Schweitzer Fachinformationen
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In Das grüne Haus erzählt Mario Vargas Llosa, wie hochherzige Nonnen Urwaldmädchen einfangen, um sie in ihren Missionsschulen zu christianisieren. Am konkreten Schicksal Bonifacias verdeutlicht er deren »neues« Leben: Dienerin bei den Garnisonsoffizieren, schließlich Prostituierte. Eine zweite Geschichte berichtet von der Ausbeutung der amerikanischen Ureinwohner bei der Kautschukgewinnung, den Repressalien der Regierung bei Auflehnung und Streik. Die permanente Unterdrückung der Eingeborenen durch die Vertreter der herrschenden Gesellschaft ist Thema des dritten Handlungsmotivs. Eine grüngestrichene Hütte in der kleinen Wüstenstadt Piura - das städtische Bordell - ist Zentrum des erzählerischen Kaleidoskops, Schnittpunkt der Schicksale, Zeiten und Realitäten, ein Haus von nahezu mythischer Vergangenheit und Bedeutung.
Eine Tür wurde zugeknallt, die Oberin sah vom Schreibtisch auf, Madre Angélica platzte ins Büro wie eine Sturmwelle, ihre bleichen Hände fielen auf die Lehne eines Stuhls.
»Was ist los, Madre Angélica? Sie sind ja ganz aufgeregt.«
»Sie sind entflohen, Madre!« stammelte Madre Angélica. »Keine einzige ist mehr da, mein Gott.«
»Was sagen Sie, Madre Angélica!« Die Oberin war aufgesprungen und eilte zur Tür. »Die Mündel?«
»Mein Gott, mein Gott!« Madre Angélica nickte bestätigend, machte kleine, sehr hastige Bewegungen mit dem Kopf, immer dieselben, wie ein Huhn, das Körner pickt.
Santa María de Nieva erhebt sich da, wo der Nieva in den Alto Marañón mündet, zwei Flüsse, die die Stadt umarmen und ihre Grenzen sind. Ihr gegenüber ragen aus dem Marañón zwei Inseln empor, die den Bewohnern zum Messen des Wasserstandes dienen. Vom Ort aus sieht man, wenn kein Nebel herrscht, im Hintergrund von Vegetation überzogene Hügel und im Vordergrund, den breiten Fluß abwärts, die schwarzen Massen der Kordillere, die der Marañón zum Pongo de Manseriche spaltet: zehn Kilometer wilde Strudel, Felsen und Schnellen, die bei einer Militärgarnison, der des Teniente Pinglo, beginnen und bei einer andern, der von Borja, enden. »Hier hinaus«, sagte Madre Patrocinio. »Schauen Sie, die Tür steht offen, hier sind sie durch.«
Die Oberin hob die Laterne hoch und beugte sich hinaus: das Gestrüpp war ein einheitlicher Schatten, wie überschwemmt von Insekten. Sie wandte sich den Nonnen zu. Die Ordenstrachten waren in der Dunkelheit unsichtbar, aber die weißen Schleier leuchteten wie das Gefieder von Reihern.
»Suchen Sie Bonifacia, Madre Angélica«, murmelte die Oberin. »Bringen Sie sie in mein Büro.«
»Ja, Madre, sofort.« Die Laterne beleuchtete eine Sekunde lang das zitternde Kinn Madre Angélicas, ihre Äugchen, die zuckenden Wimpern.
»Unterrichten Sie Don Fabio, Madre Griselda«, sagte die Oberin. »Und Sie den Teniente, Madre Patrocinio. Sie sollen auf der Stelle zur Suche aufbrechen. Beeilen Sie sich, Madres.«
Zwei weiße Kreise verließen die Gruppe in Richtung auf den Patio der Mission. Die Oberin, gefolgt von den Nonnen, ging auf das Wohnhaus zu, dicht an der Mauer des Obstgartens entlang, wo in launischen Intervallen ein Krächzen das Flattern der Fledermäuse und das Zirpen der Grillen übertönte. Zwischen den Obstbäumen zwinkerte es und blitzte es auf – Leuchtkäfer? Eulenaugen? Die Oberin blieb vor der Kapelle stehen.
