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Als Urania Cabral nach langen New Yorker Exiljahren nach Santo Domingo zurückkehrt, auf die Insel, die sie nie wieder betreten wollte, findet sie ihren Vater stumm und im Rollstuhl vor. Der einstige Senatspräsident und Günstling des Diktators blickt sie auf ihre schweren Vorwürfe nur starr an, und Urania bleibt allein mit ihren Erinnerungen an die Zeit der Willkür - und an ein ungeheuerliches Geschehen.Mit ihr kehren wir zurück ins Jahr 1961, als die dominikanische Hauptstadt noch Ciudad Trujillo heißt. Dort herrscht der »Große Wohltäter«, er hat fast das ganze Land in seinen persönlichen Besitz gebracht. Militär, Kirche, amerikanische Botschaft hält er vermeintlich in Schach, aber seine Attentäter sind längst unterwegs - ohne ihrerseits zu ahnen, dass in ihrem Rücken ein machiavellistischer Machtwechsel im Gange ist.Im eisigen Zentrum von Vargas Llosas Roman steht die nur allzu reale Gestalt des General Leónidas Trujillo, genannt »Der Ziegenbock«. Doch der Blick des Schriftstellers dringt unter die historische Haut, macht uns zu Zeitgenossen, zu Mitwissern. Den Verschwörern mit ihrer brennenden Begierde, ihren Demütiger zu beseitigen, den intelligenten Politschranzen und den Opfern gibt der Erzähler seine eindringliche Stimme. Ein Roman über die Psychographie der Macht und ihrer Verheerungen, der sich wie ein Thriller liest.
Urania. Ihre Eltern hatten ihr keinen großen Gefallen getan; ihr Name ließ an einen Planeten denken, an ein Mineral, an alles mögliche, nur nicht an die schlanke Frau mit feinen Gesichtszügen, glatter Haut und großen dunklen, ein wenig traurigen Augen, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte. Urania! Was für ein Einfall. Zum Glück nannte sie niemand mehr so, sondern Uri, Miss Cabral, Mrs. Cabral oder Dr. Cabral. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte seit ihrem Fortgang aus Santo Domingo (»besser gesagt, aus Ciudad Trujillo«, damals hatte man der Hauptstadt noch nicht ihren Namen zurückgegeben) niemand, weder in Adrian noch in Boston, noch in Washington D.C. oder in New York, sie jemals wieder Urania genannt wie früher zu Hause und in der Santo-Domingo-Schule, wo die Sisters und ihre Klassenkameradinnen den absurden Namen, den man ihr bei der Geburt auferlegt hatte, ganz korrekt aussprachen. War es seine oder ihre Idee gewesen? Zu spät, um das herauszufinden, Mädchen; deine Mutter ist im Himmel und dein Vater ein lebender Leichnam. Du wirst es nie erfahren. Urania! Genauso abwegig, wie das alte Santo Domingo de Guzmán zu beleidigen, indem man es Ciudad Trujillo nannte. Ob das wohl auch eine Idee ihres Vaters gewesen war?
Sie wartet darauf, daß im Fenster ihres Zimmers im neunten Stock des Hotels Jaragua das Meer erscheint, und endlich sieht sie es. Die Dunkelheit weicht in wenigen Sekunden, und mit dem rasch heraufziehenden bläulichen Schein am Horizont beginnt das Schauspiel, auf das sie wartet, seit sie um vier Uhr aufgewacht ist, obwohl sie trotz ihrer Aversion gegen Schlafmittel eine Tablette genommen hat. Die dunkelblaue Oberfläche des Meeres, aufgerauht durch Schaumflecken, wird an der fernen Linie des Horizonts auf einen bleifarbenen Himmel treffen und bricht sich geräuschvoll in schaumigen Wellen an der Uferpromenade, deren Bürgersteig sie durch die Palmen und Mandelbäume, die ihn säumen, hier und da erkennen kann. Damals ging das Hotel Jaragua mit der Vorderseite auf die Promenade hinaus. Jetzt mit der Schmalseite. In ihrer Erinnerung steigt das Bild des kleinen Mädchens auf – an jenem Tag? –, das an der Hand seines Vaters das Restaurant des Hotels betritt, wo sie beide ganz allein essen wollen. Man gab ihnen einen Tisch am Fenster, und Urania konnte durch die Vorhänge hindurch den weiträumigen Garten und den Swimmingpool mit Sprungbrettern und Badegästen sehen. Ein Orchester spielte Merengues im Spanischen Hof, den Kacheln und Nelken in Blumentöpfen schmückten. War es an jenem Tag gewesen? »Nein«, sagt sie mit lauter Stimme. Das damalige Hotel Jaragua hatte man abgerissen und durch dieses große pinkfarbene Gebäude ersetzt, das sie bei ihrer Ankunft in Santo Domingo drei Tage zuvor so überrascht hatte.
