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Johnny, wenn du Geburtstag hast .«
Stellas Stimme besaß ein ganz eigenes, unvergleichliches Timbre. Sie klang nach Bar und Alkohol und Zigaretten, dabei sehr unschuldig, sie war klar und präzise, dennoch voll Geheimnis, sie klang, als würde Stella gleich in Gelächter ausbrechen, selbst wenn sie dramatisch die Augen schloss und ihr Publikum zu Tränen rührte.
»Neuerdings dein Lieblingslied .«, meinte Alexander, ihr Bruder, anzüglich. Sie schnaubte kurz durch die Nase und sang weiter bis zum Schluss: ». dass du doch jeden Tag Geburtstag hätt'st.«
Lysbeth zog ihren Bruder Johann vom Stuhl hoch. »Komm, es wird höchste Zeit, dass du tanzen lernst. Stella, spiel einen Onestepp!«
»Hallo, du süße Klingelfee .«, sang Stella lachend und begleitete sich dabei auf dem Klavier. Ihr Bruder Alexander wurde seit frühester Kindheit Dritter genannt. Sein Vater hieß, ebenso wie dessen Vater, auch Alexander, was für endlose Konfusion gesorgt hatte. Bis aus Alexander »dritter Alexander« und dann der einprägsame Name »Dritter« wurde. Dritter setzte sich mit einem Dreh seines hübschen kleinen Hinterns auf einen Hocker neben sie und improvisierte ein paar Takte. Stella warf ihm einen Blick aus ihren veilchenfarbenen Augen zu, der jedem anderen Mann in die Hose gefahren wäre, Dritter aber warf nur einen ebensolchen Blick zurück und fuhrwerkte wie ein Teufel auf den Tasten herum.
Johann, acht Jahre jünger und einen enormen Kopf kleiner als Lysbeth, entzog ihr mit einem Ruck seine Hand. »Ich bin doch kein Kleinkind! Hör auf, mich rumzukommandieren«, maulte er.
»Oho! Unser Kleiner wird erwachsen«, kommentierte Eckhardt den lauen Wutausbruch seines jüngsten Bruders. »Komm, Lysbeth, meine schöne Schwester. Wenn der Kleine nicht will, ich halte die Stange!«
Er fasste um ihre Taille und schob sie in zackigen Tanzschritten, den Arm bald oben, bald unten, durch das Klavierzimmer der Gaerbers. Einen Moment lang war Lysbeth versucht gewesen, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Jeder wusste doch, dass sie keine schöne Schwester war, und die Anzüglichkeit mit der Stange verletzte sie immer wieder, auch wenn sie seit frühester Kindheit alle möglichen Ausdrücke gewöhnt war: Bohnenstange, Stangenspargel oder nur Stange mit allen möglichen Adjektiven - dürr, lang, platt, trocken, mager, um nur einige zu nennen. Aber sie liebte es nun einmal zu tanzen, auch mit ihrem Bruder Eckhardt, der zwar ebenfalls einen Kopf kleiner war als sie, aber in den Schultern beweglich und ein begeisterter Tänzer. Sie wusste ja auch, dass er es nicht böse meinte. Außerdem passierte es ihr in den letzten Wochen gar nicht so selten, dass sie Worte hörte wie: »Schöne junge Frau«, oder »Welcher Zauber liegt in Ihren Augen«, oder »Sie sind ein Engel«, wobei ausnahmsweise nicht ihr Wesen, sondern wirklich und wahrhaftig ihr Äußeres gemeint war.
»Abklatschen!« Vor Eckhardt und Lysbeth stand mit einem strahlenden Lächeln auf den blutrot geschminkten Lippen Eckhardts Verlobte Cynthia Gaerber. Ohne aus dem Takt zu kommen, griff Eckhardt nach seiner neuen Dame und schwenkte sie durch den Raum. Stella und Dritter spielten einen Onestepp nach dem andern.
