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Statt eines Vorworts
Den Tag, an dem mir Nonna Antonietta den Spitznamen »Malacarne« gab - Teufelsbraten, durch und durch verdorben -, werde ich nie vergessen. Es regnete heftig - einer dieser Platzregen, wie sie nur selten vorkommen, außer im Winter. Kurz bevor er einsetzt, spürt man, wie der vom Meer kommende Wind alles mit seinem Geheul durchrüttelt und einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Die Seepromenade war eine einzige Pfütze. Die verlassenen Felder und die karge Landschaft bei Torre Quetta waren platt gedrückt und verwüstet, als hätte dieser Wolkenbruch sie regelrecht zur Strecke gebracht. Es war April. So einen verregneten Frühling habe es seit dreißig Jahren nicht gegeben, erzählten die alten Leute aus meinem Viertel später.
Trotz der Ermahnungen meiner Mutter und Großmutter, die die Stimme des Windes deuten konnten, bestand ich darauf, nach draußen zu gehen.
»Wenn sich das Meer wie der Teufel gebärdet, wehrt sich die Erde«, warnte mich Nonna Antonietta, während ich hinaustrat. Ich hatte beiden, Mutter und Tochter, einen herausfordernden Blick zugeworfen. Die eine rieb gerade Pecorino auf der grattarola wie jeden Tag vor dem Mittagessen, während die andere eine dicke Scheibe Brot abschnitt. Ich zuckte nur mit den Schultern, nichts hielt mich zurück, allen Ermahnungen zum Trotz. Ich wollte das stürmische Meer aus nächster Nähe sehen, wollte herausfinden, ob es mir Angst machte.
Ich rannte über das weiße Pflaster der Altstadt und winkte kurz einigen Nachbarinnen zu. Diese comari standen in der Tür und schauten in den Himmel, als wollten sie wie die alten Römer Vogelschau betreiben. Ich spürte den Wind in den Haaren und im Gesicht. Obwohl er auf mich einpeitschte, wäre mir nicht in den Sinn gekommen kehrtzumachen. Mit nur zwei Sprüngen überwand ich die Stufen, die von der Altstadtmauer zur Seepromenade führten. Hastig eilte ich am Teatro Margherita vorbei, um dann zur Mole zu gelangen, wo über ihr die Wellen brachen. Ich wollte das Meer in seinem ganzen Hochmut erleben.
Als ich bei Torre Quetta die Küste erreichte, hörte ich kurz eine leise Stimme in mir, die mir zuflüsterte, ich solle doch nach Hause zurückkehren. Ich sah das Gesicht meiner Mutter vor mir, die mir verboten hatte, nach draußen zu gehen. Ihren liebevoll ermahnenden Blick und ihren sich wiegenden Kopf, bevor sie wie jedes Mal sagte: »Du hast einen noch größeren Dickschädel als dein Vater.« Auch meine Großmutter tauchte vor meinen Augen auf, die trotz strenger Zurechtweisungen, mit denen sie mich zur Vernunft bringen wollte, genauso zärtlich besorgt war wie die Tochter. Schon ihr Äußeres hatte etwas Nachgiebiges. Sie war eine kleine Frau mit einem großen, schwer auf den Bauch fallenden weichen Busen.
Ich versuchte die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben, wollte mich durch sie nicht von meinem Vorsatz abbringen lassen. Während ich mein wadenlanges Kleid umklammerte wie eine Rettungsleine, näherte ich mich den Klippen. Riesige Wellen schlugen gegen die Felsvorsprünge, brachen und versprühten ihre Gischt, um dann ins Meer zurückzufließen. Der Horizont war diesig und verschwamm mit dem Wasser, das aussah wie ein gigantischer Tintenfleck. Hypnotisiert von diesem faszinierenden Schauspiel bemerkte ich gar nicht, wie bedrohlich sich der Himmel verdüstert hatte. Es schien eher Nacht zu sein als zwölf Uhr mittags. Als der Regen einsetzte, blieb mir keine Zeit mehr, nach Hause zu laufen. Augenblicklich verblassten die Umrisse der Häuser von Bari und wurden vom dunklen Himmel verschluckt. Der Sturm peitschte die Wasseroberfläche, von der eine Art Nebel aufstieg, der zu unzähligen weißen Tropfen zerstob.
»Und nun?«, fragte ich mich wieder und wieder, während ich mich suchend umsah.
Hinter mir erhob sich die Ruine des Torre Quetta, ein heute verlassener Turm, der Soldaten zu Kriegszeiten ermöglicht hatte, übers Meer kommende Feinde zu sichten. Die Mauern waren fahlgrau, die ihn umgebende Vegetation öd und karg. Ich ging zur Eingangstür, die von einem verrosteten Draht zugehalten wurde, während mir der Regen schwer wie Blei auf den Kopf niederprasselte. Mir blieb keine andere Wahl. Im Turm würde ich in Sicherheit sein.
Ich stieß die Tür auf, die mit einem unheimlichen Knarren protestierte, und tat einen Schritt nach vorn. Ich fand mich in einem runden Raum mit zwei Fensterluken wieder, durch die man die Küste überwachen konnte. Auf dem Boden lag eine alte Matratze und ein Stück weiter eine Emailleschüssel mit blauem Rand, die an mehreren Stellen angeschlagen war. Ich war damals erst neun und konnte noch nicht wissen, dass im Torre Quetta Prostituierte ihre Freier erwarteten.
Ich setzte mich hin und hoffte, dass der Mensch, der die Matratze sein Eigen nannte, nicht zu früh zurückkehrte. Ich zog die Schultern bis zu den Ohren, denn durchnässt wie ich war, wurde mir langsam kalt. Ich starrte auf meine Füße in den Holzpantinen. Meine Zehen waren schwarz vom Matsch, und die vom Regen glänzende Haut war noch olivfarbener als sonst. Vor Angst schlug mir das Herz bis zum Hals - auch wenn ich das nach meiner Rückkehr niemals zugeben würde.
