2. Kapitel
Erinnerst du dich noch an unser Aufeinandertreffen in Mablethorpe? Natürlich, wie könnte man so etwas jemals vergessen. Ich tötete Elisabeth im Glauben, dir damit das Leben zu retten. Damals ahntest du nicht, wie viel Überwindung mich dieser Schritt gekostet hat. Ich stand unter dem Bann Baphomets, und der Kinddämon hätte getobt, hätte er jemals die Wahrheit erfahren. Seit er von unserer früheren Freundschaft wusste, verdächtigte er mich ständig, gegen dich und den Dämonenkiller nicht skrupellos genug vorzugehen.
Aber ich will von vorn beginnen.
Es ist jetzt fast sechs Jahre her, seit ich dazu gezwungen wurde, von der Bildfläche zu verschwinden. Unsere letzte Begegnung in London verlief relativ unkompliziert, da keiner von uns beiden die Schatten sah, die über meiner Zukunft heraufgezogen waren.
Seit den Ereignissen um Atma hatte ich ein recht unbeschwertes Leben geführt. Nachdem Lydia ausgezogen war, bewohnte ich die Villa allein, und ich hatte nicht vor, an diesem Zustand etwas zu ändern.
Die Kristalle, die ich von deinem Bruder Georg erhielt, benutzte ich zunächst nur äußerst selten. Ich fürchtete, mir selbst damit womöglich einen Bärendienst zu erweisen, und leider erwies sich meine Angst im Nachhinein als nicht ganz unbegründet. Was, wenn ich mit diesem Machtpotenzial erst andere Dämonen auf mich aufmerksam machen würde?
Mit der Zeit aber wurde ich mutiger. Die Kristalle eröffneten mir Möglichkeiten, von denen ich früher nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Du weißt, dass ich zeit meines Lebens sogar Schwierigkeiten hatte, eine einfache magische Kugel zu bedienen.
Aber allein die Trugbilder, die ich mithilfe der Steine erzeugen konnte, faszinierten mich. Ich ging so weit, mir heimlich Spielkameraden oder Geliebte zu erschaffen, mit denen ich ganze Nächte verbrachte. Nicht nur im Bett, versteht sich. Es waren Freunde und keine Ungeheuer wie die restlichen Dämonen, die ich bis jetzt kennengelernt hatte. Wie lächerlich muss dieses kindische Gehabe in deinen Ohren klingen!
Gleichzeitig machte mich die Tatsache, dass die Steine in gewissem Sinne vor dämonischen Einflüssen schützten, mutig. Kein Schwarzblütiger konnte in die Wohnung eindringen, ohne seine Kräfte vollständig einzubüßen. Innerhalb meiner eigenen vier Wände war ich Herrin über Leben und Tod!
Meine Lieblinge, die Riesenfledermäuse, spürten die Glocke nicht. Vielleicht weil sie ein Teil meiner selbst sind. Vielleicht aber auch, weil sie in ihrer Gestalt nichts Magisches mehr an sich haben, da ihre Verwandlung ja längst abgeschlossen ist. Ich zerbrach mir nicht den Kopf darüber, sondern akzeptierte es einfach.
Doch die Zeit, da ich den Überschwang, mit dem ich von der Macht gekostet hatte, bereuen sollte, folgte auf dem Fuße. Ich weiß nicht einmal mehr, ob es Zufall war, dass Skarabäus Toth auf mich aufmerksam wurde. Ausgerechnet der Schiedsrichter der Schwarzen Familie, der in Wien zu Hause war, wohin ich bis jetzt immer äußerst gern gefahren war, da jede Reise ein Wiedersehen mit dir, meiner einzigen wirklichen Freundin, bedeutete.
Ein rangniedriger englischer Dämon war es, der eines Tages in Toths Auftrag vor meiner Tür stand und mich anwies, umgehend den Schiedsrichter aufzusuchen. Er sei aus irgendeinem Grunde sehr an meiner Person interessiert.
Zunächst erschrak ich, da ich ja all die Jahre nichts mehr fürchtete, als in die inneren Angelegenheiten der Schwarzen Familie hineingezogen zu werden. Ich wollte doch nichts als meine Ruhe haben! Doch der Dämon ließ nicht locker und drohte, Toth werde mich bestrafen, wenn ich seinem Willen nicht Folge leistete.
Da entsann ich mich der Schutzglocke. Ich spielte mit geringem Risiko, wie ich dachte, denn was konnte mir der Schiedsrichter schon anhaben? Hier in meinem Haus war ich sicher, und so brüskierte ich Toth mit einer unüberlegten Absage, die ich noch am selben Tage bitter zu bereuen hatte. Der Londoner Dämon war schnurstracks zu seinem Herrn geeilt und hatte ihm von meiner Weigerung berichtet.
Erinnerst du dich noch an die Worte deines Bruders, dass die Kristalle zwar große Macht besitzen, aber nicht unbezwingbar sind? Es gibt Möglichkeiten, ihre Wirkung aufzuheben, und nicht einmal Georg wusste darüber Bescheid.
Toth offenbar schon. Es war für mich ein Schock, wie leicht es ihm fiel, die Villa in der Park Lane einzunehmen. Diesmal war er höchstselbst gekommen und hatte auf jegliche Begleitung verzichtet. Ich spürte das Erlöschen der Kristallmagie wie einen elektrischen Schock, und die Taubheit kroch mir in alle Glieder, noch ehe ich ahnte, welche Ursache der plötzliche Schmerz gehabt hatte.
