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An seine Geburt am 1. September 1864 in Doyle’s Cottage, Lawson Terrace, in dem Dubliner Vorort Sandycove, konnte er sich natürlich nicht erinnern. Er hatte zwar in der irischen Hauptstadt das Licht der Welt erblickt, doch lange Zeit war für ihn selbstverständlich gewesen, was sein Vater, Hauptmann Roger Casement, der acht Jahre mit Auszeichnung im 3. leichten Dragoner-Regiment in Indien gedient hatte, ihm stets eingeschärft hatte: Seine wahre Heimat war die Grafschaft Antrim im Herzen von Ulster, das protestantische und englandtreue Irland, wo die Familie der Casements seit dem 18. Jahrhundert ansässig war.
Roger wurde zwar nach der anglikanischen Tradition der Church of Ireland erzogen, wie auch seine drei älteren Geschwister Agnes, genannt Nina, Charles und Tom, aber bereits als Kind ahnte er, dass hinsichtlich der Religion in seiner Familie weniger Einklang herrschte als anderswo. Selbst für einen kleinen Jungen war es nicht zu übersehen, dass seine Mutter, wenn sie mit ihren schottischen Geschwistern und Verwandten zusammen war, ein sonderbar geheimnistuerisches Verhalten an den Tag legte. Als Jugendlicher sollte er dem Rätsel auf die Spur kommen: Anne Jephson war zwar für ihre Heirat mit seinem Vater offiziell zum Protestantismus konvertiert, hatte ihren katholischen (für ihren Gatten papistischen) Glauben jedoch insgeheim beibehalten, ging zur Beichte und zur Messe und empfing die heilige Kommunion; und unter dem Siegel der größten Verschwiegenheit war sogar er selbst mit vier Jahren, im Zuge einer Urlaubsreise mit der Mutter nach Ryl in Nordwales zu den dort ansässigen Onkeln und Tanten, katholisch getauft worden.
Weder zu jener Zeit in Dublin noch während seiner Jahre in London und Jersey hegte Roger irgendein Interesse für die Religion, mochte er auch aus Rücksicht auf seinen Vater aufmerksam und respektvoll in die Gebete und Psalmengesänge des Gottesdienstes einstimmen. Seine Mutter hatte ihm das Klavierspielen beigebracht, und er besaß eine klare, wohlklingende Stimme, die ihm Beifall einbrachte, wenn er bei Familienzusammenkünften alte irische Balladen sang. Wirklich gebannt war er nur von den Geschichten, die Hauptmann Casement ihm und seinen Geschwistern erzählte, wenn er guter Laune war. Geschichten aus Indien und Afghanistan, vor allem von den Kämpfen gegen die Afghanen und Sikhs. All die exotischen Namen und Landschaften, Reisen durch Urwälder und Gebirge, die Schätze, Raubtiere und Ungeziefer bargen, uralte Völker mit sonderbaren Bräuchen und heidnische Götter beflügelten seine Fantasie. Seine Geschwister langweilten diese Erzählungen mitunter, doch der kleine Roger konnte stundenlang den Abenteuergeschichten seines Vaters lauschen.
Kaum hatte er zu lesen gelernt, verschlang er Bücher über die großen Seefahrer, über Wikinger, Portugiesen, Engländer und Spanier, die über die Weltmeere gesegelt waren und die alten Mythen Lügen gestraft hatten, nach denen die Ozeane an einem bestimmten Punkt zu brodeln begännen und aus ihren Tiefen Ungeheuer auftauchten, in deren Rachen ganze Schiffe verschwänden. So gern er auch las, hörte Roger doch immer noch am liebsten den Erzählungen seines Vaters zu. Hauptmann Casement hatte eine warme Stimme und beschrieb anschaulich und lebendig die indischen Dschungel oder die Schluchten des Chaiber-Passes in Afghanistan, wo sein Dragoner-Regiment einmal in den Hinterhalt einer Horde beturbanter Fanatiker geraten war, gegen die sich die tapferen Engländer erst mit Gewehren, dann mit Bajonetten und schließlich mit bloßen Fäusten zur Wehr setzen mussten, bis sie die Angreifer schließlich in die Flucht schlugen. Allerdings begeisterte sich der kleine Roger weniger für die eigentlichen Kämpfe als für die Reisen, bei denen Wege durch Regionen erschlossen wurden, die kein Weißer je zuvor zu Gesicht bekommen hatte, bei denen die körperliche Widerstandskraft auf eine harte Probe gestellt wurde und die Natur überwunden werden musste. Sein Vater war ein unterhaltsamer Mensch, gleichzeitig aber sehr streng, und er zögerte nicht, seine Kinder, die kleine Nina eingeschlossen, für schlechtes Benehmen mit der Peitsche zu züchtigen, denn so wurde Fehlverhalten in der Armee bestraft, und er hatte die Erfahrung gemacht, dass das Auspeitschen die einzig wirksame Form der Strafe war.