Als ich den Heimweg antrat, hatte ich keine Ahnung, wie spät es war. Der Himmel hatte sich aufgehellt, und der Wind war abgeflaut. Vom Meer her stank es nach Algen, aber als ich über die Stadtmauer lief, wich der Fäulnisgeruch dem Duft von Tomatensoße mit Basilikum und gebratenem Fleisch. Ganz in der Ferne war noch der ein oder andere Wolkenfetzen am Horizont zu sehen, schwebende Watte. Meine Erleichterung darüber, dass ich das Abenteuer so mutig überstanden hatte, verwandelte sich rasch in Furcht vor der Reaktion meines Vaters. Was würde er wohl zu meinem Wagemut sagen? Wie laut würde er diesmal brüllen? Der Gedanke an seine vor Wut lodernden Augen, an sein von angespannten Kiefermuskeln verzerrtes Gesicht jagte mir mehr Angst ein als der soeben überstandene Gewittersturm.
Auf einmal wurden meine Beine schwer, mühsam meine Schritte. Sogar der Kopf wurde zu einer für meine schmächtige Gestalt kaum tragbaren Last. Mir war, als müsste ich ein Ei auf einem Strohhalm balancieren.
Von ihrem Fenster aus begrüßte mich Comare Angelina, die gerade eine Tischdecke über das Straßenpflaster ausschüttelte.
»Was ist denn mit dir passiert, Marì? Bist du ins Meer gefallen?«, fragte sie besorgt. Ich schüttelte den Kopf, hatte aber keine Lust, ihr Rede und Antwort zu stehen. Ein Stück weiter vorn warteten meine Mutter und Großmutter bereits in der Tür auf mich. Erstere blass und ohne Spannung, Letztere gedrückt, was ihre kleine und gedrungene Statur nur noch mehr unterstrich. Sie spürte den Stachel, der ich schon als Säugling gewesen war. Sprachlos blickte sie mich an, nur ihre Augen verrieten: Wie war es möglich, mit einer so ungezogenen, missratenen Enkelin gesegnet zu sein? Normalerweise war sie nie um ein Wort verlegen: Wenn sie wollte, redete sie viel und ohne Unterlass von den tausend Dingen, die sie gerade erledigen wollte oder die sie sich für den nächsten Tag vorgenommen hatte. Vom Großvater, Gott hab ihn selig, der sie als junge, unerfahrene Frau geheiratet und darüber gestaunt hatte, wie sie ihm immer besser und zuverlässiger den Haushalt führte.
Doch jetzt, in unserer Haustür, sah sie aus wie eine Mater dolorosa und wartete nur auf ein winziges Zeichen ihrer Tochter, etwas sagen zu dürfen. Dieser Wink blieb allerdings aus, weil meiner Mutter bewusst war, dass jedes weitere Wort den Zorn meines Vaters nur noch mehr angefacht hätte.
Als ich bei ihnen ankam, schlug mein Herz wie eine Trommel, so laut, dass sie es hören mussten. Gerade deshalb gab ich mich ungerührt. Ich schämte mich für meinen erbärmlichen Aufzug. Für das mindestens zwei Nummern zu große Kleid, das meine Mutter extra so genäht hatte, damit ich es länger tragen konnte, und das mir jetzt am Körper klebte. Für meine in den Holzpantinen schmatzenden Füße. Ich hatte Bauchschmerzen. Übelkeit und Schwindel verlangsamten meine Schritte und vernebelten mir den Blick. In meinem Kopf summte es wie in einem Bienenkorb.
Ich blieb kurz stehen, um sie anzuschauen - erst meine Mutter, dann meine Großmutter.
Meine Mutter sprach kein Wort, die Galle lief ihr sichtlich über, und trotzdem kam kein Laut von ihr.
Nonna Antonietta beugte sich zu mir, als wollte sie mich ohrfeigen, doch ihre rundliche Hand blieb in der Luft hängen.
Denn genau in dem Moment entdeckte sie das seltsame Leuchten in meinen pechschwarzen Augen, wie sie mir später erklären sollte.
»Du bist kalt wie eine Eidechse«, hob sie an. Ihre Stimme war kaum mehr als ein leises Krächzen. »Schlimmer noch, blutlos wie ein Tintenfisch. Du bist eine Malacarne, durch und durch verdorben, ein Teufelsbraten!« Sie fühlte sich bemüßigt, das Schimpfwort zu wiederholen, wobei sie beim zweiten Mal eher zu sich selbst sprach.
Meine Mutter nickte, als wäre ihr der Gedanke auch schon gekommen, nur dass ihr bisher der Mut gefehlt hatte, ihn auszusprechen.
»Maladeren!«, flüsterte sie nur, als ich beschloss, unter ihren Armen durchzuschlüpfen.
Auf einmal war mir, als müsste mir das Herz in der Brust zerspringen, es war, als schlüge es an vielen Stellen gleichzeitig. Ich spürte, dass die Küche anders war als bei meinem Weggang, dass sie zusehends kleiner wurde und drauf und dran war, mich restlos zu zermalmen. Mein Vater und meine Brüder Giuseppe und Vincenzo aßen ihre Nudeln mit Bohnen, reichlich Käse war darüber gestreut. Nur Giuseppe drehte sich zu mir. »Oha«, sagte er. »Da bist du ja wieder.«
Noch heute denke ich, dass Giuseppe immer schon der Beste von uns gewesen ist. Er war damals sechzehn und...
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