Und dann stand er vor mir, der Schiedsrichter der Dämonen. Ich brauche dir den hässlichen und gleichzeitig sonderbar schwächlichen Eindruck, den er machte, wohl nicht näher zu beschreiben. Die faltenübersäte Haut seiner Mundwinkel bog sich unter dem höhnischen Grinsen, mit dem er mich betrachtete, und seine Stimme klang wie das Rascheln trockenen Papiers.
Von einer Sekunde zur anderen war er direkt in meiner Stube aufgetaucht, und ich benötigte keine zwei Herzschläge, um zu begreifen, dass die Kristallaura ihn keineswegs seiner Kräfte beraubt hatte. Wie immer ging etwas unvorstellbar Mächtiges von ihm aus. Er war einer der wenigen wirklich großen Dämonen und schien für den Bann meiner Steine nur ein müdes Lächeln übrig zu haben. Noch heute klingt mir der Wortlaut der Sätze, die er mir mit seiner grauslichen Stimme zuflüsterte, wie das giftige Zischen einer Schlange in den Ohren.
»Du weigerst dich, meine Einladung anzunehmen, schöne Rebecca?«
Natürlich war es keine Frage, sondern eine Feststellung, und Hohn troff wie eitriger Speichel von seiner rissigen, grauen Zunge.
Ich stand noch immer starr vor Schreck ob seines plötzlichen Erscheinens und muss ein wahrhaft elendes Bild abgegeben haben, da er bei meiner Betrachtung in amüsiertes, leises Lachen ausbrach.
»Glaubst du etwa, ich hätte Böses mit dir vor?«, fragte er mich.
Natürlich glaubte ich das. Für mich war alles böse, was ein schrecklicher Dämon wie Skarabäus Toth in die altersfleckigen Hände zu nehmen beschloss.
Es wurde eine recht kurze Unterhaltung, in deren Verlauf er mir nachdrücklich klarmachte, dass ich von ihm keine weitere Rücksicht erwarten durfte, wenn ich mich nicht augenblicklich seinem ganz persönlichen Befehl unterstellte und ihn nach Wien begleitete.
Er wollte auf der Stelle abreisen, und ich fand gerade einmal Zeit, die nötigsten Sachen zusammenzupacken. Ich hatte keine Ahnung, was mich in Wien erwarten sollte, aber natürlich malte ich mir in Gedanken gleich das Schlimmste aus, und meine Hände zitterten, als ich die Taschen packte. Wie ein Zimmermädchen lief ich vor ihm hin und her und räumte meiner Kleider aus den Schränken, während die unausgesprochene Frage in meinem Kopf rumorte, ob ich mein Zuhause wohl jemals wiedersehen würde.
Von einem Augenblick zum nächsten nahm mein Leben eine entscheidende und dabei allzu klägliche Wendung, und dabei wusste ich nicht einmal, weshalb Toth sich überhaupt für mich interessierte. Mein erster Gedanke waren die Kristalle, und ich verfluchte mich, sie überhaupt je eingesetzt zu haben. Dann dachte ich an dich. Vielleicht würde es mir in Wien gelingen, Kontakt zu dir aufzunehmen und dich um Hilfe zu bitten. Wie sehr wünschte ich mir in jenen Minuten, nicht allein zu sein!
Wir verließen die Villa, und vor dem Haus zog der Schiedsrichter wie beiläufig einen etwa faustgroßen, eiförmigen Kristall aus dem Boden und steckte ihn kommentarlos ein. Mir dämmerte, dass dieser Stein dafür verantwortlich war, dass die Schutzsphäre um die Villa zusammengebrochen war.
Dann brachte Skarabäus Toth mich auf geheimnisvollem Wege in die Donaustadt. Ich weiß nicht mehr, ob es mittels eines Dämonentores geschah, oder ob er lediglich seine ureigene Magie dazu benutzte. Welche unglaubliche Kraft dieser dürren, kadaverähnlichen Gestalt doch innewohnte!
Im Erdgeschoss der Kanzlei bekam ich ein Zimmer zugewiesen und zusätzlich eine Viertelstunde, um meine Sachen einzuräumen. Der Raum liegt gleich nebenan und ist von recht bescheidenem Ausmaß. Nun, ich sollte wesentlich weniger Zeit darin zubringen, als ich damals noch befürchtete.
Die wildesten Gedanken spukten mir durch den Kopf. Wollte Toth mich zu seiner Schülerin machen? Oder gar zu seiner Geliebten? Oder hatte er mich als Dienerin geholt, die er dazu verdonnern wollte, um ihm bis an ihr Lebensende in dieser goldenen Kerkerzelle des Kanzleihauses zu Diensten zu sein? Weshalb ausgerechnet ich? Ich war ein Nichts im Reich der Dämonen. Weshalb ich?
Nach Ablauf der Frist hatte ich sein Arbeitszimmer aufzusuchen, und nach neuester Erfahrung schien es mir ratsam, seiner Aufforderung widerspruchslos nachzukommen. Einem kleinen, dummen Mädchen gleich nahm ich vor dem riesigen Schreibtisch Platz, hinter dem Toth wie ein ergrauter Schuldirektor saß und mich mit kalten Augen musterte.
»Du weißt, weshalb ich dich hierher geholt habe?«
Was für eine Frage! Natürlich wusste ich es...