Schweitzer Fachinformationen
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Kaum kehrt Moira, Übersetzerin und frisch getrennt, nach Jahren in das Tessiner Dörfchen Montagnola zurück, wird ein Toter in einer Nevèra, einem der dort typischen historischen Eiskeller, gefunden. An den polizeilichen Ermittlungen beteiligt ist auch Moiras Jugendliebe Luca Cavadini, inzwischen leitender Rechtsmediziner des Kantons, der sie bald als Dolmetscherin um Hilfe bittet. Die Befragungen in der Dorfgemeinschaft gestalten sich schwierig, doch bald wird klar, dass es im beschaulichen Tessin nicht gar so friedlich zugeht, wie es zunächst den Anschein hat.
Die Haustür war unverschlossen. Moira stieß sie auf und hob ihren Rollkoffer über die Schwelle aus Granit. Im Alter von drei Jahren hatte sie sich daran das Kinn aufgeschlagen, und bis heute spürte sie die Narbe, wenn sie mit den Fingerspitzen darüberfuhr.
In der halbdunklen Diele roch es wie früher: nach angebranntem Kaffee und Pfeifenrauch. Das war der Geruch, den sie immer mit ihrem Vater und den Sommerferien im Tessin verbunden hatte, und er löste eine seltsame Mischung unterschiedlicher Gefühle in ihr aus. Sie war vor etlichen Jahren zum letzten Mal hier gewesen, doch plötzlich war alles wieder ganz nah.
»Papà, ich bin da!« Niemand antwortete, und Moira seufzte. Ihr Vater war wohl inzwischen ein wenig schwerhörig. Dann ließ sie vor Schreck fast ihren Koffer fallen: Durch die Tür zum Korridor schoss ein pelziger roter Blitz, stürzte sich auf ihre Beine und schlug seine Krallen in ihre Jeans. Moira musste lachen.
»Na, wer bist du denn?« Sie bückte sich und streichelte das Fellknäuel. Die Katze fauchte und krallte erneut nach ihr. Moira zog schleunigst ihre Hand zurück.
»Schon gut, wir lernen uns sicher noch besser kennen.«
Die Katze maunzte und starrte sie mit kieselgrauen Augen an, dann löste sie sich von ihrem Fuß und sauste unter den Dielenschrank. Moira ließ ihren Koffer stehen und ging durch den breiten, mit alten Fliesen ausgelegten Flur in die Küche. Hier war das Herz des Hauses. Auf dem großen Holztisch in der Mitte des Raumes lag ein Sammelsurium verschiedenster Dinge: aufgeschlagene Zeitschriften, mehrere Pfeifen, benutzte Weingläser und Kaffeetassen, ungeöffnete Briefe sowie drei bedenklich hohe Bücherstapel. Auf dem Gasherd stand ein Pastatopf, aus dem es nicht gerade gut roch, und in der Spüle türmten sich benutzte Teller. Nur von Moiras Vater war nichts zu sehen. Sie rief erneut nach ihm, aber auch dieses Mal antwortete ihr niemand. Die Stille war bleiern, und Moira begann, sich Sorgen zu machen. Schließlich hatte ihr Vater erst vor Kurzem einen leichten Schlaganfall erlitten.
Unter dem Tisch kam eine weitere Katze hervor - groß und schwarz - und huschte lautlos in den Flur. Moira folgte ihr ins Wohnzimmer, das gegenüber der Küche lag, halb darauf gefasst, ihren Vater tot auf dem Boden liegend aufzufinden. Wenn dem so sein sollte, hoffte sie inständig, dass die Katzen ihn nicht angefressen hatten. Doch zum Glück befand sich dort nur die schwarze Katze, die auf einen Sessel sprang, sich dreimal um sich selbst drehte und hinlegte. Dann entdeckte Moira auf dem Sofa eine weitere, grau getigerte Katze, die zusammengerollt auf einem sehr haarigen Kissen schlief. Sie öffnete nur kurz ein jadegrünes Auge und nahm ansonsten keine Notiz von ihr. Wie viele Katzen besaß ihr Vater eigentlich?
