Schweitzer Fachinformationen
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Die Dunkelheit und Jakob Grünberg würden keine Freunde mehr werden. Das war schon immer so gewesen. Sie gaukelte ihm Dinge vor, die es nicht gab: Fahrradfahrer und Kühe auf dem Standstreifen, eine Dampflokomotive, die sich als Kastenwagen entpuppte.
Immer länger werdende Schatten verschmolzen mit dem Einheitsgrau des Straßenbelags. Er musste bald eine Pause einlegen. Seine Augen begannen zu tränen.
Viel zu spät war er losgekommen, hatte sich nur schwer verabschieden können: von dem nicht länger benutzten Stallanbau, dem windschiefen Häuschen, dem inzwischen überwucherten Garten. Von dem Briefkasten und dem löchrigen Zaun, von den in der Sonne tschilpenden Vögeln und von dem Baum weiter hinten, unter dem er Gustav verstreut hatte. Doch noch eine Nacht zu bleiben, nur geduldeter Besucher im eigenen Zuhause - das hatte er nicht gekonnt.
Ein Glück, dass es Bienchen gab. All die Jahre, in denen er sie gehegt und gepflegt hatte, war er nie auf die Idee gekommen, dass ausgerechnet sie ihn einmal begleiten würde. Anfangs hatte er den alten VW-Bus nur deshalb so gut in Schuss gehalten, weil er dachte, eines Tages würde der Besitzer zurückkommen. Irgendwann dann war das Schrauben zu einer lieben Gewohnheit geworden. Der leere Stall hatte neben diversen vierbeinigen Streunern auch Bienchen eine gemütliche Unterkunft geboten.
Jakob rüttelte an der Verstellung seines Sitzes, beugte sich weiter in Richtung Windschutzscheibe und drosselte das Tempo. Wütend hupende Lkws donnerten vorbei und scherten gefährlich nahe vor ihm wieder ein.
Seufzend massierte er sein Knie - das linke, das manchmal ohne Vorwarnung einrastete, aber die Kupplung betätigen musste. Wäre alles nach Plan verlaufen, säße er längst gemütlich bei einer Tasse löslichem Kaffee auf dem Campingplatz. Doch Straßenarbeiten und absurde Umleitungen hatten seinen genau getakteten Zeitplan torpediert.
Jakob vertraute keinem Navigationsgerät. Die Straßenkarten hatten schon seinem Großvater Gustav treue Dienste geleistet und waren mit Symbolen und Abkürzungen übersät, die inzwischen nur Jakob noch zu enträtseln wusste. Genauso sollte es sein.
»Meiden Sie Fahrten im Dunkeln«, hatte ihm der Augenarzt empfohlen, nachdem sich Jakob einem nicht ganz freiwilligen Sehtest zum Erhalt seiner Fahrtauglichkeit unterzogen hatte. Ob der Doktor geahnt hatte, dass Jakob seine kurze Abwesenheit dazu genutzt hatte, Buchstaben- und Ziffernfolgen an der Wand auswendig zu lernen? Jakobs Gedächtnis funktionierte noch immer, ohne zu stottern. Sehen konnte er nicht mehr ganz so gut wie früher. Doch davon durfte er sich nicht einschränken lassen. Nichts wurde so schnell kleiner wie die Freiheit. Sie war anfälliger für Verschleiß als der eigene Körper.
Das Blinken am Rand seines Gesichtsfelds verbuchte er zunächst als optische Täuschung. Noch rund einhundertzwanzig Kilometer bis zur ersten geplanten Übernachtung. Doch das Signal blieb hartnäckig, und schließlich musste er sich eingestehen, dass der Tank leer war. Noch mehr Verzögerung! Seine Laune sank weiter.
Wenigstens war die nächste Raststätte gut ausgeleuchtet, die Zapfsäulen waren frei. Jakob konzentrierte sich auf die Tankpistole in seiner Hand, wollte das Walzen der Preisanzeige nicht sehen. Was für ein verbrecherischer einarmiger Bandit!