Schwer atmend setzte Lysbeth sich nieder. Was für ein wundervoller Abend, dachte sie. Wie herrlich sich unser Leben verändert hat, seit wir aus Dresden abgereist sind. Geflohen, korrigierte sie sich spöttisch, denn es war keine Reise, es war eine Flucht gewesen. Ihr Vater hatte Dummheiten gemacht, arge Dummheiten. Er hatte sich hier und dort Geld geliehen, ohne es zurückzahlen zu können. Er hatte seine Gläubiger vertröstet, bis die ihn verprügelten und Schlimmeres androhten. Erst als ihm das Wasser bis zum Hals stand, hatte er sich seiner Frau anvertraut, die, wie es nun einmal ihre Art war, einerseits praktische Konsequenzen gezogen, andererseits Alexanders Beichte für sich behalten hatte. Alexander selbst hatte seinen Kindern kurz vor der nächtlichen Abreise sein Fehlverhalten gestanden.
Vor vier Tagen erst war die Familie Wolkenrath - die Eltern Käthe und Alexander und die Kinder Lysbeth, Alexander, Stella, Eckhardt und Johann - in Hamburg angelangt und wohnte seither bei den Gaerbers, der Familie von Eckhardts Verlobter Cynthia. Natürlich nur so lange, bis sie ein eigenes Domizil gefunden hatten. Lysbeth schien, als habe sich in diesen wenigen Tagen ihr ganzes Leben zum Besseren gewandelt. Das lag nicht nur daran, dass das Haus der Gaerbers einfach wundervoll gelegen war - das nahe Elbufer lud zu romantischen Spaziergängen ein -, dass es hier immer ausreichend zu essen gab, zudem noch köstlich zubereitet, und dass sie im Haushalt nichts selbst tun mussten. Es lag nicht einmal an der Großzügigkeit der Räume, die so vieles ermöglichten. Man konnte tanzen, Klavier spielen, zu zehnt gemeinsam am großen Esstisch sitzen. Überhaupt schluckte das riesige Haus mühelos die ganze Familie Wolkenrath mit ihren immerhin sieben Personen. Nein, dass Lysbeth sich hier so wohlfühlte, lag vor allem an Lydia, der Hausherrin.
Lydia Gaerbers dunkle Stimme klang vom Nebenraum, dem Salon, wohin sich die beiden Elternpaare jeden Abend nach dem Essen begaben und über alles Mögliche redeten, herüber und übertönte sogar das Klavier.
»Es war doch Ludendorff selbst, der Prinz Max von Baden ermächtigt hat, der alte Fuchs wollte doch nur die Verantwortung von sich abwälzen, damit er hinterher behaupten konnte, die deutsche Armee wäre im Felde ungeschlagen gewesen.«
Lydia nahm kein Blatt vor den Mund, und Lysbeth fühlte sich sehr zu ihr hingezogen. Ebenso erging es ihrer Mutter, das spürte Lysbeth, und es freute sie, denn Käthe hatte eine schlimme Zeit hinter sich, seit Fritz gestorben war. Fritz, der geheime Geliebte der Mutter, Fritz, der Vater von Stella. Fritz, der nach dem Krieg Kommunist geworden und beim Kampf für die Republik gestorben war. All das wussten die Schwestern erst seit kurzem. Die Brüder hatten es nicht erfahren, und wenn es nach Lysbeth ging, würde es auch dabei bleiben.
