Schweitzer Fachinformationen
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Felícito Yanaqué, Inhaber der Firma Transportes Narihualá, trat an jenem Morgen, so wie jeden Tag von Montag bis Samstag, Punkt halb acht aus seinem Haus, nachdem er eine halbe Stunde Qigong gemacht, kalt geduscht und sich das übliche Frühstück bereitet hatte: Kaffee mit Ziegenmilch und Röstbrot mit Butter, darauf ein paar Tropfen Zuckersirup. Er wohnte im Zentrum von Piura, und auf der Calle Arequipa war der Lärm der Stadt schon losgebrochen, über die hohen Bürgersteige strömten die Menschen auf dem Weg zum Büro, zum Markt, oder sie brachten die Kinder zur Schule. Ein paar fromme Seelen begaben sich in die Kathedrale für die Messe um acht. Die fliegenden Händler riefen lauthals ihre Ware aus, Honigpaste, Lutscher, Teigtaschen, Bananenchips, alle möglichen Leckereien, und an der Ecke, unter dem Dachvorsprung des Gebäudes aus der Kolonialzeit, hatte sich auch schon der blinde Lucindo niedergelassen, das Bettelschälchen zu seinen Füßen. Alles genau wie jeden Tag, seit unvordenklicher Zeit.
Mit einer Ausnahme. Am Morgen hatte jemand an die alte, mit Nägeln beschlagene Holztür seines Hauses, in Höhe des bronzenen Türklopfers, einen blauen Umschlag geheftet, auf dem in Großbuchstaben deutlich der Name des Hausbesitzers stand: DON FELÍCITO YANAQUÉ. Soweit er sich erinnerte, war es das erste Mal, dass ihm jemand auf diese Weise einen Brief zustellte, wie einen gerichtlichen Bescheid oder einen Strafzettel. Normalerweise schob der Briefträger die Post durch den Türspalt. Er nahm den Umschlag ab, öffnete ihn und las stumm, nur seine Lippen bewegten sich:
Werter Herr Yanaqué,
dass es Ihrer Firma Transportes Narihualá so gutgeht, darauf können Piura und alle Bürger der Stadt stolz sein. Aber es ist auch ein Risiko, denn jedes erfolgreiche Unternehmen läuft Gefahr, von nachtragenden, neidischen oder notleidenden Menschen geplündert und verwüstet zu werden, Menschen, von denen es hier allzu viele gibt, wie Sie selber wissen. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Unsere Organisation wird sich darum kümmern, Ihr Unternehmen ebenso wie Sie und Ihre werte Familie vor jedem Zwischenfall, jeder Unannehmlichkeit oder Bedrohung durch diese Halunken zu schützen. Als Vergütung für unsere Tätigkeit nehmen wir monatlich 500 Dollar (eine gewiss bescheidene Summe bei Ihrem Vermögen). Zu den Zahlungsmodalitäten werden wir uns zu gegebener Zeit mit Ihnen in Verbindung setzen.
Wir müssen nicht eigens betonen, wie wichtig es ist, dass Sie die Sache mit der größten Diskretion behandeln. Das alles muss zwischen uns bleiben.
Gott befohlen.
Statt einer Unterschrift trug der Brief die plumpe Zeichnung von etwas, was wie eine kleine Spinne aussah.
Don Felícito las ihn noch einige Male, betrachtete die tänzelnde Schrift, die Tintenkleckse. Er war überrascht und belustigt und hatte das vage Gefühl, dass es sich um einen schlechten Scherz handelte. Er zerknüllte den Brief mitsamt Umschlag und wollte ihn schon an der Straßenecke in die Mülltonne werfen. Aber dann überlegte er es sich anders, strich ihn glatt und steckte ihn ein.
Es waren gut zehn Blocks von seinem Haus in der Calle Arequipa bis zu seinem Büro an der Avenida Sánchez Cerro. Diesmal ging er nicht, während er den Weg zu Fuß lief, die Termine des Tages durch, so wie sonst immer, sondern grübelte über den Brief mit der kleinen Spinne nach. Sollte er ihn ernst nehmen? Zur Polizei gehen und Anzeige erstatten? Die Erpresser hatten angekündigt, sie würden sich wegen der »Zahlungsmodalitäten« mit ihm in Verbindung setzen. Also lieber warten, bis sie sich meldeten, ehe er zum Revier ging? Vielleicht war es auch bloß irgendein Lümmel, der nichts Besseres zu tun hatte, als ihm den Tag zu verderben. Andererseits hatte in letzter Zeit die Kriminalität in Piura zugenommen: Hauseinbrüche, Straßenüberfälle bis hin zu Entführungen, die, wie es hieß, die Familien dieser Weißen von El Chipe und Los Ejidos heimlich arrangierten. Er fühlte sich verwirrt und unentschlossen, doch eins war für ihn gewiss: Nie und nimmer würde er, egal was passierte, diesen Banditen auch nur einen einzigen Centavo geben. Und abermals, wie so oft in seinem Leben, erinnerte sich Felícito an die letzten Worte seines Vaters auf dem Sterbebett: »Lass dich niemals von irgendwem herumschubsen, mein Sohn. Dieser Rat ist das Einzige, was ich dir vermachen kann.« Er hatte ihn beherzigt, nie hatte er sich herumschubsen lassen. Und mit seinem guten halben Jahrhundert auf dem Buckel war er schon zu alt, um seine Gewohnheiten zu ändern. Er war so versunken in seine Gedanken, dass er den Vortragskünstler Joaquín Ramos nur mit einem angedeuteten Nicken grüßte und weitereilte; sonst blieb er schon mal stehen, um ein paar Worte mit diesem unverbesserlichen Bohemien zu wechseln, der wahrscheinlich die Nacht in irgendeiner Kaschemme verbracht hatte und erst jetzt nach Hause ging, mit glasigen Augen, seinem ewigen Monokel und der Ziege im Schlepp, seiner Gazelle, wie er sie nannte.
