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2007 Donezk, Ukraine
Nina sah zu, wie ihr Mann einen Stoß Papiere aus seiner ledernen Aktenmappe fischte und sich im Badezimmer einschloss. Sie hörte Jefim ein Streichholz anreißen und roch bald darauf den süßlichen Rauch von brennendem altem Papier.
Nina hielt ihn nicht davon ab. Wozu auch? Sie hatte es gern ordentlich in ihrem Zimmer. Sie hatte sich selber von allerlei Dingen getrennt. Wenn die Enkelkinder der beiden oder Ninas ehemalige Studenten vorbeischauten, gab sie ihnen jedes Mal Wälzer von Puschkin mit oder seltene Gesteinsbrocken, die sie auf ihren paläontologischen Expeditionen überall in der UdSSR gesammelt hatte. Doch da sich niemand etwas aus den Unterlagen eines im Sterben liegenden Mannes machen würde, konnte er sie ebenso gut verbrennen. Natürlich hätte er sie auch einfach wegwerfen können und so ihrer beider Tochter Vita die Sorge erspart, dass er am Ende noch die Wohnung abfackelte, aber Nina gefiel Jefims plötzliche Neigung zum Dramatischen. In seinen eigenen Augen musste ihm sein Leben immerhin interessant genug erschienen sein.
Es war für sie kein Leichtes mitzuerleben, wie ihr Mann, mit dem sie seit über fünfzig Jahren verheiratet war, zusehends schrumpfte, gebrechlicher und launenhafter wurde. Nachdem er seine Papiere verbrannt hatte, schien es, als hätte er sich aufgegeben. Bald gab es keine selbstständigen Toilettengänge mehr, nur noch den zum Plastikklo mitten im Raum, das er scherzhaft seinen »Thron« getauft hatte. Am schlimmsten war es, wenn er sich aus dem Bett wälzte und mit dieser kläglichen Stimme, die sie nie zuvor bei ihm gehört hatte, »Nicht schlagen!« heulte. Nina war erleichtert, als er sich am Siegestag gefasster zeigte, sodass ihm die Urenkel angemessen gratulieren konnten. Für diese verhätschelte Generation des einundzwanzigsten Jahrhunderts war es wichtig, Jefim als eines Kriegshelden zu gedenken. Bald darauf jedoch baute er wieder ab, bis Nina eines Morgens mit ihrem üblichen »Auf, auf mit Gesang!« erwachte und er nichts erwiderte. Sein Schweigen fühlte sich wie eine Ohrfeige an.
Die nächsten beiden Tage, die mit Vorbereitungen ausgefüllt waren, weinte sie fast ununterbrochen. Die Tränen galten nicht nur Jefim. Sie weinte auch um sich selbst; sie würde die Nächste sein. Mit zweiundachtzig Jahren hatte sie so viel Tod gesehen, dass sie sich wahrscheinlich auf die vermaledeite Sache hätte freuen sollen. Und doch schlüpfte sie zitternd in ihr schwarzes Baumwollkleid, um Abschied von dem Mann zu nehmen, den sie am besten kannte.
Während sie und ihr Sohn Andrey die kleine Prozession anführten, vorbei an der Blumenhändlerin des Donezker Friedhofs mit ihren in der Sonne schimmernden Plastikkränzen, graute es Nina vor dem Rechteck aus versengter Sandsteinerde, das gleich neben Jefim auf sie wartete. Es lag Hunderte Kilometer entfernt von ihren Eltern und ihrer Schwester, die auf einem wunderschön überwucherten Friedhof in Kiew ruhten.
Ninas Haar wurde unter ihrer schwarzen Baskenmütze rasch schweißfeucht. Andrey fächelte ihr mit einem Taschentuch, das er aus Moskau mitgebracht hatte, Luft zu, als sie rechts abbogen zur neuesten Abteilung. Mit ihrem guten Auge sah Nina die Kreuze, die mit ungeläufigen Namen beschrifteten Grabsteine und die vereinzelten Schwarzweißporträts Verstorbener, die zurückstarrten. Sie versuchte, nicht als künftige Nachbarn an sie zu denken.