Die Dame hinter der Kasse zwitscherte wie ein Kanarienvogel auf Helium: »Hallihallo und guten Abend, Sie waren an der zwei, richtig? Haben Sie eine Bonuskarte?«
»Ja. Nein.«
Sie blinzelte überrascht, violetter Lidschatten in den netten Lachfältchen verklumpt, ein Fingerbreit Scheitelgrau strafte das Feuerrot ihrer Haare Lügen. Alles an ihr wirkte, als verlöre sie den Kampf gegen eine Müdigkeit, die nicht nur mit zu häufigen Abendschichten zu tun hatte. Sah man genauer hin, wirkte selbst ihr Lächeln abgekämpft. »Wie war das nun, ja oder nein?«
Jakob seufzte - nun bekam er auch noch Mitleid. »Ja zur Zapfsäule Nummer zwei, nein zur Bonuskarte. Die ist nur dazu da, um zu überprüfen, zu welcher Uhrzeit ich wofür Geld ausgebe.« Er fächerte ihr den Betrag auf die Geldschale. Wie immer zahlte er bar. »Und bitte fragen Sie mich nicht, ob ich noch etwas zu trinken oder einen Schokoriegel möchte. Möchte ich nicht.«
»Ganz, wie Sie wollen.« Sie zählte akribisch Scheine und Münzen und vermied es, Jakob in die Augen zu sehen.
Er wartete. Unterdrückte ein nervöses Tappen mit den Fingern, schluckte. »Das heißt«, murmelte er dann so plötzlich, dass er sie damit ebenso überraschte wie sich selbst, »vielleicht doch noch etwas Süßes für die Weiterfahrt?« Umständlich fischte er weitere Münzen aus der Hosentasche und begutachtete die vor ihm aufgereihten, bunten Schokoriegel. Die meisten hatten englische Namen und sahen nach Plombenziehern aus. Jakob fuhr sich nervös mit der Hand über die Glatze. Das hatte er jetzt davon, nett sein zu wollen.
»Nehmen Sie den da.« Freundlich hielt ihm die Dame ein senfgelbes Viereck entgegen. »Vollkorn und zuckerreduziert.«
Vollkorn und zuckerreduziert? Ja, sah er etwa derart cholesteringeschüttelt und klapprig aus? Jakob unterdrückte heldenhaft jeden weiteren Kommentar. Nicht, dass er sich anschließend auch noch bemüßigt fühlte, eine der labbrigen, überteuerten belegten Vollkornschrippen zu bestellen, nur um das nächste schlechte Gewissen wettzumachen! Knapp nickte er, zahlte, ließ das Hasenfutter auf Nimmerwiedersehen in seine Jackentasche gleiten und wandte sich zum Gehen.
Eine lange Gestalt im Parka trat ihm aus Richtung der Kaffeeautomaten in den Weg. Auf dem Rücken hatte der Typ einen alten Armeerucksack - warum jemand so etwas freiwillig trug, war Jakob ein Rätsel.
Er streckte sich. Wenn er wollte, konnte er noch immer wuchtig aussehen. Wie jemand, mit dem man sich besser nicht anlegte. Zumindest bis man ihn näher in Augenschein nahm und begriff: Arthrose, Gicht . Das Alter machte ihn kaum mehr zu einer ernsthaften Bedrohung. Jakob vermied es, dem anderen ins Gesicht zu blicken. Nur noch fünfzehn Meter und er wäre sicher zurück bei Bienchen.
Doch der Lulatsch war schneller: »Fahren Sie zufällig in Richtung Süden und haben noch einen Platz frei?« Die Stimme war überraschend leise, bittend und furchtbar jung.
Nun sah Jakob doch auf. Die Bohnenstange konnte nicht älter sein als achtzehn, vielleicht auch sechzehn. Kinder und Jugendliche hatte er nie richtig einschätzen können, auch nicht, als er im selben Alter gewesen war. Nicht einmal, als die Farbe des Halstuchs darüber Aufschluss gegeben hatte, in welche Klasse jemand ging.