»Gehen Sie hinein, Madres«, sagte sie sanft. »Bitten Sie die Jungfrau, sie möge ein Unglück verhüten. Ich komme nachher.«
Santa María de Nieva ist wie eine unregelmäßige Pyramide, und ihre Basis sind die Flüsse. Der Landeplatz befindet sich am Nieva, und rings um die schwimmende Mole schaukeln die Kanus der Aguarunas, die Ruder- und Motorboote der Weißen. Weiter oben liegt, ein Quadrat aus ockerfarbener Erde, die Plaza, in deren Mitte zwei Capironastämme aufragen, kahl und klobig. An dem einen hissen die Guardias am Nationalfeiertag die Fahne. Und um die Plaza gruppiert sind die Comisaría, das Haus des Gobernadors, einige Wohnhäuser von Christen und die Cantina von Paredes, der außerdem noch Kaufmann und Tischler ist und Pusangas herzustellen versteht: Liebestränke. Und noch weiter oben, auf zwei Hügeln, die Gebäude der Mission: Dächer aus Wellblech, Säulen aus Lehm und Ponaholz, kalkverputzte Wände, Drahtgeflecht an den Fenstern, Holztüren.
»Wir wollen keine Zeit verlieren, Bonifacia«, sagte die Oberin. »Sag mir gleich die ganze Wahrheit.«
»Sie war in der Kapelle«, sagte Madre Angélica. »Die Madres haben sie entdeckt.«
»Ich habe dich etwas gefragt, Bonifacia«, sagte die Oberin. »Worauf wartest du?«
Sie trug eine blaue Tunika, ein Futteral, das ihren Körper von den Schultern bis zu den Knöcheln versteckte, und ihre bloßen Füße, kupferfarben wie die Bretter des Bodens, ruhten nebeneinander: zwei flache, vielköpfige Tiere.
»Hast du nicht gehört?« fragte Madre Angélica. »Rede doch!«
Der schwarze Schleier, der ihr Gesicht umrahmte, und das Halbdunkel in dem Büro akzentuierten das Zweideutige ihres Gesichtsausdrucks, halb menschenscheu, halb teilnahmslos, und ihre großen Augen blickten starr auf den Schreibtisch; mitunter ließ die Flamme des Lampendochts, wenn die vom Obstgarten hereinwehende Brise sie bewegte, das Grün dieser Augen erkennen, ein mattes Funkeln.
»Haben sie dir die Schlüssel gestohlen?« fragte die Oberin.
»Du wirst dich nie ändern, fahrlässiges Geschöpf!« Die Hand Madre Angélicas flatterte über Bonifacias Kopf. »Siehst du jetzt, wozu deine Achtlosigkeit geführt hat?«
»Überlassen Sie das mir, Madre«, sagte die Oberin. »Laß mich nicht noch mehr Zeit verlieren, Bonifacia.«
Ihre Arme hingen an beiden Seiten herunter, den Kopf hielt sie gesenkt, die Tunika verriet nur knapp die Bewegung ihrer Brust. Ihre geraden, vollen Lippen waren zu einer mürrischen Grimasse zusammengelötet, und die Nase dehnte sich und runzelte sich leicht in sehr gleichmäßigem Rhythmus.
»Mach mich nicht ärgerlich, Bonifacia, ich rede ernsthaft mit dir, und du tust, als hörtest du’s regnen«, sagte die Oberin.
»Wann hast du sie allein gelassen? Hast du den Schlafsaal nicht abgeschlossen?«
»Nun red endlich, Teufelsbraten!« Madre Angélica packte Bonifacias Tunika. »Gott wird dich für diesen Hochmut bestrafen.«
»Du kannst den ganzen Tag über in die Kapelle gehen, aber nachts ist es deine Pflicht, auf die Mündel aufzupassen«, sagte die Oberin. »Warum bist du ohne Erlaubnis aus dem Zimmer gegangen?«
Zwei schwache Klopfzeichen erklangen an der Tür des Büros, die Nonnen drehten sich um. Bonifacia hob die Lider ein wenig, und einen Augenblick lang waren ihre Augen größer, grün und gespannt.
