Schweitzer Fachinformationen
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Wir hielten einander bei der Hand und schlenderten die Straße entlang. Totoca erklärte mir, wie es im Leben so zugeht. Und ich war glücklich, weil mein großer Bruder mich festhielt und mir so viel beibrachte. Freilich nur die Dinge, die es außerhalb des Hauses gab. Denn drinnen lernte ich allein und fand alles selber heraus. Aber was ich auch tat, ich machte es verkehrt, und weil ich es verkehrt machte, setzte es Hiebe. Bis noch vor ganz Kurzem hatte mich nie jemand geschlagen. Aber dann entdeckten sie dies und das, was ich angestellt hatte, und sie sagten, ich sei garstig, frech und ungezogen. Das mochte ich gar nicht. Wäre ich jetzt nicht auf der Straße, so würde ich zu singen anfangen. Singen war herrlich. Totoca konnte noch etwas anderes, er konnte pfeifen. Aber sosehr ich mich auch bemühte, ihm das nachzumachen - es kam nichts dabei heraus. Er tröstete mich und sagte, das sei nun mal so und mein Mund sei noch zu klein zum Pfeifen. Weil ich ja nun nicht laut singen konnte, sang ich ganz heimlich in mir drin. Das war ein bisschen sonderbar, aber es machte mir Spaß. Und mir fiel ein Lied ein, das Mama gesungen hatte, als ich noch ganz klein gewesen war. Sie stand an der Waschhütte im Freien, hatte eine Schürze umgebunden und wegen der Sonne ein Tuch um den Kopf. Stundenlang arbeitete sie mit den Händen im Wasser und machte sehr viel Seifenschaum. Später wrang sie dann die Wäsche aus und trug sie zur Leine. Sie klammerte alles an der Leine fest und stützte sie mit Bambusstangen ab. Sie wusch die Wäsche für Dr. Faulhaber, um etwas dazuzuverdienen.
Mama war groß und mager, aber sehr hübsch. Sie hatte bräunliche Haut und glattes schwarzes Haar. Wenn sie das Haar offen trug, reichte es ihr bis zum Gürtel. Es war wunderschön, wenn sie sang und ich bei ihr stand und mitlernte.
Seemann, Seemann,
Weil ich bittren Kummer hab,
Deinetwegen, Seemann
Sinke ich ins Grab.
Die Wellen, die rauschten
Und rollten zum Strand,
Doch der Seemann ist fort,
An den Liebe mich band.
Matrosenliebe
Hat keinen Bestand.
Das Schiff stach in See,
Und mein Seemann verschwand.
Die Wellen, die rauschten .
Dieses Lied machte mich immer traurig, ohne dass ich wusste, warum.
Totoca gab mir einen Schubs. Ich fuhr zusammen.
»Was ist denn, Sesé?«
»Nichts. Ich hab gesungen.«
»Gesungen?«
»Ja.«
»Dann muss ich ja wohl taub sein.«
Ob er wirklich nicht wusste, dass man innerlich singen kann?
Ich hielt den Mund. Wenn er das nicht kannte, warum sollte ich es ihm beibringen?
Wir waren bis zu der Landstraße gekommen, die von Rio nach São Paulo geht. Hier fuhr alles vorbei. Lastwagen, Autos, Pferdewagen und Fahrräder.
»Pass gut auf, Sesé, das ist wichtig. Erst einmal genau gucken.
Nach der einen Seite, dann nach der anderen Seite. Jetzt!«
Wir rannten über die Straße.
»Hast du Angst gehabt?«
Eigentlich hatte ich. Aber ich schüttelte den Kopf.
»Nun noch einmal zusammen. Dann will ich sehen, ob du es allein kannst.«
Wir liefen zurück.
»Jetzt du allein. Keine Angst, du bist doch ein großer Junge.«
Das Herz schlug mir bis zum Hals.
»Jetzt. Lauf!«
Ich sauste ab und kam atemlos drüben an. Dann wartete ich, bis er winkte, ich solle zurückkommen.
»Das erste Mal hast du es sehr gut gemacht. Aber du hast etwas vergessen. Du musst nach beiden Seiten schauen, ob ein Wagen kommt. Ich werde nicht immer da sein, um für dich aufzupassen. Auf dem Rückweg wollen wir es noch einmal üben. Nun komm, ich will dir was zeigen.« Er nahm mich an der Hand, und wir gingen langsam weiter. Ich dachte an etwas, worüber Onkel Edmundo mit mir gesprochen hatte.