Roger mochte seinem Vater zwar Bewunderung entgegenbringen, eine wesentlich tiefere Zuneigung empfand er hingegen für seine Mutter, diese schlanke, ätherische Frau mit den hellen Augen und Haaren, deren sanfte Hände ihm beim Baden durch die Locken oder über den Körper strichen und ihn mit Glückseligkeit erfüllten. Sehr früh – mit fünf oder sechs Jahren? – lernte er jedoch, dass er ihr nur entgegenlaufen und sich ihr in die Arme werfen durfte, wenn der Hauptmann nicht in der Nähe war. Getreu der Familientradition war sein Vater dagegen, Kinder zu verhätscheln und zu verweichlichen. In Gegenwart des Vaters hielt Roger sich stets auf Distanz zu seiner Mutter. War sein Vater aber mit Freunden im Club oder auf einem Spaziergang, lief er zu ihr und wurde mit Küssen und Liebkosungen bedeckt. Manchmal protestierten Charles, Nina und Tom: »Du liebst Roger mehr als uns.« Ihre Mutter versicherte ihnen das Gegenteil, sie liebe alle gleich, nur sei Roger eben noch klein und brauche deshalb mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung als die Älteren. Trotzdem war Roger kein schwächliches Kind. Bald lernte er schwimmen, bei Wettrennen schlug er alle gleichaltrigen und manche älteren Kinder.
Roger war neun Jahre alt, als seine Mutter 1873 starb. Im Unterschied zu Nina, Charles und Tom, die während der Totenwache und der Beerdigung untröstlich weinten, vergoss Roger keine Träne. Das Haus der Casements verwandelte sich in diesen düsteren Stunden in eine Begräbniskapelle mit etlichen Besuchern in Trauerkleidung, die wispernd sprachen und Hauptmann Casement und die vier Kinder mit betroffenen Mienen und Beileidsworten in die Arme schlossen. Roger verstummte mehrere Tage lang. Auf Fragen antwortete er mit einem Nicken oder einer Handbewegung, ansonsten starrte er mit gesenktem Kopf vor sich hin, selbst nachts in seinem dunklen Zimmer, wo er keinen Schlaf fand. Für den Rest seines Lebens sollte ihm die Gestalt von Anne Jephson immer wieder in seinen Träumen begegnen, in denen sie mit ihrem warmen Lächeln die Arme ausbreitete und er sich an sie schmiegte, beschützt und glücklich, während ihre feinen Finger über seinen Kopf, seinen Rücken, seine Wangen strichen und ihn gegen alles Übel der Welt feiten.
Seine Geschwister kamen bald darüber hinweg. Roger scheinbar auch. Zumindest erwähnte er seine Mutter nie, als er wieder zu sprechen begann. Wenn irgendein Verwandter sich ihrer erinnerte, sagte er so lange nichts, bis derjenige das Thema schließlich wechselte.
Wer ihren Tod nicht verwand und nie wieder der Alte wurde, war Hauptmann Casement. Weder Roger noch seine Geschwister hatten ihren wortkargen Vater der Mutter gegenüber je besonders liebevoll erlebt, doch über ihren Verlust kam er offenbar nicht hinweg. Er vernachlässigte seine sonst so tadellose Kleidung, rasierte sich nicht mehr und blickte seine Kinder mit gefurchter Stirn so finster an, als trügen sie die Schuld an seinem Witwertum. Kurz nach dem Tod von Anne beschloss er, aus Dublin wegzuziehen. Die vier Kinder schickte er nach Ulster auf den Familiensitz Magherintemple House, wo sich von nun an der Großonkel väterlicherseits John Casement und dessen Frau Charlotte um die Erziehung der Geschwister kümmerten. Als wollte er nichts mehr mit ihnen zu tun haben, ließ sich Hauptmann Casement vierzig Kilometer entfernt im Adair Arms Hotel in Ballymena nieder, wo er, wie es Großonkel John bisweilen entschlüpfte, »halb wahnsinnig vor Schmerz und Einsamkeit« seine Tage und Nächte mit spiritistischen Sitzungen zubrachte, um durch Spielkarten, Kristallkugeln oder ein Medium mit der Toten in Verbindung zu treten.
Roger sah seinen Vater in der Folge nur noch selten, und nie wieder hörte er ihn Geschichten über Indien und Afghanistan erzählen. 1876, drei Jahre nach dem Tod seiner Frau, starb Hauptmann Roger Casement an Tuberkulose. Roger war gerade zwölf geworden. Auf der Ballymena Diocesan School, die er drei Jahre lang besuchte, war er ein zerstreuter, durchschnittlicher Schüler, nur in den Fächern Latein, Französisch und Alte Geschichte tat er sich hervor. Er war in sich gekehrt, schrieb Gedichte und verschlang Chroniken von Reisen nach Afrika und in den Fernen Osten. Er machte Sport, vor allem schwamm er. An den Wochenenden fuhr er häufig nach Galgorm Castle, Eigentum der Familie Young, der einer seiner Klassenkameraden entstammte. Allerdings verbrachte Roger weniger Zeit mit seinem Klassenkameraden als mit der etwas älteren, schönen und klugen Rose Maud Young, die selbst schrieb und durch die Fischer- und Bauerndörfer von Antrim zog, um gälische Gedichte, Legenden und Lieder zu sammeln. Durch sie lernte er die epischen Schlachten der irischen Mythologie kennen. Das Schloss mit seinem schwarzen Gemäuer, der Kathedralenfassade, den Türmchen, Wappen und Kaminen war im 17. Jahrhundert von Alexander Colville erbaut worden, einem Theologen von eher – nach seinem Porträt in der Eingangshalle zu schließen – verdrießlichem Wesen, der, wie eine Legende in Ballymena besagte, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte und dessen Geist fortan im Schloss spukte. Schaudernd wagte sich Roger in manchen Mondnächten auf die Suche nach ihm, durch Korridore und leerstehende Zimmer, ohne ihn jemals aufzustöbern.
Erst viel später gelang es ihm, sich in Magherintemple House wohl zu fühlen, dem Besitz der Casements, der früher Churchfield geheißen hatte und das Pfarrhaus der anglikanischen Gemeinde...
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