1. Kapitel
Sein Blick schweifte hinüber zur metallbeschlagenen Kerkertür. Von Schmutz und Schimmelpilz geschwärzt, zeugten unzählige Kratzer auf ihrer Oberfläche von der Angst und der Verzweiflung, die sich im Laufe der Jahrhunderte hier eingenistet hatten. Bruno hatte sich geschworen, sein Gefängnis aufrecht zu verlassen. Der Hass hielt ihn am Leben. Die heuchlerischen Würdenträger, die einst kaum eine Meile weit von hier das Urteil über ihn gesprochen hatten, suchten stets den Anschein zu erwecken, dass er nur eine unter tausend hoffnungslos verirrten Seelen war. Ein bedeutungsloser alter Ketzer, dessen Name längst vergessen wäre, hätte ihn der pure Zufall nicht für diesen Tag zur Hinrichtung bestimmt. Doch Bruno wusste, dass es anders war. Sie hatten Angst vor ihm; er spürte ihre Zweifel. Konnte es einen besseren Beweis für seine Unschuld geben?
Ein Knirschen ertönte, als der Riegel zurückgeschoben wurde. Die Tür öffnete sich, und der Lichtschein einer Fackel durchstieß die Finsternis. Giordano Bruno wandte sich geblendet ab.
»Steh auf, du Missgeburt!«, herrschte ihn der Kerkermeister an.
Im nächsten Augenblick spürte er die groben Hände an der Brust, die ihn mit einem Ruck nach oben rissen. Ein zweiter Mann griff zu und stützte ihn, damit er nicht vor Schwäche fiel.
Die beiden Wärter fassten ihn roh bei den Seiten, legten seine Arme um ihre Schultern und schleiften ihn davon. Der Weg führte sie unzählige Treppen hinauf durch ein Labyrinth verwinkelter und ineinander verschlungener Korridore, bis sie schließlich einen großen Raum erreichten, in dessen Mitte ein massiver Holztisch stand, auf den sie den Gefangenen zerrten.
»Schwer wie ein Sack Mehl ist dieser Hund!«, keuchte einer der beiden erschöpft. »Die Strolche leben besser als wir Knechte - eine Schande ist das!«
»Halt's Maul!«, fuhr ihn sein Kumpan an. »Der macht heute seine letzte Fahrt.«
Bruno achtete nicht auf seine Peiniger, sondern starrte unverwandt auf das kleine Fenster in der Wand, das den Blick hinaus auf den wolkenlosen Himmel freigab. Wann hatte er das letzte Mal die Sonne in ihrem wunderschönen Glanz gesehen? Beeindruckt von dem Ausblick, ließ er es fast ruhig geschehen, dass man ihm Arme und Beine an den Tisch fesselte und schließlich einen breiten Lederriemen um die Brust schnürte, sodass er kaum noch atmen, geschweige denn sich regen konnte.
»Die Schelle«, rief der Ältere von beiden, dem das Kommando zu obliegen schien. Der Jüngere gehorchte wortlos und nahm eine halbkugelförmige Eisenmaske von der Wand, an deren Hinterseite sich zwei verschließbare Metallstreifen befanden. Der Alte nahm das Stück entgegen, und ein tückisches Grinsen verzerrte sein Gesicht, als er die Maske öffnete und auf die zentimeterlangen Dornen wies, die von der Unterseite hin zur Mitte ragten. »Pater Nino Pirotti hat gewünscht, dass ich dein Maul stopfe. Natürlich muss ich den Befehlen eines Ordensherren Folge leisten ...«
Bruno blieb gefasst. Es durfte ihn nicht kümmern, was sie mit ihm machten. Sollten sie nur seinen Leib zerstören, wenn sie kein besseres Mittel wussten. Das Zittern seiner Hände versuchte er vor ihren Blicken zu verbergen.
»Es freut mich, dass du mir deine Erlaubnis gibst«, entgegnete der Alte spöttisch. »Das macht die Sache gleich viel leichter. Halt seinen Kopf fest, Nieri, es geht los!«
Es knackte metallisch, als er die Verriegelung der Schelle löste. Gleich darauf spürte Bruno die Maske auf der oberen Gesichtshälfte. Dann fügte Nieri sie auf Befehl des Alten am Hinterkopf zusammen. Bruno stöhnte auf, als der Schinder zu einem kräftigen Schlag ausholte. Kurz darauf betäubten ihn die einsetzenden Schmerzen schier.
»Das reicht noch nicht«, hörte er die dumpfe Stimme Nieris wie durch einen Nebelschleier.
»Sehe ich selbst, du Dummkopf«, rief der Alte und hob die Hand ein zweites Mal. Bruno drohte in Bewusstlosigkeit abzusinken. Die Dornen verursachten ihm Höllenqualen. Stiche durchpulsten seinen Gaumen, wühlten sich in seine Schläfen, während das Blut den Gaumen ausfüllte und ihm außen an den Mundwinkeln hinabrann.
»Scheint's, er erstickt gleich«, bemerkte Nieri gleichgültig, während er die zweite Verriegelung der Maske schloss. Jetzt saß sie unverrückbar fest. Der Folterknecht zuckte müde seine Achseln. Der ganze Aufwand nur, damit der Ketzer nicht mehr predigte. Dabei würde er den nächsten Morgen ohnehin nicht mehr erleben.