»Totoca.«
»Ja?«
»Ist es sehr schwer, vernünftig zu sein?«
»Was ist denn das für ein Quatsch?«
»Onkel Edmundo hat es gesagt. Er hat gesagt, dass ich >altklug< bin und dass ich bald vernünftig werde. Aber ich merke noch gar nichts.«
»Onkel Edmundo ist blöd. Er stopft dir den Kopf voll mit dummem Zeug.«
»Er ist nicht blöd. Er ist gelehrt. Und wenn ich groß bin, möchte ich auch gelehrt sein und ein Dichter und keinen Schlips tragen, sondern eine Schleife. Und dann will ich einmal damit fotografiert werden.«
»Warum denn mit einer Schleife?«
»Weil niemand ein Dichter ist, wenn er nicht eine Schleife trägt. Wenn Onkel Edmundo mir Bilder von Dichtern in einer Zeitschrift zeigt, dann haben sie immer große Schleifen um.«
»Sesé, du darfst nicht alles glauben, was er dir erzählt. Onkel Edmundo ist ein bisschen plemplem. Manchmal flunkert er auch.«
»Ist er dann ein Scheißkerl?«
»Du hast wohl noch nicht genug auf den Mund gekriegt für all deine Schimpfwörter, was? Nein, das ist Onkel Edmundo nicht.
Ich habe gesagt plemplem. Ein bisschen übergeschnappt.«
»Du hast gesagt, er flunkert auch.«
»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«
»Doch. Neulich hat Papa mit Senhor Severino geredet. Das ist der, mit dem er immer >Argolo< spielt. Und da hat er über Senhor Labonne gesagt: >Der alte Scheißkerl lügt wie gedruckt .< Und niemand hat ihm deswegen eins auf den Mund gegeben.«
»Große Leute dürfen so was sagen, da macht das nichts.«
Wir schwiegen eine Weile.
»Onkel Edmundo ist aber nicht . Was heißt eigentlich plemplem, Totoca?«
Er tippte mit dem Finger auf die Stirn.
»Nein, nein, das ist nicht wahr. Er ist nett, und er erklärt mir so viel, und bis jetzt hat er mich nur einmal verhauen, und da auch bloß ein bisschen.«
Totoca fuhr auf.
»Er hat dich verhauen? Wann denn?«
»Als ich mich danebenbenommen habe und Gloria mich zur Großmama geschickt hat. Da wollte er Zeitung lesen und konnte seine Brille nicht finden. Er suchte und suchte und war ganz außer sich. Er fragte Großmama, und die wusste es auch nicht. Die beiden stellten das ganze Haus auf den Kopf. Da sagte ich, ich weiß, wo sie ist, und ich sage es auch, wenn du mir einen Zehner für Murmeln gibst. Er holte einen Zehner aus seiner Westentasche. >Bring sie mir, dann kriegst du ihn.<
Ich ging an den Korb mit der Schmutzwäsche und nahm sie raus.
>Das hast du getan, du Nichtsnutz!<
Er gab mir eins hintendrauf und steckte den Zehner wieder ein.« Totoca lachte.
»Da läufst du zu ihnen, damit du zu Haus keine Prügel kriegst, und dann beziehst du sie erst recht. Geh jetzt etwas schneller, sonst kommen wir nie an.«
Ich dachte immer noch an Onkel Edmundo.
»Totoca, bekommen Kinder Pension?«
»Was?«
»Onkel Edmundo tut nichts, verdient aber Geld. Er arbeitet nicht, und die Behörde bezahlt ihm jeden Monat Pension.«
»Na und?«
»Kinder tun auch nichts, essen, schlafen und kriegen Geld von ihren Eltern.«
»Pension ist was anderes, Sesé. Pensioniert wird man, wenn man sehr viel gearbeitet hat und schlohweiß ist und nur ganz langsam gehen kann, so wie Onkel Edmundo. Aber wir wollen nicht von so was reden. Meinetwegen lass dir das alles von ihm erklären. Ich tu's nicht. Sei doch wie andere Kinder! Sag ruhig mal ein Schimpfwort, aber denk nicht über solchen Kram nach. Sonst nehme ich dich in Zukunft nicht mehr mit.«
Ich war ein bisschen gekränkt und mochte nichts mehr sagen. Der kleine Vogel, der in mir gesungen hatte, war davongeflogen. Wir blieben stehen und Totoca zeigte auf ein Haus.
»Das ist es. Gefällt es dir?«
Es war ein ganz gewöhnliches Haus. Weiß mit blauen Fensterläden. Verschlossen und sehr still.
»Doch. Aber warum müssen wir hierherziehen?«
»Es ist doch gut, wenn man immer mal wieder umzieht.«
Durch den Gartenzaun sahen wir, dass auf der einen Seite ein Mangobaum, auf der anderen eine Tamarinde stand.
»Du...
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