Schweitzer Fachinformationen
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Die nächsten Etappenstationen der eiligen Hannoverschen Reisegesellschaft, fuhr Lachert fort, waren am anderen Ende der Leipziger Tieflandsbucht Eisleben, die heutige Lutherstadt, dann Roßla am Fuß des Kyffhäusers, das gelehrte Göttingen und dann noch Seesen, ein weitgehend unbekannter Flecken, der allerdings die Familie Steinweg gleich Steinway hervorgebracht hat, Klavierbauer erst am Harzrand, dann in Nordamerika. Am Ende des fünften Tages fuhren die drei Kutschen endlich in der Residenzstadt der Welfen ein. Das Königtum dort hatte nur noch wenige Jahre, dann verspielte der blinde Herrscher, Herrscher von Gottes Gnaden, wie er ebenso beharrlich wie unbelehrbar meinte, sein Reich in der Schlacht bei Langensalza, 1866, gegen die Preußen, an jenem schicksalhaften Sommermorgen ließ er sich, bevor der brudermörderische Kampf losbrach, auf seinem Pferd sitzend, an die Kante des Talhangs bringen, schwarze beinahe unsichtbare Fäden leiteten das edelste Warmblut, das die Zucht im Königlichen Landgestüt Celle bis dahin hervorgebracht hatte, kerzengerade saß der König im Sattel und winkte, nachdem der Flügeladjutant die Richtung angegeben und gleich auch korrigiert hatte, seinen Truppen zu, als könnte er sie sehen und durch seinen festen fordernden Blick auf das Blutvergießen, fremdes Blut, eigenes Blut, egal, es kam doch, wie es kommen mußte, festlegen. Daraus folgt, wandte Lachert sich nicht nur an Loest, sondern auch an Koeben, falls Sie die Geschichte nicht ohnehin schon kennen, daß der Zigeunerjunge den Fürsten in Hannover ebensowenig von seiner Blindheit hat befreien können wie die besten Ärzte jener Jahre und das Berliner Mädchen aus der Schiffergasse. Dabei hatte der Junge sich alle Mühe gegeben, an vier verschiedenen Tagen hatte er je eine Stunde die Hand auf König Georgs Stirn gelegt, doch der blieb, was er nun einmal war: blind und, wenn man das anfügen darf, borniert. Es folgte nach einer reichlich abschätzigen Verabschiedung die Rückreise, man mußte nichts mehr geheimhalten, man brauchte den gescheiterten Wunderheiler nicht mehr abzuschirmen und setzte ihn auf die Bahn mit dem Ziel Dresden, von dort kam er auf einem Steinkohlenfuhrwerk der Grube auf dem Windberg nachhause, es war schon dunkel. Trotzdem ging es in Niederreinsberg wie auch in Freiberg noch am gleichen Abend und am nächsten Tag von Haus zu Haus: Der Schmiedejunge ist weit weg bei einem fremden König, Geenich ausgesprochen, gewesen, er hat ihm nicht geholfen, hat ihm nicht helfen können, die Gabe ist ihm wieder abgenommen worden, sie war allein für uns bestimmt. So sagten bald die Leute. Und blieben weg. Bis auf zwei gutgestellte Schwestern aus Oederan, fünfundvierzig und achtundvierzig Jahre alt, unverheiratet, die von Anfang an zum innersten Kreis der Anhänger gehört hatten, Besitzer einer Spinnerei, Geld spielte keine Rolle, sie hatten es und traten dennoch mehr als einfach und bescheiden auf, der Mensch lebt nicht vom Brot allein, Jesum ist unser Herr, sagten sie, und der Pfarrer runzelte die Stirn, wenn er das hörte, was für ein frömmelnder Quatsch von euch Kanzellerchen, ereiferte er sich, euer geschwollenes Jesumgerede, es heißt Jesus, Jesus ist unser Herr, und damit basta. Den beiden ältlichen, aber durchaus noch, wie der Volksmund sagt, im Saft stehenden, üppig spätblühenden Frauen von der eher handfesten Sorte, nur die bleichen