Schweitzer Fachinformationen
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Aus Erfahrung weiß ich, dass man sich vor der Liebe auf d en ersten Blick in Acht nehmen muss, aber als ich die junge Frau mitten in der Menge erspähte, litt ich plötzlich an Gedächtnisschwund. In kanariengelben Stöckelschuhen, knallroten Hotpants und türkisfarbenem Oberteil lief sie keineswegs Gefahr, von niemandem wahrgenommen zu werden. Wäre da nicht der Labrador gewesen, der sie am Geschirr führte, hätte allein schon ihre große schwarze Brille als Accessoire eines Stars gelten können, sorgsam darauf bedacht, dass sein Inkognito allseits Aufsehen erregt. Mit ihrem rotblonden, zu einem buschigen Nackenknoten zusammengebundenen Haar, der fast durchsichtigen Seidenbluse und dem wie bei einem amourösen Rendezvous strahlenden Lächeln, das die leicht verschmierten Spuren des Lippenstifts noch betonte, war sie eine besonders auffällige Blinde, die eher Neid als Mitleid erweckte.
Vor meinem Stand hielt sie inne, die Nasenflügel bebten leicht, als wäre sie in Alarmbereitschaft. Sofort erstarrte ihr Hund und wandte sich mir zu. Gleich einem Dolmetscher, der seinen Gesprächspartner auf die zu übersetzenden Äußerungen vorbereitet, sah er mir tief in die Augen, während sie in die Leere hinein das Wort an mich richtete.
»Guten Tag, ich hätte gerne Karamell Fleur de Sel, Lakritze und Erdbeere Primavera. Eins von jedem bitte.«
Sie hatte die Stimme eines frühreifen Mädchens in einem Körper von etwa dreißig Jahren. Fröhlich, gut erzogen, unglaublich sexy, kannte sie meine Spezialitäten auswendig. Wider Willen war ich in diesem Augenblick dankbar für die gesellschaftliche Talfahrt, die mich auf ihren Weg befördert hatte. Ungeachtet meiner beiden Diplome in Biochemie und Astrophysik bin ich mit zweiundvierzig Jahren Macarons-Verkäufer geworden in Orly-West, Abflugbereich, Halle 2.
Man kann mich nicht verfehlen. Ich trage eine schokoladen- und kaffeebraun gestreifte Weste, ein pistazienfarbenes Käppi und leite den Stand, einer Postkutsche ähnlich und ebenfalls in zartem Grünton. Meine Mutter ärgerte sich schwarz, als sie mich auf der Rückreise von ihren Ferien in der Ardèche zufällig in dieser neuen Funktion entdeckte. Ihr Kommentar beschränkte sich auf eine SMS, die sie mir aus dem Taxi schickte: Meine Freundinnen werden entsetzt sein. Du hättest mir wenigstens einen Wink geben können. Meine Antwort lautete: Normalerweise fährst du mit dem Zug. Sie erwiderte: Ja, ja, natürlich ist auch das wieder meine Schuld. Keine weitere Reaktion von mir. Als Erfinder eines Verfahrens zur Minderung der Schadstoffbelastung, das mir Millionen hätte einbringen können, gehe ich unter ihren fassungslosen Blicken allmählich zugrunde, seit mich meine Lebensgefährtin aus ihrer Firma geworfen hat, um von meinem Patent zu profitieren. Ich habe mich nicht verteidigt: Meine Vorstellung von der Liebe ist zu erhaben, als dass ich damit Rechtsanwälte und Notare beschäftigen würde. Lieber bewahre ich die angenehmen Erinnerungen und schiebe das Übrige beiseite. Obwohl meine Mutter davon spricht, dass man mich mit Füßen tritt, schwebe ich doch über alles hinweg. Aber ich verstehe sie: Bevor sie mich in flagranti mit einem befristeten Arbeitsvertrag bei Ladurée, dem Nobelkonditor, erwischt hat, kannte sie mich zunächst als Leiter der Entwicklungsabteilung für Düngemittel der Marke Vert-de-Green mit einem monatlichen Gehalt von dreißigtausend Francs, dann als Übersetzer wissenschaftlicher Werke zu drei Euro pro Seite, später als Touristenführer im Château de Chantilly, dessen einziger Lohn im Trinkgeld bestand, und schließlich als ehrenamtlichen Helfer in der Vereinigung Touche pas à mon arbre - Rühr meinen Baum nicht an -, verurteilt zu einer Geldbuße von fünftausend Euro, weil ich mich, auf dem Pariser Forum des Halles an Magnolienbäume gekettet, den Arbeitern widersetzt hatte, die sie zersägen wollten. Die Summe musste ich mir von ihr leihen, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen. Von dem ausgesetzten Kind, das ich war und das sie, ihre Ehe aufs Spiel setzend, adoptiert hatte, konnte man nicht unbedingt erwarten, dass eine solche Investition sich auszahlen würde.
»Leider haben wir nur einfache Erdbeere«, entschuldigte ich mich.
Die schwarze Brille senkte sich in Richtung meiner Stimme.
»Sind Sie sicher? Ich rieche wirklich das Schaumzuckerbonbon Erdbeere Primavera. Zerstäuben Sie Düfte wie die Floristen?«
Höchst beglückt, das Geplauder fortsetzen zu können, erwiderte ich mit jugendlicher Stimme, dass ich lediglich jemanden vertrat, um einen Gefallen zu erweisen.
»Gut, dann sagen wir: einmal Karamell und zweimal Lakritze für mich, um sie gleich hier zu essen, und zwölfmal Orangenblüte im Karton für meinen Hund. Das ist nämlich sein Lieblingsgeschmack.«
»Wie heißt er?«
»Jules«, erwiderte sie lächelnd und streichelte das sandfarbene Fell.