Doch egal, wie hoffnungsvoll der Junge ihn ansah, die Kapuze von den zerzausten roten Locken schob und sich an einem Lächeln versuchte - das Letzte, was Jakob brauchte, war Begleitung. Er musste seine Gedanken ordnen, verdammt noch mal eine Entscheidung treffen! Er drehte sich weg. »Nein. Und jetzt entschuldige mich.«
Als er den Autoschlüssel ins Schloss steckte, zitterten seine Finger. Noch über Hundert Kilometer, der Großteil über Landstraßen. Ruckelnd ließ er die Kupplung kommen und bog um den flachen Anbau der Tankstelle. Vielleicht sollte er hier eine kleine Pause einlegen, sich ausruhen und bei Sonnenaufgang weiterfahren? Zögernd hielt Jakob auf dem kaum belegten Lkw-Parkplatz hinter dem Gebäude. Vor ihm erstreckte sich eine Reihe knorriger Büsche bis zur Umzäunung. Ja, das konnte funktionieren. Nur ein paar Stunden die Augen schließen. Er klappte die Bank aus, gab dem alten Federkissen drei gezielte Stöße, rollte ordentlich die Strümpfe zusammen und schob sie unter die Matratze. Dann überprüfte er, dass alle Türen versperrt waren, schlüpfte in Pyjama und Schlafsocken und streckte sich unter der zurechtgeschüttelten Decke aus.
Die regelmäßig vorbeirasenden Autos nur wenig entfernt beruhigten ihn. Irgendwoher kam ein leises Brummeln, vermutlich ein nachtaktives Tier, das dort draußen herumstreunte .
Gefühlte Sekunden später riss ihn ein tiefes Dröhnen aus dem Schlaf. Es vibrierte so bösartig durch seine Brust, dass er eine flache Hand erschrocken gegen sein Herz drückte. Es schlug. Noch immer und regelmäßig. Das war die gute Nachricht.
Dann allerdings kehrte das Tuten zurück. In aggressiven Intervallen, die keinem Rhythmus folgten. Schranktüren klapperten, der Tauchsieder klirrte gegen das Glasgefäß, etwas fauchte wütend, und Licht fiel durch die Nähwirk-Gardinen. Wie spät war es eigentlich, und was zur Hölle sollte der Lärm?
Das Hupen schwoll an. Fluchend rappelte sich Jakob auf und spähte durchs Fenster. Draußen war es stockdunkel. Nur die vier auf ihn gerichteten Scheinwerfer waren gleißend hell. Die Deppen hatten das Fernlicht angestellt, na vielen Dank! Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen, als er sich abwandte und blind nach dem Griff der Schiebetür tastete.
Erst als er auf den Teerbelag trat, begriff er, dass er vergessen hatte, in die Schuhe zu schlüpfen. In Pyjama und Schlafsocken stand er im Spotlicht auf dem Parkplatz. Die dazugehörigen Lkw-Fahrer hofften offenbar, ihn mit ihrem Dauerhupen zu vaporisieren.
Langsam und deutlich hob Jakob die rechte Hand und klappte den Mittelfinger aus. Das half. Das Hupen hörte auf.
Eine Tür quietschte, dann eine zweite. Zwei Gestalten traten auf ihn zu. Massig und wütend sahen sie aus, als fackelten sie nicht lange.
»Alter!«, brüllte der eine, »du stehst auf unserem Platz! Mach dich vom Acker!«
»Und zwar ein bisschen plötzlich!«, grollte der Zweite und senkte den Schädel zum Angriff.
Vielleicht hätte Jakob den Wagen nicht ohne Unterstützung verlassen sollen. Eine Waffe hatte er nie besessen, schon den Gedanken daran immer gehasst. Aber zumindest ein Stock oder so...
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