelegt hatte. Schnell streifte Insa noch ihre grüne Strickjacke über das weiße T-Shirt und eilte durch den Hintereingang aus dem Café. Ihr altes Hollandrad, das Steffen liebevoll für sie aufgemöbelt hatte, lehnte an der rot verklinkerten Hauswand. Insa knotete mit drei Handgriffen ihr blondes, schulterlanges Haar zusammen, stieg aufs Rad und bog in den Kirchweg ein. Doris' Ferienhäuschen lag am nördlichen Ortsrand von Kloster. In drei Minuten war sie dort. So lange würde der neue Gast ihrer Tante sich noch gedulden müssen.
Insa radelte gemächlich durch den herbstlichen, sonnenbeschienenen Ort. Die Mittagssonne brannte warm auf ihren Oberschenkeln, die in einer roten Röhrenjeans steckten. Als sie Steffen heute früh am Fähranleger verabschiedet hatte, war der Oktoberhimmel noch wolkenverhangen gewesen. Ein kühler Wind war über sie hinweggeweht, und er hatte seine Arme schützend um ihren Körper geschlungen. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass es so ein traumhafter Herbsttag werden würde. Wie auch bei Steffen und ihr nichts darauf hingedeutet hatte, dass sie zwei einmal ein Paar werden würden.
Die viel besagten Schmetterlinge hatte Insa beim ersten Aufeinandertreffen nicht verspürt. Ende März, als sie sich in Kloster zum ersten Mal begegnet waren. Christians Frau Kathi hatte die Eröffnung ihrer dritten Modeboutique gefeiert, und Steffen, der im Ort einen Fahrradverleih betrieb, war auch unter den Gästen gewesen. Denn nach Kathis unbestrittener Meinung gehörte es zum guten Ton, benachbarte Geschäftsleute an seinem Erfolg teilhaben zu lassen. Nach zwei florierenden Boutiquen in Vitte und Neuendorf war es Kathi endlich gelungen, hier im Ort einen dritten Laden zu eröffnen. Inzwischen hegte Insa allerdings den Verdacht, dass diese Einladung nur darauf abgezielt hatte, Steffen und sie zu verkuppeln. Was eindeutig auf Christians Konto ging. Ihr Bruder war neben seiner eigentlichen Tätigkeit als Rohrdachdecker auch der Inselbürgermeister, und Steffen und er kannten sich aus dem Gemeinderat. Mit der Zeit waren sie enge Freunde geworden. Da Insa Hiddensee unmittelbar nach der Schule verlassen und nur an den Feiertagen ihre alte Heimat besucht hatte, war sie Steffen Facklam nie begegnet, obwohl er seit Ewigkeiten auf Hiddensee lebte. Auf Kathis Feier waren sie auf Anhieb ins Gespräch gekommen. Über die anstehende Neueröffnung ihres Cafés. Über seinen Fahrradverleih. Über das Glück, in diesem wunderbaren Landstrich leben zu dürfen. Insa hatte sofort gespürt, dass Steffen fasziniert von ihr gewesen war, und seine Art, um sie zu werben, hatte ihr irgendwie geschmeichelt: ihr rostiges, klappriges Hollandrad, das kurz darauf aufgemöbelt und fahrtüchtig vor ihrem Café stand, die ofenfrischen Brötchen, die jeden Morgen an ihrer Türklinke hingen, und die Reparaturarbeiten im Café und im Haus ihrer Tante, nach denen er förmlich Ausschau gehalten hatte. Sechs Wochen später war sie Steffens Avancen erlegen. Dabei hätte Insa sich früher nie vorstellen können, mit einem sechzehn Jahre älteren Mann zusammen zu sein. Doch Steffens ruhige, abgeklärte Art gab ihr Halt. Sicherheit. Ein Gefühl, das sie in dieser Phase ihres Lebens dringend brauchte.
Das Klingeln des Handys holte sie aus ihren Erinnerungen. Insa bremste ab und zog das Telefon aus der Hosentasche. Vicky Wolff, ihre Verpächterin. Bevor Vicky im Frühjahr die Pension Dünenrose in Kloster übernommen hatte, hatte sie das Café im Kirchweg viele Jahre selbst betrieben. Aber dann war Vicky schwanger geworden, und die moderaten Arbeitszeiten einer Frühstückspension ließen sich mit einem Baby nun mal besser vereinbaren. Daher hatte Vicky das Café zur Pacht angeboten.
Vor einigen Wochen waren sie und ihr Freund Tobias stolze Eltern einer Tochter geworden.
»Hallo Vicky! Wie geht's der kleinen Luise?«, erkundigte sich Insa sofort.
»Sie hält ihre Eltern mächtig auf Trab. Vor allem ihren Vater. Manchmal schläft Tobias sogar beim Wickeln ein.« Vicky kicherte aufgekratzt. »Aber für nichts in der Welt möchten wir tauschen.«
»Das glaube ich dir gern.«
Vicky räusperte sich. »Sag mal Insa, bist du zufällig bei Steffen?«
»Nein. Auf dem Weg zu Doris' Ferienhaus. Ein neuer Gast checkt gleich ein.«
Insa schielte auf ihre Armbanduhr. Sie sollte sich endlich sputen, bevor der Mann noch bei der Konkurrenz Zuflucht suchen würde.
»Schade.« Vicky klang enttäuscht
»Was ist denn los?«, horchte Insa auf.
»Ach, nichts Dramatisches. An meinem Fahrrad springt nur dauernd die blöde Kette runter. Ich dachte, du könntest Steffen bitten, sich die Sache heute noch anzuschauen.«
»Steffen ist nicht da. Er ist zur Fahrradmesse nach Hannover gefahren.«
»Zum Siebzigsten deiner Tante kommt er aber schon, oder?«, fragte Vicky gespielt ungläubig.
»Vicky, die Geburtstagsparty ist morgen.«
»Eben«, entgegnete diese vorwurfsvoll, »und Steffen lässt dich auf den ganzen Vorbereitungen sitzen.«
»Es ging nicht anders. Ein renommierter Radhersteller hat ihn spontan eingeladen, und gute Kontakte muss man schließlich pflegen, wie Kathi sagen würde.«
Vicky gluckste. »Na, wenn Kathi es sagt, kann er sich diese Chance selbstverständlich nicht entgehen lassen.«
Insa lachte ebenfalls. Dabei war sie schon enttäuscht gewesen, als Steffen ihr vor zwei Tagen von dem Termin in Hannover erzählt hatte. Dass Doris ihren siebzigsten Geburtstag im Café feiern wollte, stand seit Langem fest, und halb Kloster hatte sich dazu eingeladen. Insa hatte Steffens Hilfe fest eingeplant. Doch für Steffen bedeuteten Fahrräder mehr, als nur seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen. Eine Messehalle mit Rädern, so weit das Auge reichte, war für ihn vermutlich das Paradies auf Erden. Für Insa war ein Rad lediglich ein bequemes und hier auf der Insel unentbehrliches Fortbewegungsmittel.
»Im Übrigen hat Steffen für die Party ein Spanferkel bestellt«, versuchte Insa ihren Freund in Schutz zu nehmen,...
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