Schweitzer Fachinformationen
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Als ich klein war, hatte ich ein Spiel für die langen, schneereichen Winter von Nordland, wo ich aufgewachsen bin. Ich ging auf ein Feld hinter der Trafostation, die das ganze Dorf mit Strom versorgte, und zeichnete die Umrisse eines Hauses. Mit den Füßen markierte ich, wo die Wände stehen sollten, ich machte Öffnungen für die Türen und Fenster, ich malte eine Veranda in den tiefen Schnee. Ich freute mich über mein Haus, ging oft hin und spielte dort allein. Das Haus war, trotz des konkreten Umrisses, ein Ort, der vor allem in meiner Fantasie existierte. Und ich wusste ja, dass der Wind nach und nach meine Spuren verwehen würde, wenn ich zurück in das große Haus ging, wo ich mit meinen Eltern und meiner Schwester wohnte. Bald würden diese Spuren zu kaum sichtbaren Vertiefungen im Schnee reduziert sein, um dann ganz zu verschwinden.
In dem Jahr, in dem ich einundvierzig wurde, kaufte ich ein Haus im Dorf Roquebrun im Südwesten Frankreichs, vierzig Kilometer vom Mittelmeer entfernt. Zu diesem Zeitpunkt war ich seit vielen Jahren verheiratet und hatte zwei Söhne an der Schwelle zu den Teenagerjahren, aber weder mein Mann noch unsere Kinder hatten je den Wunsch geäußert, ein Haus im Ausland zu besitzen.
Das Haus gehörte nur mir. Ich kaufte es für mich selbst, mit geliehenem Geld. Das belastete unsere Familienökonomie auf eine wenig günstige Weise, und eine kluge Investition war es auch nicht, da Häuser in dieser Gegend eigentlich nie im Wert stiegen.
Es war kein schönes Haus. Ehrlich gesagt war es sogar ziemlich hässlich: ein kleines Steinhaus mit rissigen Fensterläden und zerbröckelnden Mauern, wo eine alte, von niemandem gepflegte Kletterpflanze ihre verdorrten Zweige über die Fassade ausbreitete. Die Räume im Haus waren dunkel und eng und im Laufe der Jahrzehnte von immer neuen Besitzern renoviert worden, je nachdem, was in Bezug auf Modernisierung und Komfort gerade angesagt war. Dennoch gab es an dem Haus nichts, was modern oder komfortabel gewesen wäre.
Auf der Rückseite lag, mit Blick auf eine Hügelkette, eine Terrasse, nach Norden hin und arm an Sonne. Über der einen Gartentür war die Jahreszahl 1879 in Stein gehauen, aber das Haus an sich sei wohl um einiges älter, sagte die Maklerin, denn die Geschichte des Dorfes ließ sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen.
Ein halbes Jahr zuvor hatte ich im Osloer Literaturhaus den amerikanischen Autor John Irving interviewt. In jenem Winter hatte ich als Magazinredakteurin bei der Tageszeitung Aftenposten aufgehört und mich selbstständig gemacht. Es war mir leichtgefallen, diesen Auftrag anzunehmen, vielleicht fühlte ich mich auch ein wenig geschmeichelt, weil ich als Gesprächspartnerin für diesen weltbekannten Schriftsteller ausersehen war. Eine gute Stunde lang redeten wir vor Publikum miteinander, dann gingen wir zum Essen in ein in der Nähe gelegenes Restaurant. Der Verlag hatte außerdem einen jungen Debütanten aus den USA eingeladen, dessen Erstlingsroman bereits in mehrere Länder verkauft war; auch Irvings norwegischer Verlag hatte sich soeben die Rechte gesichert. Bei diesem Essen kam ich zwischen John Irving und diesem jungen Autor zu sitzen. Die beiden waren bald ins Gespräch vertieft, denn der Ältere schien aufrichtig interessiert an dem Jüngeren zu sein, der ihn möglicherweise an sich selbst in jungen Jahren erinnerte, während der Jüngere Lebensweisheit, Erfahrungen und Ratschläge des Älteren aufsaugte.
Bei diesem lebhaften Austausch war ich eigentlich überflüssig. Ich schwieg und hörte den beiden zu, versuchte, langsam zu essen, um nicht vor meinen Tischherren fertig zu sein, aber das war schwierig, denn sie waren dermaßen voneinander absorbiert, dass sie kaum Zeit für ihre Mahlzeit hatten. Irgendwann während des Gesprächs, als es zu einer natürlichen Pause kam, hätte ich sagen können, dass auch ich meinen ersten Roman veröffentlicht hatte, als ich im Alter des jungen Amerikaners war. Ich hätte sagen können, dass auch mein Buch in mehrere Länder verkauft worden war, ich hätte meine Erfahrungen mit ihm teilen können, aber das tat ich nicht, denn ich kam ganz einfach nicht auf diese Idee. Ich hatte inzwischen schon lange nichts mehr veröffentlicht. Aus irgendeinem Grund kam mir mein eigenes Schreiben überhaupt nicht wichtig vor. Stattdessen hörte ich aufmerksam zu, nickte freundlich und interessiert, spielte meine Rolle, die vor allem daraus bestand, für die beiden eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, nicht viel anders als die schweren roten Portieren, die unser kleines Chambre séparée mit Wärme und Harmonie erfüllten.
