1. Kapitel
Sie hatte nicht preisgegeben, welches Ergebnis die Beschwörung gezeitigt hatte, aber Coco kannte sich gut genug auf dem Gebiet der Schwarzen Magie aus, um zu wissen, dass das Lebensband zwischen Nevermann und ihr weiterhin Bestand hatte. Darauf deutete auch das höhnische Grinsen hin, das der Hexer in dieser Sekunde zur Schau trug, und mit dem er Rebecca bis aufs Blut reizte. Nur die Lebenszeit hatte sie ihm nehmen können, aber - und das war auch für Coco eigentlich unfassbar - selbst nicht nutzen, sondern lediglich auf ihre Fledermausgeschöpfe übertragen können. Jeder ihrer Lieblinge besaß nun also ein um ein Jahr verlängertes Leben? Diese Rechnung war eigentlich absurd, denn die Fledermäuse waren Untote. Diener Rebeccas, die ohnehin unsterblich waren.
Coco zerbrach sich vorerst nicht den Kopf darüber. Viel lieber hätte sie gewusst, was die Vampirin nun mit ihr vorhatte.
Das ungleiche Trio durchschritt den feuchtkalten Kellerraum, in den die Diele mündete, und Rebecca öffnete eine unscheinbare, aus leichten Brettern zusammengezimmerte Holztür, hinter der Coco höchstens eine Abstellkammer oder einen Wäscheraum vermutet hätte.
Nicht aber diesen Saal!
Erstaunt blieb die ehemalige Hexe auf der Schwelle stehen und ließ ihren Blick über die unzähligen Regale schweifen, die den riesigen Raum in mehrere endlos scheinende Gänge aufteilten. Jedes dieser Regale besaß eine Höhe von über vier Metern - obwohl der gesamte Keller diese Höhe niemals haben konnte! Doch Coco glaubte nicht an eine optische Täuschung. Magie machte vieles möglich, was auf den ersten Blick unglaublich erschien.
»Sieh genau hin!«, zischte Rebecca und genoss den Moment des Triumphes, der sie für die vergangene Niederlage entschädigte. »Damit hast du nicht gerechnet, was?«
In der Tat. Coco schritt an Nevermann und der Vampirin vorüber, ohne sie weiter zu beachten. Die Umgebung hatte sie völlig in ihren Bann gezogen. Die Gegenstände, Fetische, magische Skulpturen und Schriften, die sich in den Regalen sammelten, waren von unschätzbarem Wert!
»Das Archiv!«, hauchte sie ehrfürchtig, während sie mit den Fingern über die Regalbretter strich. Sie erblickte Körperteile, Pfänder von Dämonen, Herzen, Arme, Beine, sogar einen Kopf. Dann wieder Gegenstände, die eher symbolischen Wert besaßen. Kristalle, die in tausend Farben funkelten, Schriften, in denen Dämonen unter Eid versicherten, dem Fürsten der Finsternis bis in den Tod ergeben zu sein, und unzählige Gläser, in denen Flüssigkeiten von verschiedenen Farben schwammen. Tinkturen, Salben, magische Essenzen ...
»So etwas habe ich noch nie gesehen!«, gab Coco zu. Sie konnte den Blick kaum von den Regalen lösen. Welche Macht war hier verborgen! Wer dieses Archiv in seinen Besitz bekam, konnte die Schwarze Familie auf einen Schlag vernichten oder zumindest zurück in die Steinzeit stürzen.
»Du gibst also zu, dass nicht einmal Zakums Archiv an diese Sammlung heranreicht?«
Coco registrierte erst mit einiger Verspätung, dass Rebeccas Frage an sie gerichtet war. Irritiert wandte sie den Kopf.
»Zakum?«, erwiderte sie ahnungslos.
Rebecca strahlte. »Ich wusste, dass es unvergleichlich ist! Du wolltest mir nie erzählen, wie groß das Archiv des Lordkanzlers ist und welche Gegenstände er darin untergebracht hat. Jetzt habe ich den Beweis, dass es diese Sammlung niemals übertrifft!«
Coco verstand immer noch nicht. »Zakum hat sein Archiv an Olivaro verloren. Niemand weiß, wie viel davon erhalten geblieben ist.«
»Davon rede ich nicht«, entgegnete Rebecca scharf. Ihre Augen wurden schmal. »Du redest wirres Zeug, Coco. Irgendetwas stimmt mit dir nicht, das merke ich ganz genau. Willst du mir etwas verheimlichen?«
Coco lachte auf, aber es klang unsicher und gekünstelt. Die Vampirin lag mit ihrer Vermutung gar nicht mal so falsch. Coco hätte Stein und Bein geschworen, Zakums Archiv niemals in ihrem Leben betreten zu haben. Wie kam Rebecca auf diese verrückte Idee?
Plötzlich stockte die ehemalige Hexe. Bilder tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Bilder, die es in ihrer Erinnerung eigentlich gar nicht geben konnte.
Das kalte Herz ...
Sie sah sich selbst vor einer Wand stehen, an der mehrere Herzen aufgereiht waren, die jeweils für verschiedene dämonisch hässliche Eigenschaften standen: Hinterlist, Bosheit, Zügellosigkeit ... und das Schlimmste: Kaltherzigkeit.
»Du kannst dir eines dieser Herzen aussuchen, Coco«, hörte sie eine Fistelstimme in ihrem Rücken. Der Lordkanzler hatte beschlossen, ihr die freie Wahl zu lassen.
