Kapitel 3
Irgendwo auf dem Atlantik
5. Oktober 1805
Ich konnte nicht schlafen.
Nicht in dieser Nacht, in der unser Schiff, die Damnation, von den Wellen geschüttelt wurde und der Wind in den Ritzen der schlecht abgedichteten Bordwände heulte. Wasser spritzte durch die Fugen und benetzte das zusammengefaltete Segeltuch, unter dem ich mein Versteck gefunden hatte - bis ich in der Pfütze vor Kälte zu zittern begann.
Außerdem grimmte mein Magen vor Hunger. Lascar, ohne den ich bereits tot wäre, hatte wieder einmal nichts von dem Schinken heruntergeschnitten. Er wusste als Einziger, dass ich an Bord war, und wenn der einäugige Koch ihn beauftragte, das Messer an die Schwarten zu setzen, ließ er manchmal versehentlich ein besonders fettes Stück fallen.
Hätte ich doch bloß Geld für eine Überfahrt gehabt!
Dabei konnte ich froh sein, überhaupt noch am Leben zu sein, nachdem ich am Anleger der Île du Diable viele Monate lang auf ein Boot gewartet hatte!
Nach dem Tod meines dämonischen Sohnes Belphegor und seiner wahren Mutter, der Hexe Madame du Alastair, hatte sich mir die Insel so gezeigt, wie sie wirklich war: ohne Dorf, ohne sumpfkranke Einwohner, die Joseph und mich attackiert hatten.
Die Île du Diable war nichts als ein unbewohnter, wilder Flecken neun Meilen vor der Küste von Französisch-Guayana - mit ein paar Beerensträuchern und Nussbäumen, deren Früchte höchstens für ein paar Wochen reichen würden.
Am zweiten Tag hatte ich beschlossen zu schwimmen. Wenigstens bis zur Île Royale oder besser gleich weiter zur vordersten der drei Inseln, Île Saint-Joseph, die am nächsten zum Festland lag. Von da würde sich schon ein Weg finden, die restlichen Meilen zur Küste zurückzulegen!
Überzeugt vom Gelingen meines Vorhabens hatte ich mich in die Fluten gestürzt, nur um beim Anblick der ersten Haifischflosse wieder umzukehren. Enttäuscht und verärgert wartete ich am Strand darauf, dass die Raubfische verschwanden, aber sie kreisten während der nächsten Wochen so geduldig zwischen den drei Inseln, als hätten sie auf eine mir verborgene Weise von meinen Plänen erfahren. In dieser Zeit aß ich alle Nüsse und Beeren, die ich finden konnte, und bald darauf - Spinnen, Schlangen und Frösche! Wobei ich um letztere später einen Bogen machte, nachdem ich gesehen hatte, wie ein Kormoran tot umgefallen war, kurz nachdem er einen von ihnen verschlungen hatte.
Vor allem die Schlangen versuchten sich vor mir zu verstecken, aber ich ahnte ihre Nähe, ohne sie zu sehen . Zunächst war es nur ein Gefühl, dem ich selbst nicht traute. Aber dann lernte ich, auf meine Umgebung zu hören, auf die Sprache der Natur, der Bäume und Sträucher zu achten. Ohne es wirklich beschreiben zu können, vermochte ich sie zu fühlen und instinktiv zu begreifen . zu Beginn unsicher, tastend, dann immer besser und immer präziser erfasste ich schließlich die Aura eines jeden einzelnen Lebewesens, das meinen Weg kreuzte - bis ich nur noch in einen Strauch hineingreifen musste, um eine Schlange hinter dem Kopf zu packen.
Diese sonderbare Fähigkeit, die ich so noch nie zuvor an mir festgestellt hatte, sicherte mir im Laufe der Monate das Überleben.
Die meiste Zeit aber verbrachte ich nicht mit der Jagd, sondern am Strand. Mal still vor mich hinbrütend, mal auf und ab springend und wild gestikulierend und erfüllt von einer Wut, die allein mir eigentlich genügend Kraft hätte geben müssen, um das Festland zu erreichen.
Wenn nur die Haie nicht gewesen wären!
Irgendwann fand ich jedoch selbst mit meiner neu gewonnenen Fähigkeit nur noch hin und wieder etwas zu essen. Bald war ich so schwach, dass ich am Strand dahindämmerte und fantasierte. Belphegor erschien mir, und diesmal war er es, der kam, um mich zu töten. Aus seinen Augen schossen feurige Lanzen, die mich durchbohrt hätten, wenn Joseph sich nicht vor mich geworfen hätte.
Mein guter Joseph, die treue Seele!
Sterbend flehte er mich an, mein Leben Napoleon anzuvertrauen, denn dieser werde zum Kaiser gekrönt Frankreich zu neuer Größe führen.
Ich wachte auf, geschüttelt von einem Lachen, das nicht weniger wahnsinnig war als meine Träume.
Irgendwann tippte Joseph mir auf die Nase und dann gegen die Wange.
»Ich glaube, der lebt noch«, sagte er mit einer Stimme, die nicht die seine war.
Vor mir stand ein weißhaariger Mann in einer abgerissenen Uniform, die irgendwann zu einer früheren Zeit einmal ihren Dienst in der französischen Armee geleistet haben mochte.
In der Überzeugung, einer neuen Fieberfantasie zum Opfer gefallen zu sein, schloss ich die Augen wieder.
Fünf Tage später erwachte ich in einer Hütte in Kourou.
Auf dem Festland!