Hast du gut daran getan, zurückzukommen? Du wirst es bereuen, Urania. Eine Ferienwoche zu vergeuden, wo du nie Zeit hattest, all die Städte, Regionen, Länder kennenzulernen, die du gern gesehen hättest – die beschneiten Bergketten und Seen Alaskas zum Beispiel –, und auf die kleine Insel zurückzukehren, die nie wieder zu betreten du dir geschworen hattest. Zeichen des Niedergangs? Herbstliche Sentimentalität? Neugier, nichts weiter. Dir beweisen, daß du durch die Straßen dieser Stadt laufen kannst, die nicht mehr deine ist, dieses fremde Land bereisen kannst, ohne Traurigkeit, Wehmut, Haß, Bitterkeit, Wut zu empfinden. Oder bist du gekommen, um dich mit dem menschlichen Wrack deines Vaters zu konfrontieren? Um herauszufinden, welche Wirkung sein Anblick nach so vielen Jahren auf dich hat? Ein Schauer läuft ihr den Rücken hinunter. Urania, Urania! Vielleicht entdeckst du ja noch nach so vielen Jahren, daß unter deinem willensstarken, wohlgeordneten, gegen Mutlosigkeit gefeiten Kopf, hinter dieser Festung, die man an dir bewundert und um die man dich beneidet, ein ängstliches, verletztes, sentimentales kleines Herz schlägt. Sie lacht auf. Schluß mit den Albernheiten, Mädchen.
Sie zieht die Turnschuhe, die Sportkombination an, faßt ihr Haar mit einem Haarnetz zusammen. Sie trinkt ein Glas kaltes Wasser und schickt sich an, den Fernseher einzuschalten, um CNN zu sehen, aber sie überlegt es sich anders. Sie bleibt am Fenster stehen und betrachtet das Meer, die Uferpromenade und nach einem leichten Drehen des Kopfes den Wald aus Dächern, Türmen, Kuppeln, Glockentürmen und Baumwipfeln der Stadt. Wie sie gewachsen ist! Als du sie 1961 verlassen hast, beherbergte sie dreihunderttausend Seelen. Jetzt mehr als eine Million. Sie hat sich um ganze Viertel, breite Straßen, Parks und Hotels vermehrt. Am Vortag hatte sie sich wie eine Fremde gefühlt, als sie in einem Mietwagen durch die eleganten Wohnkomplexe von Bella Vista und den riesigen Park El Mirador gefahren war, wo es genauso viele Jogger gab wie im Central Park. In ihrer Kindheit endete die Stadt am Hotel El Embajador; dort begannen die Plantagen und Saatfelder. Der Country Club, in den ihr Vater sie an den Sonntagen zum Swimmingpool mitnahm, war von freien Feldern umgeben, und nicht von Asphalt, Häusern und Lichtmasten wie jetzt.
Aber der koloniale Stadtteil wurde nicht erneuert, auch nicht Gazcue, ihr Viertel. Und sie ist sich ganz sicher, daß ihr Haus sich kaum verändert hat. Es wird das alte sein mit seinem kleinen Garten, dem alten Mangobaum und dem rotblühenden Flamboyant, der sich über die Terrasse neigte, auf der sie am Wochenende im Freien zu essen pflegten; mit seinem Satteldach und dem kleinen Balkon ihres Schlafzimmers, auf den sie hinaustrat, um ihre Cousinen Lucinda und Manolita zu erwarten und, in jenem letzten Jahr, 1961, um diesen Jungen abzupassen, der auf dem Fahrrad vorbeifuhr und sie verstohlen anschaute, ohne zu wagen, das Wort an sie zu richten. Ob es drinnen auch unverändert war? Die Kuckucksuhr, die die Stunden schlug, war mit gotischen Ziffern und einer Jagdszene bemalt. Ob dein Vater unverändert war? Nein. Du hast seinen Verfall auf den Photos verfolgt, die Tante Adelina und andere ferne Verwandte, die dir weiter schrieben, obwohl du ihre Briefe nie beantwortet hast, alle paar Monate oder Jahre schickten.