An der gemeinsamen Grabstelle stützten sich zwei Totengräber auf ihre Schaufeln. Nina setzte sich auf einen Plastikstuhl, und die übrige Gruppe drängte sich um sie herum: Andrey, Vita mit ihrem Mann, drei der Enkel und zwei ehemalige Geologiekollegen Jefims. Es stimmte sie traurig, dass die anderen beiden Enkel zu weit entfernt in Kalifornien lebten und Jefims Nichte, die einzige Überlebende aus der Schulman-Linie, in Deutschland festsaß. Sie wusste aber, dass Jefim es ihnen nicht verübelt hätte. Während alle ihre Blumen auf das Grab legten, malte sie sich aus, wie er einen Witz riss, um die Gruppe aufzuheitern. Ihr ach so alberner Ehemann: wie sehr er ihr fehlen würde.
Sie hatten keinen Rabbi oder Priester bestellt, da Jefim Jude war und wie die meisten ehemaligen Sowjetbürger Atheist. Andrey allerdings, der seinen Christusbart trug, seit er sich trotz ihrer und Jefims Einwänden hatte taufen lassen, sprach dennoch ein Gebet. Nina fand nicht, dass Gott viel für ihre Familie oder sonstwen im Land getan hatte, sagte aber ihrem Sohn zu Gefallen dennoch Amen.
Nach dem Gebet setzte Vita ihre Lesebrille auf und trat vor, um ein Gedicht von Jewtuschenko vorzutragen, das ihr seit ihrer Oberschulzeit ans Herz gewachsen war. Ihre Stimme bebte, als sie zu den Zeilen »Vom eignen Vater, Gesicht gegen Gesicht, wissen wir, alles wissend, nichts« gelangte.
Viel gab es auch nicht zu wissen, wollte Nina ihr sagen. Andererseits hörte auch sie nie auf, sich Fragen über ihren eigenen Vater zu stellen: Er war während des Krieges gestorben, gefolgt von ihrer Mutter, und sie war mit sechzehn Waise geworden.
Nina wollte die Tränen ihrer Tochter fortwischen, als sie auf den Grabstein fielen, eine Platte aus grobkörnigem grauen Granit, den sie zu Ehren von Jefims Laufbahn als Geologe ausgesucht hatten. In ein oder zwei Jahren, sobald sich die Erde gesetzt hatte, würden sie einen schlichten Monolith aus schwarzem Granit mit seinem Namen und den Daten aufstellen. Keine Lorbeerblätter, kein »Verteidiger des Vaterlands« oder, Gott bewahre, ein Sowjetstern wie bei den anderen Veteranen. Er mochte ja den ganzen Krieg hindurch gekämpft haben, vom ersten Tag an bis nach Berlin vier Jahre später, aber der Mann verabscheute alles, was mit Veteranentum zu tun hatte. Schrieb nicht eine einzige Kriegserinnerung auf trotz jahrelangen Nachbohrens sowohl von Andrey wie von Vita. Eine wahrlich beeindruckende Sturheit.
Nach Vitas Vortrag erhob sich Nina von ihrem Stuhl und legte einen Stein, den ihre rechte Hand umklammert hatte, an das Kopfende von Jefims Grab. Es war ein Stück Kalkstein aus dem Steinbruch, an dem sie sich in jenem Sommer mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor das erste Mal begegnet waren.
Zum Leichenschmaus zwängte sich ihre Familie in Vitas Wohnzimmer. Diese Wohnung im achten Stock mitten in Donezk, in die Nina und Jefim nach ihrem Schlaganfall und dem Einsetzen seines Parkinsonzitterns hatten umziehen müssen, bot einen Blick über die Stadt bis hin zu den Schlackenhalden am Horizont.