Moira sah sich kurz um, in der Hoffnung, einen Hinweis auf den Verbleib ihres Erzeugers zu finden. Es gab eine Unmenge von Büchern, die in den Wandregalen keinen Platz mehr gefunden hatten, sich auf dem Boden wie Stalagmiten auftürmten und die beiden dunkelblauen Samtsofas - deren Farbe unter einer Schicht von Katzenhaaren verblasst wirkte - in eine Art von Büchermauern umgebene Festung verwandelten. Zwischen den dunkel gebeizten Deckenbalken hingen graue Spinnweben. Moira nahm sich vor, ihrem Vater eine Putzfrau zu besorgen, ob er wollte oder nicht.
Als Nächstes sah sie im Arbeitszimmer an der Rückseite des Hauses nach, aber auch dort war er nicht. Allerdings hätte man ihn hinter den Stapeln deutscher Klassiker und Fachbücher über Literaturwissenschaft auch übersehen können. Es lag kein Staub auf den Werken, was bewies, dass Ambrogio Rusconi seinen Ruhestand keinesfalls untätig verbrachte. Moira fragte sich, ob ihm seine Arbeit als Literaturprofessor fehlte. Sie wusste so wenig über ihn.
Sie war acht gewesen, als sich ihre Eltern getrennt hatten und ihre Mutter mit ihr zurück nach Deutschland gezogen war. Später hatte Moira bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr einen Teil der Sommerferien im Tessin verbracht, doch damals hatte sie andere Interessen gehabt als das Innenleben ihres Vaters. Und dann war sie so sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt gewesen, dass nach und nach die Verbindung zwischen ihnen abgebröckelt war, bis sie nur noch aus kurzen, oberflächlichen Telefonaten zu Weihnachten und Geburtstagen bestand. Alle paar Jahre sahen sie sich für ein Wochenende, immer in einem Hotel auf halber Strecke zwischen Frankfurt und Lugano. Und so wäre es weitergegangen, hätte nicht zwei Wochen zuvor Ambrogios Nachbarin sie kontaktiert und ihr von dem Schlaganfall erzählt. Ihr Vater selbst hatte das nicht für nötig befunden. Moira hatte ihn sofort angerufen und war erleichtert gewesen, dass er klang wie immer.
»Ich komme bestens zurecht, mach dir keine Sorgen.«
Natürlich hatte Moira sich Sorgen gemacht. Und ihre Mutter zurate gezogen.
»Also, mein Problem ist das nicht!«, hatte Nelly ausgerufen. »Wir sind seit über dreißig Jahren geschieden, da kann wohl niemand erwarten, dass ich mich zuständig fühle!«
Moira hatte unterlassen, sie darauf hinzuweisen, dass niemand etwas Derartiges von ihr verlangt hatte. Ihre Mutter neigte zu dramatischen Auftritten, was in dem Buchladen, in dem sie arbeitete, des Öfteren zu denkwürdigen Szenen führte. Gerne spielte sie Rat suchenden Kunden die Handlung der Romane szenisch vor, oder sie pflückte den verdutzten Leuten ihre ausgewählten Bücher aus den Händen und verfügte, was sie stattdessen lesen sollten. Da der Buchladen noch nicht pleitegegangen war, vermutete Moira, dass die Kundschaft Nellys bestimmende Art mehr schätzte, als sie es tat.
»Du kannst doch von überall aus arbeiten, willst du nicht in die Schweiz fahren und nach ihm sehen?«, hatte Nelly gesagt. Und sie hatte recht. Als freiberufliche Übersetzerin war Moira mobil, und außerdem war ihr gar nicht unrecht, eine Zeit lang aus Frankfurt zu verschwinden. Vor einem halben Jahr hatte sie sich von Martin getrennt, und schon ein paar Wochen danach hatte er überall seine neue Freundin präsentiert. Es war geradezu unmöglich, den beiden in Frankfurt nicht über den Weg zu laufen. Auch wenn Moira die Beziehung beendet hatte, tat es weh, so schnell ersetzt zu werden.
