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Ein Plädoyer für die Verzauberung der Welt in schwierigen Zeiten Rosa eröffnet uns eine Welt voller Geschichten und niemand erzählt sie so gut wie Björn Vedder:
Maler sahen im Rosa die Fleischwerdung des Geistes. Yves Klein fand in seinem Ultramarineblau den Ausdruck für das Absolute, den Flug auf die andere Seite des Himmels, Rosa verkörperte für ihn die Farbe des Rückflugs.
Madame Pompadour machte die Farbe als Erste zum Symbol selbstbewusster Frauen. Die Modeschöpferin Elsa Schiaparelli erfand das Shocking Pink, Stuart Semple The World's Pinkest Pink. Dichter hüllten Liebespaare in rosa Wolken, um sie vor der Grausamkeit der Welt zu schützen.
Später ging die Farbe vor die Hunde, wurde mit Mamie Eisenhower zur Chiffre konservativer Hausfrauen und spätestens mit Barbie zum Farbpigment des grenzenlosen Plastikkonsums. Die Industrie kennt mittlerweile 129 rosa Farbtöne: Von Bubblegum bis Thulian, von Blush bis Punch, von Lemonade bis Fuchsia, von Amaranth bis Carnation ...Björn Vedder verzaubert in allen Facetten.
»Qu'est-ce que c'est la vie en rose? Es ist der Unwillen, sich im Gegräu des Lebens einzurichten bei gleichzeitig gesteigertem Bewusstsein, seiner Gravitation doch nicht zu entkommen. Es ist eine sentimentale Rakete, mit der wir kurz in den Himmel fliegen, um von dort aus zurückzublicken - nicht auf die Welt, die wir verlassen haben, sondern auf die, die sie hätte sein können. Dieser Abstand wird vielleicht in keinem Bereich unseres Lebens so spürbar wie in der Liebe, die das (immer schon) verlorene Paradies par excellence ist und die uns gleichwohl immer wieder motiviert, erneut zu starten und uns ungeplant und unrasiert - par hasard et pas rasé, wie es in einem Chanson von Serge Gainsbourg heißt - in ein neues Abenteuer zu stürzen.«
BJÖRN VEDDER wurde 1976 in Brakel geboren und hat Literaturwissenschaft und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Bielefeld studiert. 2008 promovierte er über den Schriftsteller, Übersetzer und Bibliothekar Wilhelm Heinse. Vedder schreibt über Kunst, Literatur, und Philosophie, hält Vorträge, moderiert Veranstaltungen und kuratiert Ausstellungen. Seine Essays »Reicher Pöbel«, »Väter der Zukunft« und »Solidarische Körper« erschienen im Büchner-Verlag.
Man lernt Sehen wie eine Sprache. Farben spielen dabei eine besondere Rolle. Denn Farben sehen heißt, die Welt zu interpretieren. Wie ich eine bestimmte Farbe zu sehen und die Welt in ihrem Licht zu verstehen gelernt habe, darum geht es in diesem Essay. Es ist die Farbe Rosa.
Rosa ist heute überall, nicht erst seit Greta Gerwigs Barbie-Film (2023) und der damit verbundenen Modewelle, sondern schon viel länger. Rosafarbene Dinge beherrschen unseren Alltag: Es gibt rosa Kleider und rosa Schuhe, rosa Wände und rosa Kissen, rosa Spielzeug und rosa Möbel, rosa Accessoires und rosa Kosmetik, rosa Geschirr, rosa Drinks und rosa Schokolade, rosa Autos, rosa Busse, rosa Fahrräder, rosa Flugzeuge. Und jeden Tag werden es der rosa Dinge mehr. Denn die Industrie bringt jeden Tag neue rosa Produkte auf den Markt und erfindet fortwährend weitere Rosatöne, um noch mehr rosa Zeug zu verkaufen. Inzwischen ist die Palette auf hundertneunundzwanzig Farben angewachsen - von Pink über Fuchsia und Lachs bis Magenta, von Pfirsich über Koralle und Bubblegum bis Erdbeerrot, von Cotton Candy über Pink Glow und Love Portion bis Tender Touch. Wenngleich jeder Rosaton ein bisschen anders aussieht, vereinten sie sich für mich lange Zeit zu einem Klischee, dem quietschenden Lack einer Hauruck- und Wegwerfgesellschaft, die, mit leichten Variationen, alles rosa färbt, was heiter, oberflächlich schön und niedlich sein sollte - wie die Top-Model-Bürsten meiner Töchter, die Sofakissen meiner Schwester oder das rosa Polohemd meines Kollegen. Die immer gleiche Leier des Süßen, Unbedarft-Heiteren, Fröhlich-Mädchenhaften und Naiv-Glücklichen.
