Schweitzer Fachinformationen
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Der erste Atemhauch
Geräusche bahnten sich aus der Ferne ihren Weg in die dämmrige Stille seines Kopfes. Er konnte den eigenen Atem spüren, nahm war, wie die Luft stoßweise durch die Nase in den Körper ein- und ausströmte. Ein rötlicher Schimmer drang durch die gesenkten Lider, bis er schließlich blinzelte und die Umgebung von einem diffusen Licht erhellt wurde. Sein Blick fiel auf den ausgestreckten Arm und die Hand, die sich in etwas Feuchtem festgekrallt hatte. Ein kühler Luftzug strich über seine Haut. Der verschwommene Anblick wich langsam einzelnen Konturen und Formen. Kraftlos hob er den Kopf. Sein ganzer Körper war steif vor Kälte und Schmerz. Verwundert stellte er fest, dass er die Finger in die kühle Erde einer Wiese eingegraben hatte.
Der junge Mann löste sich langsam vom Boden und stand auf. Es knackte, als er sich streckte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Ihm schwindelte, und gepunktete Linien schossen hinter seinen Augenlidern hin und her. Er taumelte ein wenig und musste sich gegen einen großen Steinblock abstützen, der neben ihm lag.
Er nahm sich auf einer Wiese wahr, die hinter ihm an einen Wald grenzte. Bewegungslos stand er da und blickte auf den Morgennebel, der sich am Horizont abzeichnete. Vor ihm lag ein kleiner See. Und während die Bäume und Steine des gegenüberliegenden Ufers in der glatten Wasserfläche gespiegelt wurden, goss die aufgehende Morgensonne langsam satte Farben über das Land.
Plötzlich war da ein Gedanke, mehr eine Ahnung von etwas, was wie hinter einem Stück sanft schimmernder Seide verborgen lag. Vorsichtig wandte er den Kopf, und ihm war, als würde ein feiner Riss durch diese flüssige Wand gezogen werden.
Er schauderte.
Seitlich neben dem Stein stand eine Bank. Eine Frau mit weißen Haaren saß darauf und blickte auf das Wasser.
Der Riss im seidigen Schleier wurde breiter, und mit einem Mal brach er auf.
Die Erinnerungen lagen frei und trafen ihn mit voller Wucht. Sein Herz begann zu rasen, ein unkontrolliertes Zittern erfasste seinen Körper, und eine rasch einsetzende Atemnot löste in ihm das Gefühl aus, gleich ersticken zu müssen. Langsam ließ er sich an dem Stein zu Boden gleiten. Danach schien sein Bewusstsein zu zersplittern, als er noch einmal erlebte, wie ein dunkler Abgrund geöffnet wurde und seine wohlbehütete Welt darin verschwand. Als sich der Staub der Erinnerung aus seinem Geist verflüchtigt hatte, breitete sich hermetische Stille aus.
Stumm und entrückt saß er da, und in all seinem Unvermögen, in all seiner Verwirrung hörte er eine sanfte Stimme.
«Hallo.»
Die Frau mit den weißen Haaren hatte sich ihm zugewandt. Er sah in ihre strahlenden Augen, um kurz darauf wieder auf den See hinauszustarren. Er fixierte einen Punkt, der weder am Horizont noch sonst irgendwo im Außen lag.
Der junge Mann ließ den Kopf in die schmutzigen Hände sinken und sah zu Boden. Neben seinen Schuhen wuchsen Blumen mit kleinen weißen Blüten. Gleichgültig beobachtete er eine Waldameise, die sich vom Weiß einer Blüte abhob wie ein dunkler Fleck.
* * *
Die Wärme der ersten Sonnenstrahlen wanderte über seine blasse Haut, und das frostige Gefühl, das sich tief in seinen Knochen festgesetzt hatte, verdampfte allmählich. Als er wieder aufblickte, war die Sonne schon ein gutes Stück weitergewandert. Verwundert stellte er fest, dass die Frau noch immer auf der Bank saß.
«Wer sind Sie?», fragte er mit brüchiger Stimme.
«Von Zeit zu Zeit laufe ich hier am See entlang», antwortete sie. «Du lagst regungslos auf dem Boden. Ich habe deinen Puls gefühlt. Er war schwach, aber du hast gleichmäßig geatmet.»
«Was ist geschehen?», sagte er mehr zu sich selbst.
«Hm, es scheint, als wäre in dir etwas zusammengebrochen.»
Er sah sie sprachlos an und klappte den Mund auf.
«Ich .», sagte er gedehnt, aber mehr kam nicht aus ihm heraus.
Schon länger hatte er das Gefühl, dass etwas in seinem Leben unwiderruflich schiefgelaufen sei. Alles, was ihm wichtig und wertvoll erschienen war, hatte in den letzten Wochen zusehends an Bedeutung verloren. Er schnappte hastig nach Luft, als er wieder an die letzten Stunden dachte, die allmählich aus dem trüben Wasser des Vergessens auftauchten.
«Warum passiert das ausgerechnet mir?», fragte er mit zittriger Stimme eher sich selbst und dachte bestürzt daran, was jetzt aus all dem werden solle, das er sich in den letzten Jahren so hart aufgebaut hatte.
«Haben dich die letzten Jahre denn erfüllt?» Der Tonfall der Frau wurde bestimmter. «Bist du am Morgen aufgestanden und voller Freude deinen Tätigkeiten nachgegangen und am Abend zufrieden eingeschlafen?»
