Doch dann verschwand das Geräusch wieder. Aala'na hörte nur noch das Rauschen des Windes, der in starken Böen um die Baracke wehte. Aber sie war sicher, sich das Geräusch nicht nur eingebildet zu haben. Immerhin hatte es sie aus ihrem Albtraum gerissen.
Sie schlug die Decke zurück, schwang ihre Beine aus dem Bett und richtete sich auf. War ihr Vater, der im Nebenraum schlief, ebenfalls erwacht? Aala'na lauschte, konnte sein charakteristisches Schnarchen aber nicht vernehmen.
Die Mendritin strich ihren Anzug aus bionetischem Material glatt, den sie auch im Bett trug. Die lebendige Masse ohne eigenes Bewusstsein ließ sich durch ihre leichten telepathischen Kräfte in jede beliebige Form bringen.
Aala'na sah sich im Zimmer um. Die wenigen Möbel bestanden ebenfalls aus bionetischem Baustoff, ebenso die Wände und die Decke der Baracke, in der sie und ihr menschlicher Vater seit einiger Zeit zusammen mit weiteren Flüchtlingen aus Sub'Sisco lebte.
Rund ein Dutzend dieser containerartigen Behausungen hatten die Mendriten hier auf dem Flugfeld des ehemaligen International Airport von Sisco South für die Bedürftigen erbaut, die nicht mehr im großen Terminalgebäude untergebracht werden konnten.
Vor gar nicht allzu langer Zeit war die Oase der Hundert - so wurde das ehemalige Flughafen-Areal genannt - noch tabu für Außenstehende gewesen. Der reiche Waffennarr Caal Heyston hatte die Anlage zu einer Enklave für Wohlhabende ausgebaut, in der er sie gegen fürstliche Bezahlung wohnen ließ, mit allen Annehmlichkeiten versorgte und vor den brutalen Straßengangs beschützte, die Sisco South unsicher machten. Dazu hatte er einen schlagkräftigen Trupp Soldaten um sich gesammelt, die der Leitung von General Suzi Quinn unterstanden.
Aala'na gähnte, streckte sich und ging zu dem kleinen Schreibtisch hinüber. Sie öffnete eine der Schubladen und nahm die Taschenlampe heraus.
Es kam immer wieder vor, dass ihr schwerkranker Vater in der Nacht nach ihr rief. Deswegen griff sie auch gleich zu dem Tiegel mit zerriebener Birkenrinde in derselben Lade. Falls ihr alter Herr tatsächlich wach war, konnte sie gleich eine Dosis des Schmerzmittels in Wasser auflösen und ihm einflößen.
Als sie das Nebenzimmer betrat, funkelten ihr schon die schelmischen dunklen Augen ihres Vaters entgegen. Er hatte sich in seinem Bett aufgesetzt und stützte mit dem Kopfkissen seinen Rücken gegen die Barackenwand ab.
»Du hast es auch gehört, oder?«, flüsterte er, während Aala'na sich zu ihm auf die Matratze setzte und eine mit Wasser gefüllte Karaffe und ein Glas unter dem Bett hervorzog.
»Ja, dieses Knarren und das Rauschen«, sagte sie leise und gähnte erneut. Den Albtraum erwähnte sie nicht. »Aber nun scheint es fort zu sein.« Sie schüttete etwas Birkenrindenpulver in das Glas, füllte mit Wasser auf und reichte es ihrem Vater.
Der nahm es und trank es in einem Zug leer. »Danke, Liebes«, seufzte er. »Die Schmerzen sind heute Nacht wieder besonders schlimm.« Er wackelte mit dem Kopf. »Als läge etwas in der Luft.«
Aala'nas Vater hatte Probleme mit den Gelenken. Ständig waren sie entzündet und jede Bewegung tat ihm weh. Die feuchte Luft, die vom nahen Meer herüberwehte, machte es nicht besser. Als sie noch in der Innenstadt von Sisco South gelebt hatten, war das Klima besser für seine Krankheit gewesen.
Er gab Aala'na das Glas zurück und lehnte sich wieder an. »Wäre ich ein Mendrit wie deine Mutter und du, würden mir diese Schmerzen sicher erspart bleiben. Die hydritischen Gene sind so gut wie immun gegen jede Art von Entzündungen und Infektionen.« Er schloss die Augen. »Du solltest dankbar sein, dass dich die Gicht nie plagen wird.«
Aala'na zuckte mit den Achseln. »Mag sein. Dafür gibt es. andere Probleme.«
Die gab es in der Tat. Mendriten als Hybridwesen aus Hydriten und Menschen hatten einen schweren Stand bei beiden Spezies. Optimisten pflegten zu sagen, dass sie das Beste aus beiden Welten in sich vereinten - aber stimmte das auch?
Diese Frage hatte sich Aala'na immer wieder gestellt, aber noch keine Antwort darauf gefunden. Schon gar nicht, wenn sie an die Situationen dachte, die ihr ihre Albträume bescherten.
Mehr als einmal war sie mit Straßengangs aneinandergeraten, die sie beschimpft und bedrängt hatten. Wenn es gar nicht anders ging, wehrte sie sich mit ihrem bionetischen Anzug, der blitzschnell Tentakel ausbilden und damit zuschlagen konnte. Aber die Angst blieb.
Zum Glück war sie hier vor solchen Übergriffen sicher. Der Flughafen wurde weiterhin bewacht, auch wenn sich die Gefahr eines Gangangriffs mit dem Tod von deren Anführer Chichitoo praktisch erledigt hatte. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man sogar, dass Caal Heyston gemeinsame Sache mit Chichitoo gemacht hatte, um sich der Flüchtlinge aus Sub'Sisco noch während des Trecks aus der versunkenen Stadt hierher zu entledigen.
