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Paul Gauguin und seine Großmutter Flora Tristan sind einander nie begegnet. Und doch verbindet die beiden so unterschiedlichen Charaktere - hier der Maler, der in der Natur sein Paradies sucht; da die bis zur Erschöpfung kämpfende Frauenrechtlerin und Sozialistin - die brennende Sehnsucht nach dem Möglichen, nach Erfüllung.
Um vier Uhr morgens schlug sie die Augen auf und dachte: ›Heute fängst du an, die Welt zu verändern, Florita.‹ Die Aussicht, ihren Plan in Angriff zu nehmen und den Mechanismus in Gang zu setzen, der die Ungerechtigkeit aus der Welt schaffen und die Menschheit verwandeln würde, erdrückte sie nicht. Sie fühlte sich ruhig, spürte Kraft genug, um den Hindernissen zu trotzen, die sich ihr in den Weg stellen würden. Wie damals in Saint-Germain, vor zehn Jahren, bei der ersten Versammlung der Saintsimonisten, als sie Prosper Enfantin zugehört hatte, der das Messias-Paar beschrieb, das dereinst die Welt erlösen sollte, und sie sich bei seinen Worten das energische Versprechen gab: ›Du wirst die Messias-Frau sein.‹ Arme Saintsimonisten mit ihren irrationalen Hierarchien, ihrer fanatischen Liebe zur Wissenschaft und ihrer Vorstellung, man müsse die Regierung nur den Industriellen überlassen und die Gesellschaft wie ein Unternehmen verwalten, um den Fortschritt zu verwirklichen! Du hattest sie weit hinter dir gelassen, Andalusierin.
Sie stand auf, wusch sich und kleidete sich an, ohne Eile. Am Abend zuvor, nach dem Besuch des Malers Jules Laure, der gekommen war, um ihr Glück für ihre Rundreise zu wünschen, hatte sie ihr Gepäck gerichtet und mit Hilfe des Dienstmädchens Marie-Madeleine und des Wasserverkäufers Noël Taphanael an den Fuß der Treppe hinuntergetragen. Sie selbst hatte sich der Tasche mit den frischgedruckten Exemplaren ihres Manifests L’Union Ouvrière angenommen; alle paar Treppenstufen mußte sie stehenbleiben, um Atem zu schöpfen, denn die Last war sehr schwer. Als der Wagen vor dem Haus in der Rue du Bac vorfuhr, um sie zur Anlegestelle im Hafen zu bringen, war Flora schon lange auf den Beinen.
Es herrschte noch tiefe Dunkelheit. Die Gaslaternen an den Ecken waren erloschen, und der Kutscher, eingehüllt in einen Umhang, der nur seine Augen frei ließ, trieb die Pferde mit Peitschengeknall an. Sie hörte die Glocken von Saint-Sulpice läuten. Die leeren, dunklen Straßen kamen ihr gespenstisch vor. Aber auf dem Anlegeplatz an der Seine wimmelte es von Passagieren, von Flußschiffern und Stauern, die die Abfahrt vorbereiteten. Sie hörte Befehle und Rufe. Als das Schiff ablegte und seine Schaumspur in das graubraune Wasser des Flusses zeichnete, schien die Sonne an einem frühlingshaften Himmel, und Flora trank einen heißen Tee in der Kabine. Ohne Zeit zu verlieren, notierte sie in ihr Tagebuch: 12. April 1844. Und dann machte sie sich daran, ihre Reisegefährten näher zu betrachten. Sie würden Auxerre in der Abenddämmerung erreichen. Zwölf Stunden, um deine Kenntnisse über Arm und Reich anhand dieser reisenden Musterkollektion zu erweitern, Florita.
