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Stockholm 1970
Er hatte die Linie 49 genommen, den Bus von Stadshagen, sein Jüngster schlief im Kinderwagen. Es war Anfang Juni. Der siebte, genauer gesagt. Dieses Datum würde er den Rest seines Lebens nicht vergessen.
Sein älterer Sohn ging neben ihm und hielt sich am Kinderwagenverdeck fest. Die kleine braune Hand war klebrig von den Süßigkeiten, die er auf dem Kindergeburtstag gegessen hatte. Gerade hatte er noch über Bauchschmerzen geklagt und gemeint, spucken zu müssen, aber jetzt an der frischen Luft schien es ihm deutlich besser zu gehen.
Sie waren an der Haltestelle am Nordenflychtsvägen ausgestiegen. Während sie darauf warteten, dass der Bus davonfuhr und sie die Straße überqueren konnten, las er die Schlagzeilen der Abendzeitungen vor dem Laden. Das Aftonbladet hatte ein Foto von der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko auf der Titelseite. Finstere Mienen bei den schwedischen Spielern nach ihrer Niederlage gegen Italien im Gruppenspiel. Ove Grahn sprach von einer Revanchemöglichkeit beim Spiel gegen Israel. Der Expressen setzte auf Palmes Staatsbesuch in den USA.
»Papa«, sagte der Junge. »Mir ist heiß. Kann ich die Jacke ausziehen?«
»Natürlich. Leg sie auf den Wagen.«
Endlich war der Sommer gekommen, recht spät in diesem Jahr. Er hatte sich den ganzen Tag lang abgehetzt. Zuerst war er draußen in Lidingö gewesen, um das Grundstück anzusehen, das Gustav für sie gekauft hatte und auf dem sie im Herbst ein Haus bauen würden. Dann nach Stadshagen rein, wo Kristoffer zu einer Geburtstagsfeier bei einem Freund eingeladen war, anschließend mit dem Kleinen zum Fridhemsplan, um etwas zu essen.
Während Joel im Wagen schlief, hatte er die Gelegenheit genutzt, ein paar Bier zu trinken, genauer gesagt drei große Pils, hatte die Zeit vergessen und dann zum Bus rennen müssen, damit er rechtzeitig da war, um Kristoffer abzuholen.
Sie gingen über den Zebrastreifen. Im Schlosspark von Kristineberg stand ein Obdachloser und pisste. Der Kerl machte sich nicht einmal die Mühe, sich wegzudrehen, zeigte ganz ungeniert seinen Schwanz, während er die Blumenbeete begoss. So weit war es mit ihm jedenfalls noch nicht gekommen. Er konnte sich benehmen, trank nie so viel, dass er sichtbar beeinträchtigt war.
»Kann ich ein Eis, Papa? Es ist so heiß.«
Von der Stimme des Jungen wurde ihm ganz warm ums Herz, selbst wenn er quengelte.
»Reicht denn die Bonbontüte nicht? Außerdem habt ihr auf dem Fest doch auch Eis gekriegt, oder? Jedenfalls hat Peters Mama das gesagt.«
»Aber ich will noch eins. Bitte, Papa … ich fühl mich, als würde ich kochen.«
»Nun hör mal, eben hast du noch gejammert, dass du Bauchschmerzen hast und spucken musst. Und jetzt willst du ein Eis. Was denn nun?«
»Aber jetzt geht es mir besser. Und ich habe fast gar kein Bauchweh mehr.«
Er liebte diesen Knirps, der vor siebeneinhalb Jahren zur Welt gekommen war, neben ihm herlief und um ein Eis bettelte, sich weigerte, dem Papa die Hand zu geben, weil er der Meinung war, dafür sei er zu groß. Diese freundliche helle Jungenstimme. Den Humor, den er mit seinen sieben Jahren bereits besaß. Und dann die anrührende Tatsache, dass er schwarz war, dass das Blut eine Generation übersprungen hatte, ihn selbst übersprungen hatte, und stattdessen bei einem kleinen schwedischen Jungen wieder zum Vorschein gekommen war.
Aber wie sehr er ihn auch liebte und wie schwer es ihm fiel, nicht nachzugeben, würde er ihm doch nicht noch mehr Süßigkeiten geben.
»Nein, tut mir leid, mehr gibt es nicht.«
»Och, bitte …«
Er zuckte zusammen, als ein Volvo Amazon mit hoher Geschwindigkeit den Hjalmar Söderbergs Väg hinuntergebraust kam und im Abstand von nur einem halben Meter an ihnen vorbeiraste. Verdammte Idioten, diese Autofahrer! Der Junge hätte ohne Weiteres auf die Straße laufen können, jetzt, wo er sauer war, weil er seinen Willen nicht bekam.
Er packte das Kind fest am Arm und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Warf einen Blick nach rechts zur Tranebergsbron, die sich in den Himmel wölbte. Ein Zug, der aussah wie eine Riesenlarve auf Rädern, fuhr in den U-Bahnhof ein. Kein Grund, hektisch zu werden. Sie konnten die nächste Bahn nehmen. Joanna war nach ihrem Besuch bei der Freundin direkt nach Hause gefahren, um das Abendessen vorzubereiten. Sie würden es sich gemütlich machen und gemeinsam den Samstagabend genießen, die ganze Familie. Und wenn die Kinder im Bett waren, würden Joanna und er eine Flasche Wein öffnen und sich die Zeichnungen für das neue Haus ansehen. Das Haus, mit dem sein Vater versuchte, seine Liebe zu erkaufen.