Auch auf dem Flughafen hatte es einen Anschlag gegeben, indem alte, zu Notunterkünften umfunktionierte Hangars durch gezielt angebrachte Sprengladungen zum Einsturz gebracht werden sollten. Die Mendriten hatten durch blitzschnell umgeformtes bionetisches Material eine Katastrophe verhindert und die einstürzenden Hallendächer stabilisiert.1)
Aala'na weinte Heyston, der bald darauf selbst einem Attentat zum Opfer gefallen war, keine Träne nach. Unter der Leitung von Miki Takeo, General Suzi Quinn und Brina ging es allen alten und neuen Einwohnern in der Oase der Hundert den Umständen entsprechend gut. So gut es einem in einer sterbenden Welt, die vom einem auf sie herabstürzenden Mond bedroht wurde, eben gehen konnte.
Ihr Vater sah Aala'na lange nachdenklich an. »Wir wussten, auf was wir uns einließen, als wir ein Kind bekamen - deine Mutter und ich«, sagte er leise. »Wir wussten, dass du es nicht leicht haben würdest. Aber wir hatten gehofft, dass du in eine Welt hineinwachsen würdest, die toleranter und sicherer wäre als die, die wir damals kannten.« Er seufzte laut. »Tut mir leid, dass es nicht so gekommen ist.«
Es tat Aala'na in der Seele weh, ihren kranken Vater auch noch mit einem derart schlechten Gewissen zu sehen. »Ach Dad«, seufzte nun auch sie und beugte sich vor, um ihn in die Arme zu nehmen. »Wir machen doch immer das Beste aus allem. Und so wird es auch bleiben.«
Während sie sich umklammerten, frischte draußen der Wind wieder auf. Aala'na hörte das Rascheln von Laub, das sich auf dem brüchigen Asphalt der Landbahn hin und her bewegte. Dann, nur Sekunden später, knallte etwas mit brachialer Wucht auf das Dach der Baracke.
Die Mendritin schrie auf, ihr Blick ging zur Decke. Die bionetische Schicht beulte sich wie unter einem ungeheuren Gewicht nach unten! Das Kratzen, das sie in ihrem Traum gehört hatte, war zurück.
»Was passiert da?«, keuchte ihr Vater.
Überall in der Baracke erklangen nun Schreie. Auf den Fluren gingen die Lichter an.
Aala'na starrte weiter zur Decke. Dann wurde sie sich ihrer Fähigkeiten bewusst. Sie berührte die Wand neben dem Bett und sandte den mentalen Befehl an das Material, sich an dieser Stelle zu verstärken. Aala'nas Vater stand mühsam auf und warf einen abgetragenen Mantel über.
Der lebendige Baustoff verhärtete sich und zog Material aus nicht tragenden Bereichen ab. Doch die Kratzgeräusche rissen nicht ab. Irgendetwas war dort oben, das sich seinen Weg in die Baracke bahnen wollte! Das musste sie verhindern!
Aala'na gab einen weiteren Umformungsbefehl an den bionetischen Baustoff: das Flachdach mit spitzen Stacheln zu versehen, um den Eindringling abzuwehren. Im nächsten Augenblick erklang über ihnen ein durchdringendes Kreischen.
Das Geräusch fuhr Aala'na durch Mark und Bein. So etwas hatte sie noch nie gehört. Das waren nicht nur ein paar Taratzen, die es durch die Absperrungen geschafft hatten und hier nach Beute suchten. Dieser Laut wies auf etwas weit Größeres hin!
Eine Erschütterung durchlief das gesamte Gebäude. Das Geräusch des Kratzens wich einem Reißen.
Zeitgleich durchzuckte Aala'na der Widerhall eines schrecklichen Schmerzes. Sie stöhnte auf und ging in die Knie. Das bionetische Material! Es wurde zerstört und verletzt! Zwar besaß es kein eigenes Bewusstsein mehr, aber es war immer noch rudimentär empfindungsfähig.
Was geschieht hier?
Die Tür zu der kleinen Wohnung aus zwei Zimmern wurde aufgerissen. Im Rahmen tauchte eine ältere Mendritin auf: Shika'sa. Sie hatte einen der letzten Trecks aus Sub'Sisco begleitet. »Herman! Versteck dich unter dem Bett!«, rief sie Aala'nas Vater zu. »Aala'na, komm mit mir nach draußen!«
Das Material krümmte sich nun auch an anderen Stellen. Plötzlich begannen die Wände zu wackeln - und dann wurde die Decke des Zimmers weggerissen!
Mit einem gewaltigen Ruck löste sich eine Platte aus bionetischem Material und wurde fortgeschleudert. Laub und Staub wirbelten wie unter dem Atem eines Riesen und trübten die Sicht. Doch gleichzeitig endeten die Erschütterungen.
Aala'na richtete den Strahl ihrer Taschenlampe nach oben. Neben ihr duckten sich Shika'sa und ihr Vater. Die Mendritin hatte sich über Herman geworfen, beschützte ihn mit ihrem Körper und einer bionetischen Hülle, die sie wie ein kleines Zelt über ihnen beiden aufgespannt hatte.
Der Strahl der Taschenlampe verlor sich im Nachthimmel. Doch da - weit oben war etwas zu erkennen. Ein gewaltiger geflügelter Schatten, unter dem ein unförmiges Ding...