Der Alte drehte Brunos Kopf so, dass das Blut in einem Schwall aus seinem Mund floss und über die Tischkante auf den kalten Boden schwappte. Der leichte Stoß, den er der Maske ungewollt versetzte, brannte sich wie Feuer in den Kiefer des Gefangenen.
»Jetzt die Arm- und Beinschellen«, befahl der Alte. »Und dann hinaus mit ihm, nach unten auf den Hof. Die Brüder warten schon auf uns.«
Nieri tat wie aufgetragen, und wenige Minuten später hoben sie den stöhnenden Bruno vom Tisch herunter und stellten ihn unsanft auf die Beine. Er erlebte wie in einem Fiebertraum, dass die beiden ihn abermals an beiden Schultern packten und nach unten schleppten. Selbst die Strahlen der Vormittagssonne, die sich grell auf sein blutverschmiertes Gesicht ergossen, vermochten seinen Geist nicht zu erreichen. Blicklos starrte er auf die Abordnung der Kuttenträger, die ihn vor dem Tor des Kastells erwarteten. Die >Bruderschaft des Heiligen Johannes des Enthaupteten< ließ es sich nicht nehmen, ihm auf seinem letzten Weg Geleit zu geben.
Einer von ihnen, den der Kerkermeister als Pater Nino Pirotti vorgestellt hatte, löste sich aus ihren Reihen und trat auf die beiden Knechte und den Delinquenten zu.
»Der Ketzer Giordano Bruno, Pater«, sagte der Alte ehrfürchtig, »den Mund verschlossen, ganz wie Ihr befohlen habt!«
Der Geistliche nickte und fasste nach der Eisenschelle. Der Gefangene stöhnte unterdrückt, als er das Kinn mit einer kurzen Geste anhob.
»Gute Arbeit«, erklärte Pirotti mit einem verschlagenen Lächeln. Dann wandte er sich zu den anderen um und deutete auf den bespannten Holzkarren vor dem Tor, auf dem mehrere befestigte Holzbalken sich zu einem hohen Rechteck türmten. »Schnallt ihn auf den Wagen! Die Menschen sollen erfahren, dass niemand Gottes Antlitz ein Leben lang ungestraft verhöhnen kann.« Kurz darauf wandte er sich wieder an die Knechte. »Euch beiden jedoch gebührt mein Dank.« Er fasste unter seine Kutte und förderte zwei Münzen zutage, von denen er den beiden jeweils eine in die ausgestreckte Rechte drückte. »Einen halben Dukaten für jeden. Ich denke, dass ihr damit etwas anzufangen wisst.«
Die beiden Knechte verneigten sich höflich und zogen sich anschließend in das Innere des Kastells zurück. Die Blicke aber, die sie sich beim Fortgehen zuwarfen, machten deutlich, dass sie sich mindestens das Doppelte erhofft hatten.
Pirotti wartete unterdessen darauf, dass man den Gefangenen an die Balken schnürte, und gab anschließend den Befehl zum Aufbruch. Einer der Patres trat zu dem Pferd, das vor den Karren gespannt war, griff in die Zügel und befahl dem Gaul anzutraben. Sekunden später holperte der Wagen in Schrittgeschwindigkeit zum Tor hinaus, begleitet von der Reihe Dominikaner, die den Gefangenen während keiner Sekunde seiner Überführung aus den Augen ließen.
Der Zug führte sie quer durch die belebte, morgendliche Innenstadt. Giordano Bruno ließ die Rufe der Schaulustigen ohne Regung über sich ergehen. Ihre Hetze konnte seine Schmerzen weder lindern noch verstärken. Diese Leute kannten seinen Namen nicht, genauso wenig wie den Schuldspruch, den man über ihn gefällt hatte. In Padua freilich, wo er einige Zeit an der Universität gelehrt hatte, wäre sein Gesicht den meisten ein Begriff gewesen. Giordano Bruno, der gelehrte Pater, der es gewagt hatte, das aristotelische Universum auf den Kopf zu stellen, indem er die Sonne statt der Erde zum Mittelpunkt der Welt erklärte. Dieser wiederholte Frevel ließ keine andere Reaktion zu als sofortige, ungemilderte Bestrafung.
Sein Körper wurde durchgeschüttelt, als das rechte Rad des Karrens über ein faustgroßes Loch im Straßenboden holperte. Sein Kopf ruckte herab und streifte seine Brust - das Feuer in seinem Gaumen wurde dadurch nur von Neuem angefacht. Er keuchte, als die Wunden abermals aufrissen und er das süße Blut auf seiner Zunge schmeckte. Erst jetzt bemerkte er den Pater, der zu ihm auf den Karren geklettert war und ihm ein Bild des Papstes vors Gesicht hielt.
»Gestehe deine Sünden vor dem Antlitz Clemens' VIII.!«, rief er und presste ihm das Bildnis auf die Lippen. »Bereue, und der Allmächtige wird dir all deine Irrtümer verzeihen. Gestehe! Gestehe! Gestehe!«
Das Stöhnen Brunos schien den Pater zu ermuntern. »Huldige dem Allmächtigen, indem du das Bildnis seines Stellvertreters küsst, und büße!«
Doch seine eigene Starrsinnigkeit hinderte Bruno ebenso wie die Dornen in seinem Unterkiefer, dem Befehl des Dominikaners Folge zu leisten.
»Er ist verstockt!«, rief der Pater...