Ergriffenheitsmasken, das innige Getue störten, auch den Pfarrer, nebenbei gesagt, warum wohl, ihnen präsentierte der Zigeunerjunge immer häufiger Himmelsbriefe, die ihm sein persönlicher Engel mit Namen Michum geschrieben und in der Betkammer im ersten Stock der Schmiede übergeben hatte. Die Kammer, an der Hintertreppe gelegen und gerade erst vom Gerümpel befreit und christlich eingerichtet, sollte den Jungen über den Mißerfolg in Hannover hinwegtrösten, sie erfüllte die ihr zugedachte Aufgabe tatsächlich, denn in ihr ließ sich trefflich mit den beiden Oederaner alten Jungfern sprechen, beten, singen, nicht selten, aber stets angekündigt, kam der Schmiedemeister dazu, niemals die Schmiedemeistersfrau. Raten Sie mal, was in den vorgezeigten Briefen stand. Ja, ganz genau, es ging um Geld, mal sollten drei, mal sieben Taler gespendet werden, für Traktate, Bildchen, Kruzifixe, die Heidenbekehrung in Afrika und Grönland, heute gespendet, und morgen, spätestens übermorgen würden die großzügigen Spender das Zehnfache zurückbekommen, als Belohnung für die Selbstlosigkeit. Dem war nicht so. Vielmehr wuchs der Finanzbedarf des Engels für seine guten Werke ins Zehnfache, ins Hundertfache, nach einem Jahr konnte die Spinnerei der Schwestern die benötigte Baumwolle nicht mehr bezahlen, der Importeur in Chemnitz, ein Großhändler Georgi, sagte nein, der Clauß in Flöha bezahlt mir mehr, er zahlt überhaupt, und Ihr habt Schulden über Schulden bei mir. Und auch anderwärts, wie ich höre, gibt es Verbindlichkeiten. Wenn kein Material, dann keine Arbeit, die vielen hundert Spindeln drehten sich nicht mehr, und der Lohn für die hauptsächlich im Tage- oder Wochenlohn Beschäftigten blieb aus, die meisten waren Frauen, auch Kinder gab es im Betrieb, nicht wenige sogar, die Pleite nahm einem Sechstel, fast einem Fünftel der Oederaner Einwohner den Verdienst, das täglich Brot, so daß die Furcht vor Hungeraufläufen alles andere als aus der Luft gegriffen war, schon hatten Unbekannte beim Bäcker am Altmarkt nachts zweimal eine Scheibe eingeworfen, es gab auch Kreideschmierereien am Rathaus, an der Kirche und am Haus des Gendarmen, Die Laternen stehen noch, Unser Kohldampf macht euch Dampf, Kein Kaiser und kein Gott, dergleichen Sprüche und Drohungen konnte man lesen, Erinnerung an 1848 mit den Barrikadenkämpfen in Dresden und mit den Freiwilligen, die mit Jagdflinten, Stutzen und Kutscherpistolen von allen Seiten auf die Residenz zuströmten, auch aus Oederan, hin zu Schüsseknattern, Hufgetrappel, Kommandos und Kanonendonner in den engen Straßenschluchten, der Aufstand achtundvierzig, will ich sagen, war noch nicht vergessen, weder unten im Volk noch bei den Kleinstadtoberen. Bis heute, sagte Lachert, Sie wissen es, gibt es den Unterschied, den Riß, der durch alle Gemeinden, alle Dörfer und Städte geht, durchs ganze Land, bis in unsere Tage, und der alle zehn oder zwanzig Jahre andere Gruppen und Grüppchen voneinander trennt und einander gegenüberstellt, Notwehr, Bürgerkrieg, Haß, Terror, wir werden unser Schicksal niemals los, den Reichen vor Hunger hassen, auch vor nacktem Neid, den Habenichts aus Angst, den Andersgläubigen aus Kurzsicht und Beschränktheit und den Disputanten und Eiferer aus Unsicherheit und Gedankenfaulheit, sie alle hassen, müssen hassen, wollen hassen, in einer Richtung und in der Gegenrichtung, immer hin und her, das ist unser Problem, fast möchte ich sagen unser Los in alle Ewigkeit, bis ans Ende aller Tage.