Lydia hatte die Wolkenraths eingeladen, so lange bei ihnen wohnen zu bleiben, wie es ihnen beliebte. Sie hatte ihnen die Wohnung in der ersten Etage ihres großen Hauses zur Verfügung gestellt. Dort hatten früher Lydias Eltern gelebt, die noch vor dem Krieg gestorben waren. Seitdem standen die zwei Zimmer leer, denn für Gäste gab es noch ein Extrazimmer, wo jetzt die drei Söhne der Wolkenraths, Dritter, Eckhardt und Johann, wohnten. Die beiden Töchter hatten das kleinere Zimmer zugeteilt bekommen, wo sie auf Sofas schliefen, während Käthe und Alexander das Ehebett benutzten. Manchmal fragte Lysbeth sich, ob ihre Eltern überhaupt noch ein Ehebett brauchten. Für eine junge Frau von siebenundzwanzig Jahren, immerhin noch Jungfrau, dachte sie ungewöhnlich offen und selbstverständlich an Sexualität. Sie empfand keinerlei Scheu bei dem Gedanken, dass Käthe und Fritz eine leidenschaftliche Liebe verbunden hatte. Ohne Leidenschaft und Liebe hätte ihre Mutter sich niemals für ein solches Doppelleben hergegeben, aus dem sogar noch ein Kind hervorgegangen war.
Lysbeth lauschte zum Salon. Zum Glück war es in beiden Familien nicht üblich, dass nur die Männer über Geschäfte und Politik und die Frauen lediglich über Mode und Haushalt sprachen. Lydia und Käthe beteiligten sich lebhaft an der politischen Diskussion über permanente Geldentwertung und die Lüge vom Dolchstoß.
Gerade sprach Lydia davon, dass sie 1918, also während des Krieges, auf einer Tagung in einem alten Thüringer Schloss gewesen war. »Ich habe sogar Cynthia gefragt, ob sie Lust habe, mich zu begleiten, aber sie hat nur wie ein verschrecktes Kaninchen geguckt.« Lysbeth spitzte die Ohren. So etwas war während des Krieges möglich gewesen?
»Lydia hat von Beginn an keinen Hehl daraus gemacht, dass sie diesen Krieg widerlich und unvernünftig fand. Ich glaube, Cynthia war ihre Mutter unheimlich. Das gesamte Vaterland führte den Krieg zumindest im Geiste mit, nur ein einziger Mensch stellte sich gegen das nationale Anliegen: Lydia Gaerber. Gegen einen so mächtigen Strom zu schwimmen, schien Cynthia lebensgefährlich. Womit sie ja nicht unrecht hatte.« Karl-Wilhelm Gaerbers Stimme drang auffallend hell und gepresst in Lysbeths Ohren.
»Versteck dich mal nicht hinter deiner Tochter!« Lysbeth zuckte zusammen. Das klang scharf. Die folgenden Worte klangen noch schärfer. »Hätte ihr Vater eine eindeutige Haltung für oder gegen den Krieg eingenommen, wäre es Cynthia leichter gefallen, sich eindeutig gegen mich zu stellen oder aber stillschweigend mit einem von uns übereinzustimmen. So aber spürte sie neben dem irritierenden Gegensatz von allgemeiner Autorität und meiner Meinung vor allem, wie unglücklich der Vater über mich war, weil ich Dinge aussprach, gegen die er keine Argumente wusste, die ihn als Geschäftsmann jedoch noch mehr in Schwierigkeiten brachten, als er ohnehin schon war.«
Lysbeth hielt den Atem an. Stritten sich die beiden dort in aller Öffentlichkeit? Sie hatte nie einen Streit zwischen ihren Eltern miterlebt.
»Der Vater bin ich«, klang es da trocken von nebenan. Alle lachten. Wenn auch beklommen. »Wenigstens hat Cynthia den Vorschlag ihrer Mutter abgelehnt.«
»Die Mutter bin ich!« Das nun folgende Lachen klang bereits etwas gelöster. Käthe und Alexander Wolkenrath schienen sich darauf einzustellen, dass in diesem Hause nicht nur über Politik freimütig debattiert wurde, sondern auch über eheliche Zwistigkeiten.
»Ich kam mir vor wie eine Verräterin.« Lysbeth zuckte zusammen. Cynthias Atem streifte ihre Wange. Sie hatte nicht mitbekommen, dass der Tanz beendet war und...
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