Es reisten wenige Angehörige des Bürgertums. Eine Gruppe Flußschiffer, die landwirtschaftliche Produkte aus Joigny und Auxerre nach Paris befördert hatten, kehrte an ihren Herkunftsort zurück. Sie umringten ihren Patron, einen etwa fünfzigjährigen bärtigen Rotschopf mit schwärzlichem Gesicht, mit dem Flora eine freundliche Unterhaltung führte. Er saß im Kreis seiner Männer auf Deck und gab ihnen um neun Uhr morgens Brot nach Belieben, sieben oder acht Rettiche, eine Prise Salz und jedem zwei hartgekochte Eier. Und in einem Zinnbecher, der von Hand zu Hand ging, ein Schlückchen Wein des Landes. Diese Flußschiffer verdienten anderthalb Francs für einen Tag Arbeit und überstanden die langen Winter nur mit Mühe und Not. Ihre Arbeit unter freiem Himmel war hart in der regenreichen Jahreszeit. Dennoch gewahrte Flora in dem Verhältnis zwischen diesen Männern und dem Patron nicht die Unterwürfigkeit, wie sie die englischen Seeleute an den Tag legten, die kaum wagten, ihren Vorgesetzten in die Augen zu blicken. Um drei Uhr nachmittags teilte der Patron das letzte Essen des Tages an sie aus: Schinkenscheiben, Käse und Brot, die sie, im Kreis sitzend, schweigend verzehrten.
Im Hafen von Auxerre dauerte es höllisch lange, bis ihr Gepäck ausgeladen war. Der Schlosser Pierre Moreau hatte ihr ein Zimmer in einer zentral gelegenen, kleinen, dunklen Herberge reserviert, zu der sie im Morgengrauen gelangte. Während sie auspackte, schimmerte das erste Licht am Himmel. Sie legte sich ins Bett, obwohl sie wußte, daß sie kein Auge zutun würde. Aber zum ersten Mal seit langer Zeit kreisten ihre Gedanken in den wenigen Stunden, in denen sie vom Bett aus zusah, wie hinter den Kretonnevorhängen das Tageslicht heraufzog, nicht um ihre Mission, um die leidende Menschheit oder um die Arbeiter, die sie für die Arbeiterunion gewinnen wollte. Sie dachte an das Haus, in dem sie zur Welt gekommen war, in Vaugirard, am Rand von Paris, in einem dieser bürgerlichen Vororte, die sie jetzt verabscheute. War es dieses weiträumige, behagliche Haus mit seinen gepflegten Gartenanlagen und geschäftigen Dienstmädchen, das in deiner Erinnerung aufstieg, oder waren es die Beschreibungen deiner Mutter, als ihr nicht mehr im Reichtum, sondern in Armut lebtet und die hilflose Frau sich mit diesen ergötzlichen Erinnerungen über die Feuchtigkeitsflecken, das dichte Aufeinanderleben, die Enge und Häßlichkeit der beiden kleinen Zimmer in der Rue du Fouarre hinwegtröstete? Dort hattet ihr Zuflucht suchen müssen, nachdem die Behörden euch aus dem Haus in Vaugirard vertrieben hatten, mit der Begründung, die Ehe deiner Eltern, die ein expatriierter französischer Geistlicher in Bilbao geschlossen hatte, sei ungültig und Don Mariano Tristán, Spanier aus Peru, sei Bürger eines Landes, mit dem Frankreich sich im Krieg befinde.
