2 Gesundheit verlangt Verhaltensänderung
Es ist kein großes Geheimnis, dass unsere Gesellschaft zunehmend Krankheiten sammelt, anstatt sie auszurotten. Wir schaffen es sogar, neue Krankheiten zu erfinden und sie großflächig zu etablieren. Die Rede ist von den verschiedensten Zivilisationskrankheiten, die darauf bauen, dass Menschen gerne süß, fettig, viel und möglichst billig essen, das Auto unsere Beine ersetzt und einfachste Handlungen, wie etwa das Betätigen des Lichtschalters, von künstlicher Intelligenz übernommen werden.
Wobei nichts grundsätzlich verteufelt werden sollte. Ich selbst bin auch dankbar dafür, dass der Staubsaugerroboter grobe Kinder- und Tierspuren selbstständig entfernt. Es stellt sich allerdings die Frage, womit die neu gewonnene Zeit verbracht wird. Bei einem Spaziergang im Wald oder mit Chips, Bier und dem neuesten Blockbuster auf dem Sofa. Der Mensch wird immer älter, doch verbringt er immer weniger Zeit davon in einem gesunden Zustand ? [26]. Wir sprechen davon, 100 Jahre alt werden zu wollen, vergessen dabei jedoch, dass wir im Schnitt ab dem 63. Lebensjahr nicht mehr gesund sind ? [27]. Das bedeutet, 37 Jahre mit einer mehr oder weniger intensiven Krankheit zu leben. Wobei Gesundheit als Zustand des umfassenden körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens natürlich subjektiv ist. Dennoch könnte sich der Mensch viel Leid ersparen, würde er mehr auf seinen Körper und weniger auf die Werbung hören. Es bedarf einer Veränderung des Verhaltens, um den Gesundheitszustand positiv zu beeinflussen.
Verhaltensänderung ist ein mehr oder weniger komplexer Prozess, durch den eine Person sich bewusst bemüht, ihre Denkweisen, Emotionen oder Handlungen zu modifizieren. Es ist eine Art der Selbstoptimierung im besten Sinne, die durch intrinsische Motivation und externe Einflüsse vorangetrieben wird.
Einige wichtige Aspekte, die sich auch in den folgenden Kapiteln wiederfinden, sind:
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Motivation als grundlegendes Element zur Veränderung.
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Die Phasen der Veränderung, die von der begleitenden Person erkannt werden sollten, um die Beratung entsprechend anzupassen.
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Das Setzen von geeigneten Zielen, die den Weg der Veränderung strukturieren und den Fortschritt sichtbar machen sollen.
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Die Selbstreflexion als bewusste Beobachtung des eigenen Verhaltens, wodurch erst erkannt werden kann, was genau verändert werden soll. Sie wird allerdings auch zur Evaluierung des Veränderungsprozesses eingesetzt.
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Rückschläge. Der Weg nach oben ist nun einmal nicht linear, sondern umfasst schon Berg und Tal. Rückschläge sind Lernmomente, die wir umarmen sollten.
2.1 Theorien zur Verhaltensänderung
Ungefähr 50 % der Menschen, die Medikamente verschrieben bekommen, halten sich auch an die Einnahmevorgaben ? [28]. Die anderen 50 % zeigen einen eher kreativen Einnahmeansatz. Einige beginnen die Medikation erst gar nicht, andere verändern Menge oder Zeitpunkt der Einnahme, und wieder andere beenden die Medikation auf eigene Faust. Grundsätzlich werden Menschen dann je nach Verhalten als "compliant", was übersetzt so viel wie fügsam heißt, oder eben als "non-compliant" - aufmüpfig - beschrieben.
Dass Therapie, sei sie medikamentös oder therapeutisch, fügsam hingenommen werden muss, ist ein Relikt aus einer Zeit, in der Gott und der Glaube noch irdische Gesetze schrieben. Wer sich nicht an die Regeln hielt, wurde verbrannt, gevierteilt oder eingemauert. Kirche und Staat sind, zumindest offiziell, bereits vor mehreren Jahren getrennte Wege gegangen, und auch die Rechtsprechung hat, zumindest in unseren Breitengraden, den Pfad drakonischer (Todes-)Strafen mittlerweile verlassen. Diese neu gewonnenen Freiheiten spiegeln sich auch in einem Mangel an Hörigkeit seitens hilfesuchender Menschen wider. Die Compliance lässt nach. Zum Glück, denn fügsames Hinnehmen von Anweisungen ist nur noch sehr selten gefragt. Die Medizin modernisiert zwar ihre Perspektive dahingehend etwas langsamer als andere Bereiche, ist aber dennoch auf dem Weg der Besserung.
