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Die vier Schwestern waren so schön, dass sich die Leute aus dem Fenster beugten, wenn sie über die Straße gingen. Nicht nur ihr Aussehen, sondern auch die Art, wie sie gingen, erregte Aufmerksamkeit: Ihr Gang war gelassen und graziös, als ob sie ihre Umgebung ganz bewusst mit ihrer Anwesenheit schmückten. Auch an ihrer Kleidung war nichts auszusetzen, die Schwestern waren korrekt angezogen, mit deutlich markierter Taille, obwohl keine von ihnen ein Korsett benutzte. Ihr Vater war Arzt und er war klug genug, dem Körper keine dermaßen ungesunden Begrenzungen aufzuzwingen. Stattdessen betonte er die Bedeutung von guter Haltung und gesunder Lebensanschauung. Er sorgte dafür, dass seine Töchter immer gut angezogen waren und dass sie moderne Kleider trugen, was sich vor allem dann zeigte, wenn die vier fotografiert werden sollten - was in regelmäßigen Abständen geschah. Auf diesen Fotos fällt immer eine Schwester besonders auf. Der Grund konnte eine vorn am Kleid befestigte Stoffblume sein, eine wie eine Giftschlange geformte Brosche, ein Blick zur Seite und nicht in die Kamera, in die die anderen blickten. Erst wenn sie alle verewigt waren, musterte sie den Fotografen hinter halb geschlossenen Augenlidern, ein Manöver, das sie sich durchaus nicht selbst beigebracht hatte. Dagny Juel?[1] war mit einem ungewöhnlich verführerischen Blick geboren worden.
Sie wohnten in einer sogenannten Schweizervilla unterhalb der Festung von Kongsvinger. Es war das eleganteste Haus der Stadt, mit drei Wohnzimmern, einem Tanzsaal und einer Veranda, die zu einem Englischen Garten hinunterführte. Sie nannten das Haus Rolighed, also »Ruhestätte«. Es diente nicht nur als Arztpraxis, sondern auch als Bauernhof, und außer den üblichen Dienstboten gab es auch noch Knecht und Magd. Wie groß das Vermögen des Bezirksarztes war, wusste niemand, aber in der Stadt war bekannt, dass er einmal zweihundert arme Leute zu einem großen Essen eingeladen hatte. Seine Töchter machten die Villa ebenfalls zu einem beliebten Besuchsziel; es kamen Gäste aus den Nachbardörfern, aus Hedmarken und aus der Hauptstadt, um auf Klappstühlen im Garten zu sitzen und bei einer Tasse Tee Konversation zu machen, während die Schwestern höfliche, wenn auch nicht immer interessierte Antworten gaben. Sogar in Kristiania war die Rede von der Schönheit der Schwestern Juell. Die Älteste, Gudrun, galt als die Schönste, mit ihren Zügen, die sich jedes Jahr noch verfeinerten. Es hieß, sie habe auf einem Ball auf Gut Skinnarbøl bei Kongsvinger mit König Oscar II. getanzt.
»Es gibt viele schöne Mädchen hier in der Stadt«, habe der König kommentiert.
»Ja«, habe Gudrun Juell erwidert. »Wir sind vier.«
Im Verandazimmer in Rolighed stand ein Klavier. Es war nicht nur ein Möbelstück, es war der eigentliche Mittelpunkt des Hauses und füllte die Zimmer mit heiterer Stimmung. Die Schwestern spielten abwechselnd darauf und taten das auf überaus unterschiedliche Weise. Die beste Pianistin war Gudrun, die sich dem Üben vor allem hingab, um ihren Charakter zu stärken. Sie betrachtete musikalische Fähigkeiten als Zugabe zu ihrer Schönheit und Hilfe dabei, ihr vornehmstes Ziel zu erreichen: zu heiraten. Dagny konnte im Tanzsaal sitzen und ihre ältere Schwester im Nachbarzimmer hören, wenn Gudrun kerzengerade und mit vorgerecktem Kinn dasaß, immer gleichermaßen ehrgeizig bei ihrer Darbietung. Gudrun unterlief kein einziger Fehler, keine Fingerspitze geriet auf Abwege, aber das war es nicht, was Dagny vor allem auf die Nerven ging. Nein, was sie störte, war die Wärme in Gudruns Spiel, die in Kontrast zu deren verschlossenem Wesen stand. Diese Wärme wirkte unbeabsichtigt, eine entmutigende Tatsache für Dagny, die versuchte, sich aus Gudruns Schatten zu lösen. Nicht einmal dann, wenn Dagny Ragnhild begleitete, die lieber sang als spielte, konnte sie der Musik so viel Gefühl verleihen. Das brachte sie dazu, noch mehr zu üben, denn auch Dagny betrachtete die Musik als Mittel zum Zweck: der Reise nach Europa. Zusammen mit Ragnhild fabulierten sie über Musikunterricht im Ausland, während die Zweitjüngste, Astrid, nur mit halbem Ohr zuhörte. Sie saß auf dem Biedermeiersofa und stickte friedlich vor sich hin, als gäbe es im Leben nichts anderes als Nachmittagstee und Plattstich. Sie war so zart, diese Astrid, als wäre ihre Haut ganz besonders feinmaschig geschaffen. Im Haushalt war allgemein bekannt, dass sie jederzeit krank werden konnte. Was ihr eigentlich fehlte, hatte Dagny nie begriffen, aber ihre kleine Schwester reagierte auf alle Ermahnungen mit einer immer schwächeren körperlichen Verfassung.