Es lag nahe, Florita, daß deine Erinnerung aus den ersten Jahren nur das bewahrte, was deine Mutter dir erzählt hatte. Du warst zu klein, um dich an die Gärtner, an die Dienstmädchen zu erinnern oder an die mit Samt und Seide gepolsterten Möbel, die schweren Vorhänge, die Gegenstände aus Silber, Gold, Kristall und handbemalter Keramik, die das Wohn- und das Eßzimmer schmückten. Madame Tristan flüchtete sich in die glanzvolle Vergangenheit in Vaugirard, um nicht die Not und das Elend der übelriechenden Place Maubert sehen zu müssen, auf der es nur so wimmelte von Bettlern, Vagabunden und sonstigem Gesindel, oder die Rue du Fouarre mit ihren Spelunken, in der du einige Kindheitsjahre verbrachtest, an die du dich sehr wohl erinnern konntest. Die Schüsseln mit Wasser hinauf- und hinuntertragen, den Mülleimer hinauf-und hinuntertragen. Immer in der Furcht, auf der steilen Treppe mit den morschen, knarrenden Stufen diesem alten Trunkenbold mit hochrotem Gesicht und geschwollener Nase zu begegnen, Onkel Giuseppe mit der lockeren Hand, der dich mit seinem Blick beschmutzte und dich manchmal kniff. Jahre des Mangels, der Angst, des Hungers, der Traurigkeit, vor allem wenn deine Mutter in einen Zustand wirrer Betäubung versank, unfähig, ihr Unglück zu akzeptieren, nachdem sie wie eine Königin gelebt hatte mit ihrem Ehemann – ihrem rechtmäßigen Ehemann vor Gott, trotz allem und jedem – Don Mariano Tristán y Moscoso, Oberst der Armee des Königs von Spanien, früh verstorben an einem plötzlichen Schlaganfall am 4. Juni 1807, als du gerade erst vier Jahre und zwei Monate alt warst.
Es war auch unwahrscheinlich, daß du dich an deinen Vater erinnern konntest. Das volle Gesicht, die dichten Augenbrauen und der krause Schnurrbart, die leicht rosige Gesichtshaut, die Hände voller Ringe, die langen grauen Koteletten, wie sie in deiner Erinnerung lebten, gehörten nicht dem Vater aus Fleisch und Blut, der dich auf seinem Arm in den Garten in Vaugirard trug, damit du die Schmetterlinge sehen konntest, die zwischen den Blumen flatterten, und sich bisweilen herbeiließ, dir die Flasche zu geben, diesem Herrn, der stundenlang in seinem Arbeitszimmer die Chroniken französischer Reisender in Peru las, dem Don Mariano, der zu Hause den jungen Simón Bolívar empfing, den künftigen Befreier Venezuelas, Ecuadors, Boliviens und Perus. Sie gehörten dem Bildnis, das in der kleinen Wohnung der Rue du Fouarre auf dem Nachttisch deiner Mutter stand. Sie gehörten Don Marianos Porträts in Öl, die die Familie Tristán in ihrem Haus in der Calle Santo Domingo, in Arequipa, besaß und vor denen du Stunden zugebracht hattest, bis du schließlich sicher warst, daß dieser gutaussehende, elegante, wohlhabende Herr dein Erzeuger war.
Sie vernahm die ersten morgendlichen Geräusche in den Straßen von Auxerre. Flora wußte, daß sie nicht mehr schlafen würde. Ihre Verabredungen begannen um neun. Sie verdankte sie alle dem Schlosser Moreau und den Empfehlungsschreiben des guten Agricol Perdiguier an seine Freunde der hiesigen Arbeitergenossenschaften. Du hattest Zeit. Noch eine Weile im Bett, und du wärst besser gerüstet, um den Umständen gewachsen zu sein, Andalusierin.
Was wäre gewesen, wenn Oberst Don Mariano Tristán noch viele Jahre weitergelebt hätte? Du hättest die Armut nicht kennengelernt, Florita. Dank einer guten Mitgift wärst du jetzt verheiratet mit einem gutsituierten Bürger und würdest vielleicht in einer schönen Villa mit Park in Vaugirard leben. Du würdest nicht ahnen, was es heißt, ins Bett zu gehen, während der Hunger dir die Eingeweide zerreißt; du würdest nicht wissen, was Begriffe wie »Herabsetzung« und »Ausbeutung« bedeuten; »Ungerechtigkeit« wäre ein abstraktes Wort für dich. Aber deine Eltern hätten dir vielleicht Bildung mitgegeben, Schulen, Lehrer, einen Hauslehrer. Sicher war das freilich nicht: ein Mädchen aus guter Familie wurde nur dazu erzogen, sich einen Ehemann zu angeln und eine gute Mutter und Hausfrau zu sein. All die Dinge, die du aus Not lernen mußtest, wären dir unbekannt. Andererseits würdest du diese Rechtschreibfehler nicht...
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