Der Volvo verschwand Richtung Stadshagen hinunter, und sie überquerten den Hjalmar Söderbergs Väg. Der Kleine war aufgewacht und hatte sich im Wagen aufgesetzt. Joel. Der vollkommene Gegensatz zu seinem großen Bruder. Helle Haut, fast schneeweiß, ohne den geringsten Anschein eines Mischlings. Natürlich liebte er ihn genauso sehr wie Kristoffer, aber auf eine andere Art und Weise, nicht ganz so intensiv, nicht ganz so schmerzhaft. Als wäre es Joel noch nicht gelungen, einen ebenso großen Eindruck bei ihm zu hinterlassen.
Die Tür zur Bahnhofshalle öffnete sich. Er trat an die Wand, um auf den Fahrplan zu schauen. Der Zug fuhr immer noch alle fünf Minuten, er konnte zwischen zwei grünen Linien wählen.
Plötzlich fing der Kleine an zu jammern, vielleicht hatte er irgendwas geträumt. Er warf einen Blick auf die Wanduhr: halb sechs. Das konnte nicht stimmen. Hatte er sich um eine ganze Stunde vertan? Er schaute auf seine Armbanduhr: halb fünf. Der Sekundenzeiger bewegte sich nicht. Die verdammte Uhr war stehen geblieben.
Eine Frau kam mit einer Zeitung unter dem Arm aus dem Kiosk.
»Entschuldigen Sie«, wandte er sich an sie, »wissen Sie vielleicht, wie spät es ist? Ist es wirklich schon halb sechs?«
»Doch, ja. Halb sechs. Sogar schon ein paar Minuten drüber.«
Sie lächelte ihn freundlich an. Sie war in den Vierzigern, trug ein Kopftuch, ein buntes Baumwollkleid und Gummistiefel. Sie erinnerte ihn an eine Bauersfrau. Wie sie auf dem Land ausgesehen hatten, als er noch klein war.
»Dankeschön.«
»Keine Ursache. Schönes Wochenende!«
Also hatte er sich um eine ganze Stunde geirrt, was bedeutete, dass Joanna zu Hause mit dem Essen wartete und sich wunderte, wo sie blieben. Dann stieß er mit dem Kinderwagen aus Versehen auch noch gegen den Metallpfosten vor der Sperre. So eine blöde Stelle für eine tragende Konstruktion. Der Kleine weinte lauter, vermutlich hatte er sich das Bein eingeklemmt, auch wenn der Zusammenstoß nicht besonders heftig gewesen war.
»Immer mit der Ruhe«, sagte er. »Wir sind spät dran, Mama wartet mit dem Essen. Wir müssen uns ein bisschen beeilen.«
Er reichte dem Kontrolleur im Häuschen die Fahrkarte und ging durch den Eingang für Kinderwagen. Jetzt schrie der Kleine lauter. Er war kurz davor, in dieses hysterische Heulen zu verfallen, bei dem ihn niemand anders als Joanna trösten konnte.
»Sch, sch, nicht weinen, bitte, nicht weinen.«
An allem waren nur die paar Bier schuld. Er hätte sie nicht trinken sollen, zumindest die letzten beiden nicht. Auch wenn er nicht betrunken war, so beeinträchtigten sie doch sein Urteilsvermögen, er geriet aus dem Takt mit der Welt, verspätete sich, lief gegen Pfosten und konnte Verkehrsunfälle nur knapp vermeiden.
Eine neue Bahn fuhr in den Bahnhof ein, er konnte das Rattern der Räder auf den Schienen oben hören. Mehr Menschen strömten von der Straße herein, schoben von hinten. Der Kleine versuchte schreiend aus dem Wagen zu klettern, er musste mit der einen Hand ihn festhalten, während er Kristoffer mit der anderen hielt und den Kinderwagen mit dem Bauch vor sich her schubste.
Treppe oder Fahrstuhl?
Treppe ging schneller. Aber die Kinderwagenrampe sah steil aus, und mit Joel in diesem Zustand der Auflösung war es wohl die bessere Idee, den Fahrstuhl zu nehmen. Er drückte auf den Knopf.
»Papa, darf ich die Treppe gehen?«
Kristoffer sah ihn mit diesem Blick an, dem er nicht widerstehen konnte. Der karibische Blick. Der Blick seiner eigenen Mutter, auch wenn er sich kaum noch an ihn erinnern konnte.
»Nein.«
»Bitte. Ich kann allein gehen, und ihr nehmt den Fahrstuhl. Das macht Spaß.«
»Du bist dafür zu klein.«
Die halb gefüllte Tüte mit Süßigkeiten hielt er mit der Hand umklammert. Diese schokoladenbraune Kinderhand, nicht einmal halb so groß wie seine. Der vom Lolli rot verschmierte Mund. Wie konnte er nur in Begleitung seiner Söhne betrunken sein?
»Bitte! Ich warte oben auf dich.«
»Ich habe Nein gesagt.«
Plötzlich fiel ein Schatten über das Gesicht des Jungen. Jemand hatte sich neben ihn gestellt.
»Du kannst mit mir gehen, wenn du willst. Ich halte dich an der Hand, bis dein Papa...
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