Als die untergehende Sonne die geblümte Tapete orangerot färbte und der abendliche Luftzug das aufgeheizte Wohnzimmer abkühlte, aßen sie Plinsen, tranken kalten Beerensaft und erzählten einander Geschichten über Jefim.
Wie er sich in Sibirien verirrt und es dann abgetan hatte, als wäre das Überleben allein in der Taiga über mehrere Tage keine große Sache gewesen. Wie er Andrey und Vita, beide noch klein, vor einer irren Stute gerettet hatte, die mit Schaum ums Maul auf sie zugerast kam. Vita erinnerte sich, wie er sie später überdies davor bewahrt hatte, wegen des Verlusts einer Landkarte - diese lächerlichen sowjetischen Karten, die als streng geheim galten - von der Graduiertenschule geworfen zu werden, indem er eine Flasche Cognac mit ihrem Professor leerte. Wie er mit allen und jedem umzugehen wusste, selbst mit den Behörden. Zurückgelehnt auf dem Sofa hörte Nina zu und rätselte, ob ihre Liebe zu Jefim größer gewesen wäre, würde sie ihn nur aus diesen Geschichten kennen.
Nachdem Andrey zurück zu seinem Professorenleben in Moskau geflogen war und Vita wieder arbeiten ging, kam Nina die Wohnung seltsam still vor. Sie war daran gewöhnt, dass Jefim auf seinem Bett in ihrem engen Schlafzimmer hustete und seufzte. Allmorgendlich wachte sie auf in der Erwartung, ihn vorzufinden, und in der flüchtigen Sorge, er wäre wieder ausgerissen wie das eine Mal, als Passanten auf ihn gestoßen waren, wie er sich durch ein Gebüsch klaubte. Dann besann sie sich und zählte die noch verbleibenden Tage, bis sie die Handtücher von den Spiegeln abnehmen konnten.
Nina half sich mit Seifenopern und Hörbüchern über die vierzigtägige Trauerspanne hinweg, während sie die ganze Zeit darauf brannte, mit Putzen anzufangen. Ehe ihr Mann verschied, hatte sie jeden zweiten Morgen mit Staubwischen im gemeinsamen Schlafzimmer begonnen: auf dem Schreibtisch, dem Fernseher und dem verglasten Bücherschrank mit Jefims kleinem Messingbecher aus dem Krieg. Zwei Mal wöchentlich hatte sie sich von Vita einen roten Plastikeimer mit warmem Wasser bringen lassen, sich hingekniet, um sich standfester zu fühlen, und mit dem alten Hemd ihres Gatten den Linoleumfußboden des Zimmers gewischt. Zu Jefims Lebzeiten war es ihm nicht erlaubt worden, vom Bett aufzustehen, bis die feuchten Schlieren vom Boden verschwunden waren, nun aber spürte sie regelrecht, wie sich der Staub ringsum ansammelte.
Am vierzigsten Tag schließlich enthüllte Vita die Spiegel. Es war ein heißer Julimorgen, und lavendelfarbener Dunst hing über den Schlackenhalden. Während Vita Jefims Kleider und Bettzeug in zwei großen Tüten verpackte - eine für die Armen, die andere, um draußen vor der Stadt verbrannt zu werden -, begann Nina, Staub zu wischen. Als alle üblichen Stellen sauber waren, ging sie vor Jefims Bett auf die Knie. Darunter zog sie die lederne Aktenmappe hervor, die er seit den Fünfzigerjahren mit sich herumgeschleppt hatte.
»Endlich können wir dieses alte Ding wegwerfen«, meinte sie zu ihrer Tochter.
Sie dachte daran zurück, wie er bei ihrem Einzug in das kleine Haus am Stadtrand von Kiew diese Aktenmappe mitgebracht hatte, zusammen mit einem Kleiderbeutel und dem merkwürdig geformten Messingbecher, seinen einzigen Habseligkeiten. Sofort...
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