Als ich mit der Straßenbahn nach Hause fuhr, überlegte ich, wie es so weit gekommen war. Wieso hatte ich mich aus einer jungen, vielversprechenden Autorin in eine Portiere verwandelt? Ich stieg aus der Straßenbahn aus, schlenderte durch das gepflegte Viertel, in dem ich wohnte, schloss die Tür zu unserer Wohnung im Vierparteienhaus auf, wo mein Mann vor dem Fernseher saß. Wie immer fragte er, wie es gelaufen sei, und ich antwortete, alles sei gut gelaufen. Das stimmte ja auch, denn im Großen und Ganzen war es für mich ein angenehmer Abend gewesen. Aber gerade dies machte mir auch zu schaffen, denn hätte mein eigenes Schweigen mich nicht mehr empören müssen? Hätte ich mir nicht vielmehr Gedanken darüber machen müssen, warum ich keine Bücher mehr schrieb, nachdem ich geheiratet und Kinder bekommen hatte? So dachte ich selten. In regelmäßigen Abständen ging ich auf Reisen, in dem Versuch, meine schlafenden Autorinneninstinkte zu wecken. Kurze, hektische Schichten in geliehenen Zimmern oder Wohnungen, dann kam ich nach Hause, satt und zufrieden, als ob ich einen Hunger gestillt hätte, der meinen Magen nur ausnahmsweise knurren ließ. Eigentlich fehlte mir das Schreiben nicht. Ich war nicht unzufrieden, nicht frustriert. Im Gegenteil, oft empfand ich eine tiefe Dankbarkeit für meine Familie, für unser Zuhause und unser Leben. Wenn mich jemand nach meinem Beruf fragte, antwortete ich niemals, ich sei Schriftstellerin.
»Jetzt hast du wieder Zeit zum Schreiben«, sagte mein Verleger, als ich mein neues Dasein als Freiberuflerin antrat. Er lud mich zum Kaffee ein, ich fuhr mit der Straßenbahn zum Verlag, dankbar dafür, dass ich überhaupt einen Verleger hatte, besorgt, weil ich ihm nicht eine einzige Idee vorstellen konnte. Wir plauderten ein wenig, was zu keinem besonderen Ergebnis führte. Als ich den Verlag verließ, kamen mir Zweifel, ob ich überhaupt noch Schriftstellerin sein wollte; vielleicht war das ein Titel, mit dem ich mich schmückte, ohne wirklich schreiben zu wollen. Je mehr ich darüber nachdachte, umso überzeugter wurde ich, dass meine beiden Romane, die ich mit Ende zwanzig geschrieben und veröffentlicht hatte, pure Zufälle gewesen waren.
Ich hatte mir seither gesagt, dass ich nicht schrieb, weil ich nie allein war und keine Zeit hatte. Jetzt hatte ich keine feste Stelle mehr, hatte jeden Tag viele Stunden lang das Haus für mich, außerdem hatte ich von meinem ehemaligen Arbeitgeber eine großzügige Abfindung bekommen. Dennoch machte ich mehr oder weniger dasselbe wie zuvor: Ich schrieb Artikel und redigierte Texte, die andere geschrieben hatten, übernahm eine Kolumne in der Zeitung, die ich gerade erst verlassen hatte, interviewte andere Autorinnen und Autoren. Alles, was, seit ich geheiratet und Kinder bekommen hatte, in mir schlummerte, sollte nun erweckt werden, aber es kam nicht heraus, es blieb mit erstaunlicher Widerstandskraft in mir stecken.
Ich hatte nämlich vergessen, dass Literatur sich nicht an Arbeitszeiten hält. Wenn ich sie herbeizurufen versuchte, kam sie erst, wenn ihr selbst das eben passte. In den Stunden zwischen acht und drei setzte ich eine Gedankenarbeit in Gang, die schließlich die ganze Zeit weiterging, rund um die Uhr, und die unterbrochen wurde, wenn meine Kinder nach Schulschluss zur Tür hereinkamen. Ich befahl den Gedanken, die mehr und mehr Platz in mir einnahmen, zu schweigen, einige waren klein und scheinbar belanglos, andere üppiger und voller Verheißungen. Die Jungen machten sich breit in den Zimmern, mit Schultaschen und Geräuschen und Klamotten, die sie abstreiften, sie verlangten Essen und Trinken und Hilfe bei den Hausaufgaben, einen bestimmten Pullover, den ich zu waschen vergessen hatte, Wünsche, auf die ich einzugehen versuchte, aber die ich nicht erfüllen konnte, weil ich in Wirklichkeit an einem anderen Ort weilte. Ich kochte, während ich mich an diesen Ort sehnte, der nur als abstrakte Vorstellung existierte, saß am Esstisch und hörte Gesprächen zu, denen ich nicht folgen und an denen ich mich nicht beteiligen konnte, weil ich Angst hatte, sie würden meine fortlaufende Gedankenarbeit stören. Eine Arbeit, aus der vielleicht etwas werden könnte, wenn ich dafür sorgte, dass sie nicht angehalten würde.
Allmählich verspürte ich eine tiefe Trauer darüber, dass ich in der Wohnung, die unser Zuhause war, keine Literatur schreiben konnte. Es war eine dermaßen übertriebene Trauer, dass ich sie mit niemandem zu teilen wagte, aber sie belastete mich so sehr, dass Familie und Freunde es schließlich bemerkten. Ich brach wegen Kleinigkeiten in Tränen aus, war reizbar und ungeduldig, ich nutzte jede Gelegenheit, um allein zu sein, dennoch war ich nie allein genug. Morgens konnte ich im Bett unter der Decke liegen und darauf warten, dass sich das Haus leerte. Ich wartete auf die Abwesenheit von Mann und Kindern, freute mich darauf. Mein jüngerer Sohn öffnete die Tür, um mir einen Kuss zu geben, ich streckte ihm die Arme entgegen und dachte: Ich liebe dich, aber du musst...
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