Sie wischte sich mit der Hand über die Stirn.
»Was starrst du mich so an?«, fragte sie die Vampirin, um von ihrer eigenen Indisponiertheit abzulenken.
»Du hast dich verändert, Coco!«, stellte Rebecca unumwunden fest. »Oder du versuchst mich aufs Kreuz zu legen.« Misstrauen klang in ihrer Stimme auf. »Du erinnerst dich wirklich nicht mehr an das Abenteuer auf Gorshats Burg, von dem du mir erzählt hast? Warum hast du mir das letzte Nacht verschwiegen?«
Coco schüttelte verlegen den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich erinnere mich, aber es scheint Ewigkeiten zurückzuliegen. Ich weiß kaum mehr, was dort im Einzelnen geschah. Es ist, als habe mir jemand eine Sperre eingesetzt.«
»Dein Gedächtnis gelöscht?«
Coco zuckte die Schultern. An vieles erinnerte sie sich ganz deutlich. Anderes jedoch, von dem Rebecca erzählte, schien für Coco niemals geschehen zu sein. Jedes Mal wenn die Vampirin sie auf ihre Vergangenheit ansprach, brach ein Teil dieser verschütteten Erinnerung auf, und Coco zitterte insgeheim davor, wie viel sie wirklich vergessen hatte.
»Und das soll ich dir glauben?« Rebecca versuchte, sie mit ihren Blicken zu durchbohren. Schließlich entspannte sie sich. »Andererseits kenne ich dich gut genug. Du kannst mich nicht belügen.«
Coco bemühte sich, das Thema zu wechseln, da ihr die bohrenden Fragen Rebeccas ganz und gar nicht behagten.
»Was soll jetzt mit uns geschehen?«, fragte sie schließlich mit einem kurzen Blick auf Nevermann.
Rebecca deutete stumm zur gegenüberliegenden Wand des Raumes, in die zwei Türen eingelassen waren. Sie öffnete die linke und gebot Coco und dem Hexer einzutreten. Coco gab dem sanften psychokinetischen Druck nach, der sie vorwärts schob. Sie wusste selbst nicht recht, weswegen sie der Vampirin vorbehaltlos vertraute.
Sie betraten einen angenehm hell ausgeleuchteten Raum, dessen karge Ausstattung jedoch keinen Zweifel an seiner wahren Bestimmung ließ: Es handelte sich um ein Gefängnis. Mehrere Holzbänke und zwei kleine Tische waren fest auf dem Steinfußboden montiert. Kissen und Decken lagen achtlos übereinandergeworfen in der Ecke, und in einer Nische in der Seitenwand befanden sich Toilette und Waschbecken samt Handtüchern.
Sofort fiel Coco eine Art Spiegel auf, der an der Wand hing. Er war quadratisch und fast so groß wie ein Fernsehbildschirm. Coco konnte ihr Spiegelbild darin nur schlecht erkennen. Die Oberfläche bestand aus Kristall, ähnlich wie die magischen Kugeln, die innerhalb der Schwarzen Familie verbreitet waren.
Rebecca machte sich jedoch nicht die Mühe, ihnen zu erklären, was es mit dem Gegenstand auf sich hatte.
»Ich werde euch einsperren müssen, bis die Schlacht vorbei ist«, sagte sie kühl. »Danach kannst zumindest du, Coco, gehen, wohin es dir beliebt. Nevermann allerdings bleibt so lange mein Gefangener, bis das unglückselige Band zwischen uns gekappt ist. Ihr werdet weder Hunger noch Durst leiden, und ich schätze, dass ich dich in spätestens zwei Tagen gehen lassen kann. Diese Verwahrung erfolgt nur zu deinem eigenen Schutz.«
Coco hatte damit gerechnet, dass Rebecca sie gefangen setzen würde. Ohne ihre magischen Kräfte hatte sie keine Möglichkeit, sich dem Willen der Vampirin zu widersetzen. Es hätte auch nichts geholfen, an dieser Stelle einen Streit vom Zaun zu brechen. Sie dachte daran, Dorian anzurufen, sobald Rebecca verschwunden war und ihm die nötigen Hinweise über die Rechtskanzlei zukommen zu lassen. Dabei konnte sie nur hoffen, dass die Funkstrahlen des Handys nicht von der magischen Schutzglocke torpediert wurden.
»Was versprichst du dir davon, Rebecca?«, fragte sie.
Die Vampirin lachte. »Ganz einfach, Coco. Meine Ruhe! Das hast du dir alles selbst zuzuschreiben. Du hättest verschwinden sollen, solange es noch Zeit war.«
Die ehemalige Hexe schätzte ihre Chancen ab, Rebecca mit einem Sprung zu überwältigen. Aber die Vampirin würde auf der Hut sein. Außerdem warteten ihre Lieblinge im Erdgeschoss und würden Coco bestimmt nicht ohne Weiteres gehen lassen. Also fügte sich die ehemalige Hexe.
»Eine Frage habe ich noch«, meinte sie, als Rebecca sich daran machte, die Tür zu schließen.
»Ja?«
»Was befindet sich hinter der anderen Tür?«
Rebecca zögerte einen Moment, kam dann aber zu dem Schluss, dass Coco mit der Antwort im Augenblick ohnehin...