Die Vorstellung, sich in sichere Entfernung in ein winziges Dorf oberhalb des Luganer Sees zu begeben, erschien daher durchaus verlockend. Außerdem hatte Moira ein schlechtes Gewissen, weil sie sich in den letzten Jahren kaum um ihren Vater gekümmert hatte. Deshalb hatte sie ihrer Mutter zugestimmt, was sie eigentlich mit einer Flasche Champagner hätten feiern müssen, so selten kam das vor.
»Aber wer kümmert sich um Luna, während ich weg bin?«
»Sie bleibt natürlich bei mir«, hatte Nelly gesagt.
»Ich weiß nicht. Ich habe kein gutes Gefühl dabei, sie einfach hierzulassen. Die Trennung war hart für sie, auch wenn sie sich nichts anmerken lässt.«
»Dann kann sie ein bisschen Ablenkung umso besser gebrauchen! Sie ist doch sowieso ständig hier, und wir müssen unbedingt Fotos für unseren neuen Instagram-Account knipsen. Oma und Enkelin rocken das gleiche Outfit - unsere Follower lieben das Konzept!« Sie fuhr sich mit großer Geste durchs Haar, und Moira musste lachen.
»Also gut. Wenn Luna möchte, habe ich nichts dagegen.«
»Wir werden wunderbar zurechtkommen.«
Moira schrieb Luna eine Nachricht auf dem Telefon und erhielt sofort Antwort in Form einer ganzen Reihe von Emojis, die aus verschiedenen Herzchen, Smileys, Feuerwerk und einer Tänzerin bestanden.
»Ich schätze, Luna ist einverstanden. Ich bleibe ja auch nur ein paar Wochen, bis papà wieder alleine zurechtkommt.«
Und so hatte Moira ihren Koffer und ihren Laptop gepackt und sich in den Zug nach Süden gesetzt, im Magen ein Gefühl aus Vorfreude, ihren Vater und das große alte Haus wiederzusehen, und der Angst, ihn als Pflegefall anzutreffen, auch wenn er am Telefon das Gegenteil behauptet hatte.
Moira blieb einen Augenblick am Fenster des Arbeitszimmers stehen und genoss den Blick über den großen Garten mit seinen Magnolien- und Mandelbäumen, die in voller Blüte standen. Am anderen Ende des Grundstücks befanden sich die Bienenstöcke - das Hobby ihres Vaters - und rechts davon das kleine Gästehaus, in dem sie als Kind gerne gespielt und so getan hatte, als lebte sie ganz alleine in der Wildnis. Es sah ein bisschen verfallener aus als früher, zog sie aber immer noch magisch an, so gemütlich wirkte es.
Später würde sie nachsehen, ob es bewohnbar war, doch zuerst musste sie ihren Vater finden. Auch in den anderen Räumen des Erdgeschosses traf sie ihn nicht an. Mit einem unguten Gefühl stieg Moira die Steintreppe hinauf in den ersten Stock. Durch die verglaste Gartenseite des Korridors fiel helles Licht herein. Hier war immer Moiras Lieblingsplatz gewesen, und tatsächlich gab es noch das alte Ledersofa an der Wand, auf dem sie unzählige Stunden in Bücher vertieft verbracht hatte. Auf dem Dielenboden lagen bunte Flickenteppiche, und an den Wänden hingen Aquarelle von Tessiner Landschaften, die vor vielen Jahren Moiras Mutter gemalt hatte. Moira kam sich wie eine Einbrecherin vor, als sie in das Schlafzimmer ihres Vaters spähte. Das Bettzeug war zerwühlt, und auf einem Sessel türmten sich diverse Kleidungsstücke. Auf dem Boden darunter lag ein Wäscheberg, in dem sich eine weitere Katze aalte, grau mit leuchtend grünen Augen.
»Du bist aber eine Schöne«, sagte Moira. Obwohl sie sich zunehmend Sorgen machte, kniete sie sich hin und kraulte die Katze hinter den Ohren. Die rollte sich auf den Rücken und streckte die...
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