Morgens wanderte Dagny hinter Gudrun her zum Haus Bakkegården, wo Jungfer Bakke den jungen Damen Einführung in ungefähr alles erteilte, von Rechnen bis Sticken. Fräulein Bakke arbeitete damals seit fast vierzig Jahren als Lehrerin, hatte das Rentenalter längst überschritten und verfügte selbst über keinerlei Ausbildung. Ihr Unterricht fiel deshalb ziemlich fragmentarisch aus. Das machte es leichter, den Gedanken freien Lauf zu lassen, weg von dem roten Klapptisch, wo Dagny mit einer Feder auf dem Papier herumkratzte. So viele leere Blätter, aber nichts, was sie schreiben könnte, keine Erfahrungen aus den engen Straßen der Oberstadt, wo man beim Nachmittagsspaziergang ebenso leicht einer Ziege begegnen konnte wie einem Menschen. Jeder einzelne Tag war wie der davor, mit Spielen im Garten, Klavierüben und Mahlzeiten im Esszimmer, bei denen Gudrun und Astrid dominierten, mit ihren Gesprächen über Gesellschaft und Mode. Dagny dagegen war und blieb eine Träumerin, eine, die mit abwesender Miene ihrer älteren Schwester durch die zum Haus führende Allee folgte. In Gedanken verwandelte sie die Allee in einen Boulevard, bevölkerte sie mit Flaneuren und von Pferden gezogenen Straßenbahnen, vielleicht stellte sie sich auch einen Pavillon vor, in dem eine Musikkapelle spielte. Auch sie selbst veränderte sich in diesen Phantasien, sie war älter, und sie war allein. Vor allem Letzteres wirkte unwahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich, sie wusste ja, dass Gudrun gleich nach ihrer Konfirmation nach Stockholm reisen würde. Auch Dagny würde ihre Bildungsreise machen, aber bisher war die nur ein Umriss in ihrer Phantasie, ein Nebensatz in der gedämpften Konversation der Eltern. Noch war sie viel zu jung. Sie musste warten.
Fest im Garten von Rolighed, wo Dagny wohnte, seit sie sechs Jahre alt war. Das Haus galt als das schönste von Kongsvinger. Heute beherbergt es das Frauenmuseum (Kvinnemuseet) und ist im Sommerhalbjahr geöffnet. © Kvinnemuseet
Ich glaube, ich kann sehen, wie Dagny durch die Løkkegate spaziert, zwei Schritte hinter Gudrun, und ich höre sie angesichts der Tatsache seufzen, dass die Stadt von ebenso viel Nutzvieh bevölkert ist wie von Menschen und dass ihr Rocksaum schmutzig wird, weil die Kühe die Straße in Matsch verwandelt haben. Heute ist die Løkkegate asphaltiert, aber noch immer sind die Häuser klein und ländlich und haben in gedämpften Farben gestrichene Fassaden. In den Fenstern lugen Geranien und Stummelkerzen hinter gehäkelten Gardinen hervor, die Türschilder sind mit der Hand beschrieben, sogar die Straßenlaternen sehen antik aus. Der Schnee liegt in sanften Wellen hinter den Lattenzäunen, während die Nacht die Zweige der Apfelbäume mit Glasur überzogen hat. Ich bleibe stehen und bin glücklich über meine Entdeckung - was für eine Vorstellung, eine Zeitmaschine, gleich bei der Landesstraße 2. Ich bin diese Straße unzählige Male gefahren, ohne zu ahnen, dass auch das Kongsvinger war. Einst war die Oberstadt das eigentliche Zentrum, sonst gab es keine Stadt. Ich bin nicht die Einzige, die sich begeistern lässt; zahllose Fans von Country Chic sind in den letzten Jahren in die Oberstadt geströmt, mit ihren Laura-Ashley-Tapeten und Flohmarktfunden, gekleidet in lockere Blusen, angereichert mit einer Prise Natur. Ein zugeschneiter Spielzeugtrecker und ein Audi in einer offenen Garage berichten von der Renaissance der Gegend. Ein Einrichtungsladen an der Straßenecke macht gute Geschäfte. Ich bin kurz davor, meinen Mann anzurufen, damit er sich an einen Makler wendet; wir verkaufen die Wohnung in der Osloer Innenstadt und ziehen in ein kleines rotes Holzhaus mit Obstbäumen und weißen Gartenmöbeln gleich unterhalb der Festung von Kongsvinger. Dieser Einfall verfliegt rasch wieder. Das Haus, das ich mir am allermeisten wünsche, ist seit Jahren nicht mehr in Privatbesitz. Es hat drei Wohnzimmer, einen parkähnlichen Garten und drei Meter hohe Wände. Allein die Unterhaltungskosten würden uns an den Bettelstab bringen, aber ein verzückter Seufzer ist immer erlaubt. Ich rede von Dagny Juels Elternhaus.
Es ist schwer, sich von Rolighed nicht beeinflussen zu lassen. Die blassrosa Fassade hat ihre Eleganz behalten, mit ihren reichen Verzierungen, den eleganten Etagentrennungen und den achteckigen Dachbodenfenstern. Auch von innen wirken die Zimmer ebenso vornehm wie früher, die Geschichte hat sich in den Wänden festgesetzt, wie bleiche Flächen, wo einmal Bilder gehangen haben, wie längst vergilbte Motive. Hier wohnt keine Familie mehr. Rolighed ist zum Frauenmuseum geworden, das 1995 von Königin Sonja feierlich eröffnet wurde. Ich betrete den Teil, wo früher einmal Doktor Juells Praxis lag und wo heute Eintrittskarten verkauft werden. Hier werde ich von Kari Sommerseth Jacobsen empfangen, der Museumsdirektorin, deren Begeisterung, als ich anrief und von meinem Buchprojekt erzählte, kaum...
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