Dieses Vorurteil brach jedoch auf, als ich in Wien eine Frau namens Rosa traf. Ich hatte gerade eine kleine Rede gehalten, um in eine Ausstellung einzuführen, und wollte nur schnell zur Bar, weil mein Mund schon ganz trocken war, als sie mir den Weg versperrte. Sie sah aus wie Campino in einem Barbiekostüm von Vivienne Westwood und war unglaublich charmant und nett und lustig und ganz in Rosa gekleidet. So kamen wir ins Plaudern. Sie war eine Freundin des Malers und selbst auch Künstlerin. Und sie plante eine Ausstellung in Berlin, in der es ausschließlich um die Farbe Rosa gehen sollte - und darum, wie uns ein rosaroter Blick auf die Welt helfen könnte, die allgegenwärtige Krisenstimmung zu meistern. »Rosa sehen statt untergehen!« Den Titel hatte sie aus einer amerikanischen Redewendung übersetzt, die die sprichwörtlich gewordene rosarote Brille mit der modernen Erfolgsideologie verbindet - Pink or Sink! Und sie fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, bei der Eröffnung etwas darüber zu sagen. Ich fand das eine sensationelle Idee, weil es ein überraschendes Licht auf die Farbe warf und weil auch ich den Eindruck hatte, dass uns etwas mehr Heiterkeit und Optimismus guttun könnten. Also stand ich drei Wochen später in einer Pop-up-Galerie am Berliner Hohenzollerndamm und erklärte, »dass es nicht die Krise ist, die uns niederstreckt, sondern unser Verhalten, wenn wir in der Bredouille sind«, und dass wir die Zukunft rosig oder eben heiter-optimistisch sehen müssten, wenn wir den Kopf über Wasser behalten wollten. 1
Das Argument hatte ich vom antiken Arzt Galen, der sich mit Lebenskrisen genauso auskannte wie mit kritischen Situationen bei seinen Patienten und der die Erfahrung gemacht hatte, dass derjenige, der aufgibt, wenn das Leben auf der Kippe steht, schon verloren hat. 2 Galens Lob der Unverdrossenheit verband ich mit der Morgenröte, die viele Menschen gleichfalls optimistisch stimmt, weil sie den Aufgang der Sonne und einen neuen Tag verkündet. Die »rosenfingrige Eos«, singt schon der griechische Dichter Homer, spannt den Himmel auf, damit ihr Bruder Helios den Sonnenwagen darüberführen kann. 3 Und so, wie das Morgenrot einen sonnigen Tag verspricht, sollte die rosarote Unverdrossenheit uns durch die Krise führen. Denn auch wir hatten damals, im Winter 22, das Gefühl, dass unser Leben auf der Kippe stand. Und wir begegneten diesem Gefühl mit einem rauschenden Fest - in rosa Kleidern, mit hundert Kisten Rosé und einer Palette rosa Macarons, die eine Wiener Feinbäckerei ganz frisch geliefert hatte. Alle waren da. Auch Erik, der Maler aus Wien, in einem hinreißenden rosafarbenen Anzug von Tom Ford oder Gucci (wie Ryan Gosling zwei Jahre später bei den Oscars), nur Peter Fox leider nicht, den ich eingeladen hatte, sein Lied Zukunft Pink bei uns zu singen, das damals ein Hit war.
»Alle malen schwarz, ich seh' die Zukunft pink
Wenn du mich fragst, wird alles gut, mein Kind«. 4
Wir waren jedoch auch so in allerbester Stimmung und hörten eben andere Lieder über Rosa, es gibt ja genug - von Édith Piafs weltberühmter Liebesschnulze La vie en rose (1947) und Frank Sinatras Jazz Standard Looking at the World Through Rose Colored Glasses (1962) über Gilbert Bécauds Chanson L'important c'est la rose (1967) und Hildegard Knefs aggressiv-trotziger Selbstbehauptung Für mich soll's rote Rosen regnen (1968) bis zu Aerosmiths witzigem Rocksong Pink (1997): »Yeah, pink, it's like red but not quite«. 5
Als ich den Abend zu Hause noch einmal Revue passieren ließ, fragte ich mich jedoch, ob ich es mir nicht zu einfach gemacht hatte. Pink or Sink, heiter durch die Krise, das war ja schön und gut. Aber Rosa ist nicht nur die Farbe der verheißungsvollen Morgenröte, sondern auch des Abendrots, das den Tag beschließt und das Licht verschwinden lässt. Und oft leuchtet dieser Sonnenuntergang noch viel schöner als der -aufgang. Unser Motto hätte also auch ganz anders lauten können: Rosa sehen und untergehen! Denn vom Himmel her gesprochen, erfasst das Pink or Sink nur die halbe Verkündigung.