Von den Hügeln des Dorfes aus sieht man, hundert Meter jenseits, am rechten Ufer des Nieva, die Cabaña des Adrián Nieves, sein Stückchen Land und dahinter nur eine Flut von Lianen, Gestrüpp, Bäume mit tentakelartigen Zweigen und hoch aufragenden Wipfeln. Nicht weit von der Plaza liegt die Siedlung der Eingeborenen, eine Anhäufung von Hütten, die auf Bäumen errichtet sind, deren Kronen abgehackt wurden. Schlamm verschlingt dort das wilde Kraut und umgibt stinkende Wasserpfützen, in denen es von Kaulquappen und Würmern brodelt. Da und dort sieht man winzige Rechtecke, auf denen Maniok und Mais wachsen, ein paar Obstbäume stehen. Von der Mission führt ein steiler Pfad hinunter zur Plaza. Und hinter der Mission bietet eine Mauer aus Lehm dem Vordringen des Urwalds Widerstand, der unbarmherzigen Attacke des Dschungels. In dieser Mauer befindet sich eine verschlossene Tür.
»Der Gobernador, Madre«, sagte Madre Patrocinio. »Gestatten Sie?«
»Ja, führen Sie ihn bitte herein, Madre Patrocinio«, antwortete die Oberin.
Madre Angélica hob die Lampe hoch und erlöste zwei verschwommene Gestalten aus dem Dunkel der Schwelle. In einen Überwurf gehüllt, in der Hand eine Taschenlampe, trat Don Fabio unter Verneigungen ein.
»Ich war schon im Bett und hab mich schnell angezogen, Madre, entschuldigen Sie meinen Aufzug.« Er gab der Oberin und Madre Angélica die Hand. »Wie hat das nur passieren können, ich schwör Ihnen, ich konnte es einfach nicht glauben. Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen allen zumute ist, Madre.«
Sein kahler Schädel schien feucht zu sein, sein schmales Gesicht lächelte den Nonnen zu.
»Nehmen Sie Platz, Don Fabio«, sagte die Oberin. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Bieten Sie dem Gobernador einen Stuhl an, Madre Angélica.«
Don Fabio nahm Platz, und die Taschenlampe, die in seiner Hand hing, ging an: ein goldener Kreis auf dem Teppich aus Chambirastreifen.
»Sie sind schon unterwegs, um sie zu suchen, Madre«, sagte der Gobernador. »Der Teniente auch. Machen Sie sich keine Sorgen, sie werden sie bestimmt noch heute nacht finden.«
»Die Ärmsten, da draußen, mutterseelenallein, Don Fabio, stellen Sie sich vor«, seufzte die Oberin. »Glücklicherweise regnet es nicht. Sie haben keine Ahnung, wie wir erschrocken sind.«
»Aber wie ist das denn zugegangen, Madre?« sagte Don Fabio. »Ich kann’s immer noch nicht glauben.«
»Die da hat nicht aufgepaßt«, sagte Madre Angélica und deutete auf Bonifacia. »Sie hat sie allein gelassen und ist in die Kapelle gegangen. Wird vergessen haben, die Tür abzuschließen.«
Der Gobernador blickte Bonifacia an, und sein Gesicht bekam einen strengen und schmerzlichen Ausdruck. Aber gleich darauf lächelte er und machte eine kleine Verbeugung vor der Oberin.
»Die Mädchen sind ahnungslos, Don Fabio«, sagte die Oberin. »Sie wissen nichts von den Gefahren. Das macht uns am meisten Sorgen. Ein Unfall, ein Tier.«
»Ach, diese Mädchen!« sagte der Gobernador. »Siehst du, Bonifacia, du mußt besser aufpassen.«
»Bitte Gott, daß ihnen nichts zustößt«, sagte die Oberin.
»Denk nur, was für Vorwürfe du dir dein ganzes Leben lang machen müßtest, Bonifacia.«
»Haben Sie sie nicht ausreißen hören, Madre?« fragte Don Fabio. »Durch den Ort sind sie nicht gekommen. Werden in den Wald gegangen sein.«
»Sie sind durch die Tür im Obstgarten hinaus, deswegen haben wir sie nicht gehört«, sagte Madre Angélica. »Haben diesem Dummkopf da die Schlüssel...
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