Eine Frau pflegte mich, die sich mir als Clara vorstellte. Sie war das Weib des Soldaten, der mich gefunden hatte und der schon lange kein Soldat mehr war, sondern Fischer, und den nach eigener Aussage keine zwanzig Ochsen mehr zurück in sein Vaterland bringen würden, in dem »ein verrückter Kriegshetzer« die Macht ergriffen habe.
Ich blieb bei Clara und ihrem Mann, bis ich so weit wiederhergestellt war, dass ich die Reise nach Cayenne allein unternehmen konnte. Zwei Tage trieb ich mich dort in den Hafenspelunken herum und erfuhr, dass Josephs Traum offenbar Wahrheit geworden war. Napoleon hatte sich zum Kaiser krönen lassen! Der Plan, nach Frankreich zurückzukehren, um mich in den Dienst dieses Mannes zu stellen, erschien mir auf einmal geradezu grotesk. Aber da war immer noch das Versprechen, das ich Joseph gegeben hatte. Da passte es mir schon beinahe gut, dass gerade erst ein Schiff nach Frankreich abgefahren war und das nächste erst in zwei Monaten erwartet wurde.
In der Gewissheit, Zeit gewonnen zu haben, fragte ich einige Händler und Wirte um Arbeit an, wurde aber von allen nur ausgelacht. Cayenne war ein kleines Nest, in dem jeder froh war, wenn er selbst über die Runden kam.
Am nächsten Morgen entdeckte ich am Horizont ein Segel, und wenige Stunden später legte im Hafen ein heruntergekommener Dreimaster mit Gaffeltakelung an, auf dessen Rumpf irgendein Spaßvogel das Wort Damnation - Verdammnis - gekritzelt hatte. Der Name wirkte auf mich sogar noch wie eine Untertreibung, denn selbst auf den sanften Wellen am Anleger schaukelte das Schiff wie eine Nussschale.
Auf der anderen Seite prahlte der Capitaine damit, weiter südlich von Cayenne, am Amazonas, Gold gefunden zu haben, das er nun in die Heimat zu überführen gedenke. Sein finsteres Gesicht strafte den hell und rein klingenden Namen Clément Fontaineau Lügen, und mir fiel mir auf, dass seine Besatzung zum Teil bewaffnet war, sodass ich mir schon vorstellen konnte, auf welche Weise sie das Gold an sich gebracht hatten.
Nun, mochte Fontaineau auch ein habgieriger Verbrecher und Napoleon ein wahnsinniger Kriegshetzer sein, dieses Schiff war meine Chance, die Neue Welt zu verlassen und in die Heimat zurückzukehren!
Ich sprach bei Fontaineau vor und unterbreitete ihm den Vorschlag, mir Kost und Logis auf der Reise zu verdienen. Er lachte mir ins Gesicht, so wie die Wirte zuvor, packte mich am Schlafittchen und stieß mich den Laufgang hinunter.
Ich ließ mich nicht irremachen.
Fest entschlossen, das Glück, das nach Monaten des Darbens endlich zu mir zurückgekehrt war, am Schlafittchen zu packen, wartete ich die Nacht ab und schlich mich im Dunkeln an Bord.
Das Versteck unter dem Segeltuch fand ich, noch bevor wir im Morgengrauen ablegten. Es befand sich in einem der Vorratsräume, was neben den offensichtlichen Vorteilen auch bedeutete, dass niemand aus der Mannschaft dort Zugang hatte - außer dem Koch und seinem Gehilfen Lascar, die nur zwei Mal am Tag hereinkamen, um Wasser oder Rum aus den Fässern zu schöpfen oder Stücke von den Schinken herabzuschneiden, die von der Decke baumelten. Leider war der Koch nur auf einem Auge blind und suchte mit dem anderen jeden Morgen die Schinken auf frisch geschnittene Stellen ab. Ich musste also wohl oder übel davon Abstand nehmen, mir in der Nacht selbst ein Stück herunterzusäbeln. Oft schlief ich nur unter grausigem Hungerschmerz ein, wenn auch in der Gewissheit, dass mir dieses Versteck für die gesamte Zeit der Überfahrt Schutz bieten würde. Jedenfalls, solange es dem Wind nicht einfiel, die altersschwachen Segel an Besan- und Fockmast irgendwann einmal ganz auseinanderzureißen.
Der zweite Nachteil meines Schlafplatzes waren die Ratten. Einige von ihnen waren so ausgezehrt, dass sie nicht hoch genug springen konnten, um an den Schinken heranzukommen, und darum mit meinen reichlich abgemagerten Waden Vorlieb nehmen mussten. Immer wieder trat ich im Halbschlaf nach ihnen und vernahm, wie sie quiekend davonhuschten.
Danach schlief ich meist sofort wieder ein.
In dieser Nacht des 5. Oktober bekam ich kein Auge mehr geschlossen. Ein merkwürdiges Unbehagen plagte mich. Es war nicht der Hunger, an den ich mich beinahe schon gewöhnt hatte, sondern ein ganz und gar unbestimmtes Unwohlsein, für das ich keine Erklärung fand. Es wurde von Minute zu Minute stärker.
Da vernahm ich ein Poltern, das den Rumpf des Schiffes erzittern ließ.
Ich schreckte hoch. Waren wir auf Grund gelaufen?
Natürlich dachte ich sofort an das Gold, von dem der Capitaine gesprochen hatte, und stellte mir vor, wie sein Gewicht uns im Fall eines Lecks in die Tiefe ziehen würde. Mit klopfendem Herzen schlich ich aus dem Vorratsraum und durchquerte die Kombüse, in der der Koch und Lascar in ihren Hängematten schnarchten. Danach folgten die Mannschaftsräume. Auch hier schaukelten alle Hängematten im Rhythmus des Wellengangs. Die...