Sie spinnen wohl, wurde der halb weggetretene Koeben wieder munter, bleiben Sie mir bloß vom Leib mit Ihrem Schicksalslos und Ihrer albernen Ewigkeit, die Zeit ist neu, und neu ist auch der Mensch, noch neuer die Gemeinschaft, in der er bei uns lebt. Wie ging es denn weiter mit dem Jungen, schaltete Loest sich ein, er kannte solche Streitgespräche bestens, bis zum Überdruß, einmal, noch gebremst, aus den Hinterzimmern der Messestadtcafés und Kneipen und weiter aus den Wohnungen seiner Volkszeitungskollegen, wenn Alkohol die Zungen löste und hinwegtrug über die Angst vor Spitzeln, die Dämme brachen oft, denn niemand konnte auf Dauer nahtlos das genaue Gegenteil von dem nachbeten, was er wirklich dachte, einmal mußte es heraus, und wenns im Suff war, um so besser, ich war hinüber, tut mir leid, Genossen, Geistesverwirrung, ließ sich dann notfalls sagen, die Sache schien erledigt, tatsächlich aber war der Argwohn, wenn nicht längst vorhanden, geweckt, das Mißtrauen wurde zwischen Aktendeckeln untergebracht und bereitgehalten. Das Wunderkind aus der Schmiede, ein stundenlanges Thema für mich, Sie merken es, war inzwischen fünfzehn Jahre alt geworden, die ältere seiner beiden Gönnerinnen blieb weg, sie verschanzte sich in ihrem Haus in der Dresdner Straße in Oederan vor den Gläubigern und den eigenen unbezahlten Leuten aus der Spinnerei, zwei der betroffenen Familien wohnten auf der anderen Straßenseite, erst wenn es dunkel war, huschte sie aus der Hintertür und klopfte beim Kaufmann nebenan an das Küchenfenster, ich nehme, was Sie nicht loswerden, was sich nicht absetzen läßt, für den halben Preis, und mit Anschreiben, natürlich, leider, bitte. Nur noch die jüngere Schwester kam nach Niederreinsberg, die aber immer öfter, immer länger, manchmal, wenn es spät geworden war mit dem Beten, dem Gesang, dem Reden, übernachtete sie auch in der Schmiede, von Sonnabend auf Sonntag meist. Der obere Flur war lang, es gab Kammern mehr als genug, und der Schmied und seine Frau hatten nichts dagegen, wer weiß, wozu es gut ist. Schließlich gehört sie auch ohne Moos noch oben dazu, auf der Höheren Töchterschule in Radebeul ist sie gewesen, sie tut und spricht so fein, das läßt sich nicht verlernen. Eines Nachts, der Herbststurm peitschte Regen gegen die Fenster, die Ziegel auf dem Dach klapperten, kam die Besucherin ans Bett des jugendlichen Mentors, ich kann nicht schlafen, der Lärm, und etwas krampft mein Herz zusammen, wie soll es weitergehen mit mir, du mußt mir helfen. Laß uns noch einmal beten, sagte der Junge, noch im Halbschlaf. Halt mich lieber fest, ganz fest, und wärme mich, mehr will ich nicht. Am anderen Morgen, der Wind hatte sich gelegt, es regnete nicht mehr, wurde der Junge wach, als das erste Tageslicht in die Kammer fiel, er sah neben sich den Kopf seiner allerletzten Verehrerin aus neuer Perspektive, von schräg hinten, schütteres falbes Haar, und als ihm bewußt war, was er sah, fühlte er auch den fremden...
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