Wenn Fügsamkeit nicht der Schlüssel zum Erfolg ist, dann ist es vielleicht etwas, was gegen Ende des 17. Jahrhunderts bereits einmal probiert wurde: die Aufklärung. Diese führt entweder zu Ablehnung oder aber zu Zustimmung. In jedem Fall verhilft sie zur freien Meinungsäußerung. Im Falle von Zustimmung hofft man dann auf die neue Form der Compliance - die Adhärenz ? [29]. Auch dabei geht es um wunschgemäße Einhaltung der Therapie. Die Therapie selbst wurde jedoch zuerst gemeinsam, um nicht zu sagen partnerschaftlich, zwischen gesundheitsdienstleistender und hilfesuchender Person beschlossen ? [30]. Trotz dieser Partnerschaftlichkeit scheint Adhärenz ebenfalls Grenzen zu haben. Nämlich dann, wenn der Zweck der Behandlung nicht verstanden wird und/oder diese entweder keinen Nutzen oder sogar unerwünschte Wirkungsweisen zeigt. Außerdem sinkt die Adhärenz, wenn der Therapieplan als zu zeitaufwendig empfunden wird oder es an Partnerschaftlichkeit bei der Entscheidungsfindung zur Therapie gefehlt hat ? [31].
Angesichts der eben aufgezählten Gründe wage ich es, laut daran zu zweifeln, dass das Konzept der Adhärenz bereits flächendeckend im Gesundheitssystem angekommen ist. Es trägt immer noch den faden Beigeschmack einer leicht autoritären Hackordnung und lässt die Frage aufkommen, wie viel Partnerschaftlichkeit dabei wirklich vorhanden sein kann. Die Begrifflichkeiten zu tauschen, ohne das Verhalten wirklich anzupassen, raubt dem Wort Tragweite und Macht. Belassen wir die rosarote Brille fürs Erste jedoch auf und gehen davon aus, dass Adhärenz die Welt erobert und Therapieempfehlungen auch wirklich umgesetzt werden. Die idealen Patientinnen und Patienten. Doch wie kommt man zu ihnen? Wo finden sich die unkomplizierten, motivierten Personen, die zu den perfekten Therapieergebnissen führen? Die Antwort ist so simpel wie komplex: Produzieren Sie sie selbst!
Aufbauend auf dem Gedanken, dass Wissen zu Entscheidungen und Entscheidungen zu Veränderungen führen können, gibt es verschiedene Theorien zur Verhaltensänderung. Zwei davon möchte ich Ihnen in diesem Buch vorstellen. Das transtheoretische Modell und das Verhaltensmodell nach Balm.
2.1.1 Das transtheoretische Modell
Das transtheoretische Modell (TTM) gehört mittlerweile zu den Oldies unter den theoretischen Modellen der Verhaltensänderung, wurde es doch bereits im Jahre 1982 von James O. Prochaska und Carlo C. DiClemente erstmals beschrieben ? [32]. Es zeigt, dass nicht nur Gelenke evolutionär ruhiggestellt sind, der menschliche Geist scheint dies auch zu sein. Denn trotz seines Alters wird das Modell bis heute regelmäßig genutzt, um Verhaltensänderung darzustellen. Es ist ursprünglich dem Gesundheitsverhalten gewidmet. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass es sich auch auf jegliche andere Situation übertragen lässt.
Abb. 2.1 ?Das transtheoretische Modell als Erklärung für Verhaltensänderung im Gesundheitskontext.
(Quelle: Ernstmann N. Transtheoretisches Modell. In: I care Pflege. 2., überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020)
Befragt man das Internet, so besteht das Modell aus fünf Phasen, die wahlweise zirkulär oder linear dargestellt werden. Die Originalversion ist jedoch ausdrücklich zirkulär, da den beiden Herren durch ihre Forschung mit Menschen, die versuchten, dem Rauchen zu entsagen, sehr wohl deutlich wurde, dass Veränderungsprozesse durch Rückfälle, Misserfolge und neuerliche Veränderungsmotivation geprägt sind. Sie beschreiben, dass die meisten Menschen bis zu drei Versuche benötigten, um das Rauchen zu beenden. Eine wichtige Information für alle, die versuchen sich zu verändern: Es muss nicht auf Anhieb funktionieren! Oder wie eine alte Reiterweisheit sagt: Wer nie vom Pferd gefallen ist, ist auch nie wirklich oben gesessen.
Missglückte Versuche offenbaren Fehler, und nur aus Fehlern kann man lernen. Wer denkt, klüger zu sein, weil er von Anfang an alles schafft, wird am Ende auf der flacheren Lernkurve stehen. Bringen Sie demzufolge jedem Versuch Wertschätzung entgegen, es verbergen sich immer Ressourcen und Stärken dahinter.
Merke
Gescheit. Gescheiter. Gescheitert.
Veränderungsversuche dürfen auch missglücken. Jeder Versuch birgt Fehler, und aus Fehlern lernen wir.
Nun aber zurück zum transtheoretischen Modell, welches Sie in ? Abb. 2.1 sehen. Es ist untereilt in die fünf Phasen:
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Absichtslosigkeit,
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Absichtsbildung,
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Vorbereitung,
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Handlung,
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Stabilisierung.
Dieses Modell verfügt somit über eine Zeit vor und eine Zeit nach der Veränderung.
2.1.1.1 Die Phase der Absichtslosigkeit
In der Phase der Absichtslosigkeit ist, wie schon das Wort sagt, noch nicht einmal die Absicht gebildet, etwas...