»Willst du sofort ein Macaron, Jules? Geschenk des Hauses.«
»Er wird Ihnen nicht antworten. Er ist im Dienst.«
Meine Kehle war wie zugeschnürt. Dieses unzertrennliche Paar, das mein Leben nur kurz streifte, rief in mir eine Mischung aus Überschwang und Traurigkeit hervor, die sie in meiner Stimme wahrnahm, als ich mich für meine unbedachte Bemerkung entschuldigte.
»Er kommt sehr gut damit zurecht«, beruhigte sie mich, »und isst nur, wenn ich ihm das Geschirr abnehme.«
»Was für eine meisterliche Dressur!«
»Es ist vor allem sein Stolz. Schließlich trägt er für mich die Verantwortung.«
Im Tonfall der jungen Frau schwang der gleiche Stolz mit, den sie ihrem Hund zuschrieb. Plötzlich überkam mich ein schrecklicher Trübsinn. Ich war noch nie für jemanden verantwortlich gewesen. Meine Mutter ist robust wie ein Fels, mein Vater hat den Kontakt abgebrochen, und die Frauen in meinem Leben wollten keine Kinder. Der Labrador fixierte mich. Ein Anfall von grotesker Eifersucht auf diesen glücklichen Leibwächter ließ meinen Blick zu den Brüsten seines Frauchens schweifen. Edle Brüste, die der Schwerkraft trotzten, aber dennoch echt schienen und auf jede Bewegung der Finger reagierten, als sie die Kreditkarte aus der Brieftasche nahm und dann am Boden nach der Taxiquittung tastete, die herausgefallen war. Es blieb keine Zeit, mich vom Stand zu lösen, um sie aufzuheben. Der Hund, der noch auf die geringste ihrer Gesten achtete, hatte den Beleg bereits mit der Pfotenspitze bis zu den Nägeln seiner Schutzbefohlenen geschoben. Alice Gallien, so lautete der Name auf der Kreditkarte, die auf der Theke lag. Mir wurde schwer ums Herz bei dem Gedanken an das Chanson von Jacques Brel: Laisse-moi devenir . l'ombre de ta main, l'ombre de ton chien - Lass mich . der Schatten deiner Hand sein, der Schatten deines Hundes. Ich, der ich meine Zeit damit verbrachte, die Augen zu verschließen vor dem, was seriöse Menschen das »wahre Leben« nennen, wollte mit einem Mal derjenige sein, dem die Blicke einer Frau wie ihr galten.
Im Moment bestand meine Macht einzig darin, mir für das Verpacken der Macarons alle Zeit der Welt zu nehmen und dabei den Anblick ihrer türkisfarben verhüllten Brüste ebenso zu genießen wie die unbändige, verwirrende Freude, die sie ausstrahlte. Doch das verlangsamte Rascheln des Papiers hatte sie aufhorchen lassen. Sie legte zwei Finger auf die Zeiger ihrer Armbanduhr ohne Glas.
»Wir müssen zur Abfertigung«, informierte sie mich mit bedauernder Freundlichkeit. »Eine Geschenkverpackung ist vielleicht nicht nötig.«
Zu meiner Entlastung erwiderte ich spontan, dass ich sie sehr schön fände.
»Danke für Ihre Offenheit«, entgegnete sie und lächelte erneut. »Gewöhnlich beginnen die Männer damit, Jules Komplimente zu machen.«
Als sein Name erwähnt wurde, starrte der Hund mich an mit der abschreckenden Sicherheit des dominanten Männchens - aber wahrscheinlich verleitete mich die Erektion, gegen die ich hinter der Theke ankämpfte, zu dieser Art von Anthropomorphismus.
»Bilde ich es mir nur ein, dass Sie irgendwie nicht zu Ihrer Stimme passen? Er ist sonst immer sehr freundlich zu den Händlern, aber gerade jetzt spüre ich eine Anspannung bei ihm.«
Ich beschrieb mich, ohne die gestreifte Weste und das grüne Käppi zu erwähnen, und fügte hinzu, dass ich in Syrien von unbekannten Eltern geboren und von einem französischen Ehepaar adoptiert worden sei.
»Verstehe.«
Ich reichte ihr den Einkauf, wusste jedoch nicht, ob dieses befremdliche Wort aus ihrem Mund bedeutete, dass sie Mitgefühl empfand oder ob ihr Hund ein Rassist war.
»Der Flug um 10 Uhr 25 nach Nizza, ist er pünktlich?«
Ich bejahte mit dem Zusatz »Schalter 20«, wie es die Anzeigetafel mir gegenüber verkündete. Ich hätte sie gerne begleitet, aber die Warteschlange hinter ihr wurde immer länger. Außerdem hatte ich bereits eine Verwarnung meines Chefs bekommen, als er mich dabei ertappte, wie ich an der Theke in eine astrophysikalische Abhandlung vertieft war. Selbst wenn keine Kunden da sind, muss ich diensteifrig, hellwach und verfügbar sein. So steht es im Vertrag. Essen, lesen oder telefonieren während der Arbeitszeit sind schwerwiegende Vergehen, die im Wiederholungsfall die fristlose Kündigung zur Folge haben. Angesichts der in der Verlagsbranche für wissenschaftliche Werke herrschenden Krise ist mir schleierhaft, wie ich ohne festes Gehalt, das gleichsam vom Himmel fiel, meine Miete bezahlen sollte.
Ich gab dem vorbeischlendernden Mitarbeiter von Air France im kurzärmeligen Hemd mit Krawatte ein Zeichen, vertraute ihm meine...
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