Sie läßt sich in einen Sessel fallen. Die Strahlen der aufgehenden Sonne treffen das Zentrum der Stadt; die Kuppel des Regierungspalastes und seine blaß ockerfarbenen Mauern leuchten sanft unter dem blauen Gewölbe. Geh endlich hinaus, bald wird die Hitze unerträglich sein. Sie schließt die Augen, von einer Trägheit erfaßt, die sie selten befällt, sie, die gewohnt ist, immer aktiv zu sein, keine Zeit mit dem zu verlieren, was sie, seit sie ihren Fuß wieder auf dominikanischen Boden gesetzt hat, Tag und Nacht tut: sich erinnern. »Diese Tochter, immer am Arbeiten, noch im Schlaf wiederholt sie die Aufgaben.« Das sagte der Senator Agustín Cabral über dich, der Minister Cabral, Cerebrito – Köpfchen – Cabral, wenn er vor seinen Freunden mit dem kleinen Mädchen prahlte, das alle Preise gewann, mit der Schülerin, die von den Sisters immer als Vorbild hingestellt wurde. Ob er wohl vor dem Chef mit Uranitas schulischen Leistungen prahlte? »Es würde mich sehr freuen, wenn Sie sie kennenlernen, sie hat seit ihrem Eintritt in die Santo-Domingo-Schule jedes Jahr den Klassenpreis bekommen. Es wäre das höchste Glück für sie, Sie kennenzulernen, Ihnen die Hand zu geben. Uranita betet jeden Abend, damit der liebe Gott Ihnen Ihre eiserne Gesundheit erhält. Und auch für Doña Julia und Doña María. Gewähren Sie uns diese Ehre. Darum bittet, darum fleht, darum winselt der treueste Ihrer Hunde. Sie können mir das nicht abschlagen: empfangen Sie sie. Exzellenz! Chef!«
Verabscheust du ihn? Haßt du ihn? Noch immer? »Nicht mehr«, sagt sie mit lauter Stimme. Du wärst nicht zurückgekehrt, wenn das Ressentiment noch schwelen, die Wunde bluten, die Enttäuschung dich erdrücken, dich vergiften würde, wie in deiner Jugend, als Lernen und Arbeiten zum obsessiven Mittel wurden, dich nicht zu erinnern. Damals hast du ihn tatsächlich gehaßt. Mit allen Fasern deines Wesens, mit allen Gedanken und Gefühlen, die in deinem Körper Platz fanden. Du hast ihm Mißgeschicke, Krankheiten, Unfälle an den Hals gewünscht. Gott hat dir den Gefallen getan, Urania. Oder eher der Teufel. Ist es nicht genug, daß der Gehirnschlag ihn zu Lebzeiten getötet hat? Eine süße Rache, daß er seit zehn Jahren im Rollstuhl sitzt, ohne gehen, sprechen zu können, daß er abhängig von einer Krankenschwester ist, um zu essen, ins Bett zu gehen, sich anzukleiden, sich auszukleiden, sich die Nägel zu schneiden, sich zu rasieren, seine Blase und seinen Darm zu entleeren? Fühlst du Genugtuung? »Nein.«
Sie trinkt ein zweites Glas Wasser und geht hinaus. Es ist sieben Uhr morgens. Im Erdgeschoß des Hotels Jaragua überfällt sie der Lärm, dieses schon vertraute Ambiente aus Stimmen, Motorgeräuschen, voll aufgedrehten Radios, Merengues, Salsas, Danzones und Boleros oder Rock und Rap, die sich vermischen, sich gegenseitig attackieren, sie attackieren mit ihrem schrillen Getöse. Belebtes Chaos, tiefes Bedürfnis deines einstigen Volkes, Uranita, sich zu betäuben, um nicht zu denken und vielleicht nicht einmal zu fühlen. Aber auch Explosion wilden Lebens, das den Wellen der Modernisierung widersteht. Etwas in den Dominikanern klammert sich an diese vorrationale, magische Form: dieses Verlangen nach Lärm. (»Nach Lärm, nicht nach Musik.«)
Sie kann sich nicht...
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