Als er zu seiner Firma kam, überzeugte er sich, dass die Busse zur vorgesehenen Uhrzeit losgefahren waren, nach Sullana, Talara und Tumbes, nach Chulucanas und Morropón, nach Catacaos, La Unión, Sechura und Bayóvar, alle gut besetzt, ebenso die Sammeltaxis nach Chiclayo und die Lieferwagen nach Paita. Eine Handvoll Leute gaben Pakete auf oder erkundigten sich nach den Abfahrtszeiten der Busse und Sammeltaxis am Nachmittag. Josefita, seine Sekretärin – breite Hüften, kesse Augen und immer tief ausgeschnittene Blusen – hatte ihm ereits die Liste mit den Terminen und Verpflichtungen des Tages auf den Schreibtisch gelegt und die Thermosflasche mit dem Kaffee dazugestellt, den er bis zum Mittagessen trinken würde.
»Was ist mit Ihnen, Chef?«, grüßte sie ihn. »Warum so ein Gesicht? Haben Sie schlecht geträumt?«
»Ach, nichts Besonderes«, antwortete er, hängte Jackett und Hut an den Garderobenständer und setzte sich. Doch sofort stand er auf und schnappte sie sich wieder, als wäre ihm etwas Dringliches eingefallen.
»Bin gleich zurück«, sagte er, schon auf dem Weg zur Tür. »Muss nur zur Polizei, Anzeige erstatten.«
»Hat man bei Ihnen eingebrochen?« Josefita riss ihre lebhaften Glubschaugen auf. »Das passiert heute jeden Tag in Piura.«
»Nein, nicht, ich erzähl’s dir später.«
Entschlossenen Schrittes ging Felícito zum Revier, nur wenige Straßen von seinem Büro entfernt, ebenfalls an der Avenida Sánchez Cerro. Es war noch recht früh, die Hitze noch erträglich, aber er wusste, in weniger als einer Stunde würde diese Straße mit all ihren Reiseagenturen und Busgesellschaften zu glühen beginnen, und zurück käme er schweißnass. Miguel und Tiburcio, seine Söhne, hatten ihm oft gesagt, er sei verrückt, immer Sakko, Weste und Hut zu tragen in einer Stadt, wo alle, ob Arm oder Reich, das ganze Jahr über im kurzärmligen Hemd oder in Guayabera herumliefen. Aber seit er Transportes Narihualá eröffnet hatte, sein Lebenswerk, trug er diese Kleidungsstücke immer, ein Zeichen von Seriosität: sommers wie winters Sakko, Weste und die Krawatte mit dem Miniknoten. Er selbst war klein und spindeldürr, bescheiden und fleißig, ein Mensch, der drüben in Yapatera, wo er geboren war, und in Chulucanas, wo er die Grundschule besuchte, niemals Schuhe getragen hatte. Damit begann er erst, als er mit seinem Vater nach Piura kam. Mittlerweile war er fünfundfünfzig und hielt sich fit und gesund. Sein guter körperlicher Zustand verdankte sich, für ihn keine Frage, den morgendlichen Qigong-Übungen, die ihm sein Freund gezeigt hatte, der verstorbene Lau, Besitzer eines Kramladens. Es war der einzige Sport, den er, abgesehen vom Zufußgehen, in seinem Leben getrieben hatte, sofern man diese Bewegungen in Zeitlupe Sport nennen konnte, die weniger ein Muskeltraining als vielmehr eine andere und klügere Art waren, zu atmen. Als er das Revier erreichte, war er empört, wütend. Ob Scherz oder nicht, wer diesen Brief geschrieben hatte, ruinierte ihm den ganzen Morgen.
Das Revier war ein einziger Backofen, und da alle Fenster geschlossen waren, war es drinnen düster. Am Eingang stand ein Ventilator, der sich aber nicht rührte. Der Polizist am Meldetisch, ein Milchbubi noch, fragte ihn, was er wünsche.
»Mit dem Kommissar sprechen, bitte«, sagte Felícito und reichte ihm sein Kärtchen.
»Der ist für ein paar Tage in Urlaub«, erklärte ihm der Polizist. »Wenn Sie möchten, kann Sergeant Lituma sich um Sie kümmern, er vertritt ihn so lange.«
»Dann spreche ich mit ihm, danke.«
Er musste eine Viertelstunde warten, bis der Sergeant sich herabließ, ihn zu empfangen. Als der Polizist ihn zu der kleinen Stube führte, war sein Taschentuch ganz durchnässt, so oft hatte er sich die Stirn gewischt. Der Sergeant erhob sich nicht zu seinem Gruß, er streckte ihm nur eine feuchte, pummelige Hand entgegen und deutete auf den freien Stuhl vor sich. Er war rundlich, fast schon dick, mit gütigen Äugelchen und dem Ansatz eines Doppelkinns, das er immer wieder liebevoll knetete. Das Khakihemd seiner Uniform trug er aufgeknöpft und mit Schweißflecken unter den Achseln. Auf dem kleinen Tisch stand ein Ventilator, der funktionierte immerhin. Felícito spürte dankbar, wie ihm ein Stoß kühler Luft übers Gesicht fuhr.
»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Yanaqué?«
»Diesen Brief hier habe ich heute bekommen. Er hing an meiner Haustür.«
Sergeant Lituma setzte sich eine Brille auf, die ihm das Aussehen eines Winkeladvokaten verlieh, und las den Brief in aller Ruhe durch.
»Tja, was soll man da sagen«, meinte er schließlich und zog ein...
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