Diese Einseitigkeit rückte unsere Haltung in die Nähe der sprichwörtlich gewordenen rosaroten Brille, die im Ruf steht, eine naive, weltfremde Form der Träumerei zu sein, weshalb ihre Träger gemeinhin belächelt werden - außer, sie sind verliebt. Denn der Zustand, in dem der Geliebte in unseren von Amor geblendeten Augen funkelt, als wäre er mit tausend kleinen Kristallen überzogen, scheint eine der wenigen Ausnahmen zu sein, in der wir bereit sind, die rosarote Träumerei zu akzeptierten. 6 Liebende sind eben Verrückte. Amantes amentes, sagten die Römer. 7 Und manchmal ist es ja ganz schön, ein wenig verrückt zu sein - oder jemand, nach dem jemand anderes verrückt ist. Die Hymne dieser rosaroten Verrücktheit ist Piafs La vie en rose. Das Chanson beschreibt, wie die Verliebtheit einen Menschen das ganze Leben heiter und glücklich erscheinen lässt, und hat damit unser Verständnis der rosaroten Brille ganz wesentlich geprägt:
»Quand il me prend dans ses bras
Qu'il me parle tout bas
Je vois la vie en rose«. 8
Auf Deutsch: »Wenn er mich in seine Arme nimmt und sanft mit mir spricht, sehe ich das Leben in Rosa«.
Mich hat die einseitige und leicht abschätzige Auffassung der rosaroten Brille nie überzeugt. Deshalb fand ich es schön, dass die Berliner Ausstellung etwas dagegengesetzt hat, mit guten Argumenten. Denn ich glaube weder, dass Galen verrückt war, noch dass die unzähligen empirischen Untersuchungen über die positiven Effekte einer heiter-optimistischen Weltsicht für das Gelingen unserer Unternehmungen Unrecht haben. Ich glaube aber auch, dass die Lage nicht einfach besser wird, wenn man die Augen schließt und an etwas Schönes denkt. Und ich habe mich gefragt, ob sich nicht ein Verständnis der rosaroten Brille formulieren ließe, das auch die Sonnenuntergänge mit einbegreift und im Sinne der Verkündigung unserer wandernden Sonne vollständiger wäre? Eine rosarote Heiterkeit, die auch ernst ist. Dabei bin ich auf eine bis in die Antike zurückreichende Denktradition gestoßen, die ich hier den Optimismus der Morgenröte nennen möchte.
Das himmlische Rosa ist freilich nur ein Phänomen, das mich la vie en rose anders sehen ließ. Es gibt noch einige mehr. Das auffälligste ist vielleicht das Geschlechterklischee, nach dem Rosa eine Farbe für Mädchen ist. Ich hätte gedacht, dass das heute keine Rolle mehr spielt. Wie fest es jedoch noch immer in den Köpfen sitzt, zeigte nicht zuletzt die Empörung der Fans, als sich der DFB entschied, seine Fußballer bei der Europameisterschaft 2024 mit rosa Auswärtstrikots antreten zu lassen. »Ist das ein Frauen-Trikot?«; »Welche Farbe hat denn der Nagellack?« - Kommentare dieser Art (und auch bösartig homophobe) häuften sich derart, dass sich der Verband gezwungen sah, eine PR-Kampagne für das Trikot zu starten, die zeigen sollte, dass Männer Rosa nicht nur tragen, sondern darin auch siegreich sein können. 9
Dabei war genau das lange Zeit selbstverständlich gewesen. Denn ursprünglich war Rosa eine Farbe für Männer. Schon die Jäger der Jungsteinzeit benutzten Ocker, um ihre Lendenschurze rosa zu färben und »den Pfahle, der dir rot von den Hüften entspringt« (wie Goethe so hübsch sagte), halb zu verdecken und...
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