«Ich habe eine wichtige Arbeit», sagte er, doch weiter wollte er nicht denken, denn die Frau hatte eine äußerst empfindliche Stelle getroffen: seinen Schlaf. «Ich reise viel, treffe interessante Menschen und», er dachte kurz nach, «verdiene viel Geld, sehr viel Geld», der letzte Halbsatz war mehr ein Flüstern.
Die Frau schwieg daraufhin, und mit einem Mal breitete sich in ihm eine diffuse Unruhe aus. Denn trotz all seiner Erfolge, all seinem Geld, das er verdiente, war das Gefühl, dass etwas in seinem Leben fehle, nie von seiner Seite gewichen.
«Was lebe ich bloß für ein Leben!», sagte er in Gedanken versunken wie jemand, der allmählich eine Wahrheit erkannte, aber noch nicht bereit war, sie sich einzugestehen.
Der tiefblaue Himmel spiegelte sich im See, über den ein unmerkliches Säuseln des Windes strich und kleine Wellen an die Ufersteine spülte. Dieses Plätschern wirkte beruhigend auf seinen von Unruhe und Lärm geplagten Geist.
«Was willst du jetzt tun?», fragte die Frau, dabei wandte sie sich ihm zu und sah Milan in die Augen.
«Willst du so weitermachen mit deinem Leben wie bisher», sie zeigte mit einer ausladenden Geste über den See, «mit diesem Leben auf der Suche nach Erfüllung im Außen», sie zog die Hand zurück und presste sie leicht, aber bestimmt auf die Brust, «oder willst du dich auf einen anderen Weg begeben, um deine tieferen Seelenschichten zu erforschen?» Er zuckte leicht zusammen, als sie ihm mit einer scharfen Bestimmtheit die nächste Frage stellte:
«Wer bist du wirklich?»
Ratlos sah er die Frau an. Obwohl er sie nicht kannte, wusste er, dass sie recht hatte. Er war in einem Schattengang gestrandet und fühlte sich wie eingegossen in sein trostloses Leben. In den Schläfen fühlte er den beschleunigten Puls, als er den Eindruck hatte, die Schatten rückten im dunklen Gang noch weiter zusammen.
Was geschieht hier? Ich muss da raus.
Mit einer abrupten Kopfbewegung versuchte er, die freudlose Vorstellung abzuschütteln, und sah zu den raschelnden Blättern des Baumes empor, der in der Nähe des Ufers stand. Die Blätter hatten sich erst aus den Knospen geschält, ihre blässliche Farbe war noch nicht dicht genug, um die Äste zu verbergen, denen sein Blick folgte, bis er oben in der Krone angelangt war. Dabei hallte die Frage in ihm nach: Wer bist du wirklich?
Die Schlichtheit der Frage verärgerte ihn. Als könnte man seine ganze Lebensgeschichte einfach wegwischen, und alles begänne von vorn; wenn das nur so leicht wäre! Aber er musste sich auch eingestehen: Es war eine Frage, die er sich noch nie gestellt hatte.
Wer bin ich?
Sein Blick verweilte in der Baumkrone, und mit einem Mal begannen Gedanken durch seinen Kopf zu ziehen, und aus diesem zusammenhangslosen Wirbel überkam ihn ein Gefühl aus längst vergangenen Zeiten.
Während seines Studiums hatte er mit seinem Freund für ein paar Stunden die Woche in einer Motorradwerkstatt gearbeitet. Mit der Zeit hatten sie längere Motorradtouren unternommen, und dieses Gefühl flammte in ihm auf, das Lebensgefühl der Freiheit, der Grenzenlosigkeit.
Nach dem Studium hatte er zusammen mit seinem Freund Amerika durchqueren wollen, doch kurz davor hatte er diese einmalige Möglichkeit erhalten, in ein Unternehmen einzusteigen mit sehr Erfolg versprechenden Aussichten. Mit dieser Anstellung, so hatte er damals gedacht, könne er jedes Jahr in die USA fahren, um Urlaub zu machen, und an viele andere Orte der Welt. Sein Freund war allein gefahren. Und während er beschrieben hatte, wie herrlich die unberührte Natur des Westens sei, wie er auf den grenzenlosen Horizont zufahre, hatte er im Büro gesessen und seine Karriere, sein neues Leben geplant.
«Ich will frei sein, genau wie damals.» Der freudige Ton seiner Worte ging in der sichtlichen Anstrengung seiner Stimme unter.
«Und wie ist es denn dazu gekommen, dass du wohl lebst, aber weder Freude noch Freiheit in deiner Person zu sehen ist?»
Einen Moment sah er die Frau verblüfft an, dann wandte er den Blick ab und sah starr auf die andere Seite, als könnte er durch das Abwenden des Kopfes unsichtbar werden, um sich der unangenehmen Antwort zu entziehen.
Doch er wusste selber, dass er am äußersten Ende des Astes angekommen war, wo er sich selbst nicht mehr ausweichen konnte. Hörbar atmete er ein.
«Was soll ich denn Ihrer Ansicht nach tun?», fragte er, ohne die Frau anzusehen.
Sie lächelte und lehnte sich an die Bank zurück.
«Bestimmte Dinge sind so wichtig, dass wir sie allein entdecken müssen.»
Verständnislos sah er zu ihr hinüber. Ein Schatten fiel über seine Wangen, und dabei sah er aus wie ein Schuljunge. Ohne eine weitere Bemerkung zog sie eine Tasche aus Leder unter der Bank hervor.
«Wasch dir erst einmal Gesicht und Hände.» Sie löste den Riemen, öffnete sie und nahm eine Wasserflasche heraus.
Unschlüssig beobachtete er die Frau. Eine Weile...
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