Schweitzer Fachinformationen
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Das Zuhause. Hier ist mein Zuhause.
Der Gedanke ließ Markus Siltanen lächeln. Er wickelte den Ledermantel fester um sich, zog sich tiefer unter das Schutzdach zurück und blinzelte, um durch den Sprühregen hindurchzublicken. Trotz des Hundewetters fühlte er sich festlich gestimmt: Hier stand er tatsächlich, im Herzen seiner neuen Heimatstadt, ringsum der Alexanderplatz, der Fernsehturm, die Weltuhr und das Rote Rathaus. Hier stand er, hier wohnte er, und dieser Jubel wurde nicht einmal durch diesen fürchterlichen mitteleuropäischen Wintersturm getrübt, der die Schiffe nach Rostock und die Wochen des Skispringens in der Tschechoslowakei lahmgelegt hatte. Markus hüpfte ein wenig, um warm zu bleiben, als ihm die Idee kam: Natürlich, er würde über den Sturm schreiben! Wie gelangten die Menschen an ihren Arbeitsplatz? Funktionierten die Fabriken? Wie wurden die von der Natur verursachten Schäden im Westen kommentiert? Natürlich würden nicht einmal die fürchterlichsten Wetterverhältnisse den Sozialismus ins Wanken bringen, aber trotzdem war es gut, diese Fragen zu stellen und Antworten zu geben, die die Wahrheit zeigten. Storythemen waren ihm schon lange durch den Kopf gegangen. Es waren viele, aber mit welchem sollte er das Spiel eröffnen, wie die unsterbliche Eröffnung formulieren, nach der keinem Leser seiner Zeitung Kansan Voima, Kraft des Volkes, unklar bleiben würde, dass es Markus Siltanen war, der in den kommenden vier Jahren für die Berichterstattung aus dem Herzen der Deutschen Demokratischen Republik zuständig war, der ehemalige Redaktionsleiter und jetzige Berlinkorrespondent. Der Sturm und seine Folgen, das war es - das perfekte Thema, alltäglich und dramatisch zugleich.
Kälte und Feuchtigkeit drangen Markus in Knochen und Mark. Er verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere, dann wieder auf das andere, und hüpfte auf der Stelle. Noch hatte er keine Lust, sich in das Unwetter hinauszubegeben. Bis nach Hause war es weniger als ein Kilometer, aber es graute ihm vor den Ästen, an denen der Wind zerrte, und vor den unberechenbaren Sturmböen. Er spähte nach oben und genoss das Wissen, dass hoch über ihm der Fernsehturm aufragte. Wenn der Sturm vorüber ist, werden wir zusammen hierherkommen, Rosa und die Kinder und ich, dachte er. Wir fahren mit dem Fahrstuhl hinauf, betrachten von oben die Stadt, ich zeige den Kindern die Mauer und das Pressezentrum und den Himmel über Berlin.
Da bemerkte Markus die Frau und das Kind. In gelbe Regenjacken gehüllt, rannten die beiden durch den Regen zu der Tür, die in die Eingangshalle des Turms führte. In die Halle, nach drinnen, begriff Markus plötzlich und setzte ihnen nach. Der Wind packte das Glas, es fehlte nicht viel, und er hätte die Tür aus den Angeln gerissen, als Markus sie mit beiden Händen packte. Die Frau ging zum anderen Ende der Halle und setzte das Kind auf eine Bank. Markus blieb in der Nähe der Außentür und bemerkte einen Mann, der sich auf die Frau zubewegte, wobei seine Füße den Boden abtasteten.
»Gute Frau, hätten Sie einen Moment Zeit?«, fragte der Mann.
Die Frau hob den Blick. Aus ihren Haaren rann der Schneeregen, über ihre Wangen die Wimperntusche.
»Ja?«
»Mein Kollege und ich«, sagte der Mann und deutete auf einen Burschen mit schlechter Haltung, der in einigen Metern Entfernung stand und mit übertriebenen Bewegungen Kaugummi kaute. In den Händen hielt er eine Filmkamera. »Wir machen ein Programm. Der Zeitpunkt ist etwas unglücklich, es sind nicht viele Leute unterwegs. Ich nehme an, Sie sind Ostdeutsche?«
»Natürlich bin ich das.«
»Natürlich, natürlich sind Sie das. Ich wollte mich nur vergewissern, dass Sie nicht Tschechin sind. Oder Ungarin.«
Markus ging ein paar Schritte näher zu den Leuten heran. Die Frau verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere.
»Was wollen Sie?«
»Nur ein paar Fragen stellen. Ganz kurz, das Interview ist gleich fertig. Und die Frage nicht schwieriger als: Was wünschen Sie sich zu Weihnachten?«
»Wozu brauchen Sie so eine Information?«
»Wir machen ein Programm für das ZDF, eine Reportage zum Thema, wie wird Weihnachten in der DDR gefeiert. Und über die Weihnachtswünsche der DDR-Bürger.«
»Für das West-Fernsehen. Warum?«
»Im Westen dürstet man nach Informationen über das Leben der Ostdeutschen. Viele wünschen sich Informationen über das Leben ihrer hier wohnenden Verwandten. Vielleicht ist das bei Ihnen genauso? Wohnen auch einige Ihrer Angehörigen auf der anderen Seite der Mauer?«
Noch ehe die Frau über eine Antwort auch nur hätte nachdenken können, hatte der Mann dem Kaugummikauer schon ein Zeichen gegeben, und er kam herbeigeschlurft.
»Kurt Bäcker, mein Kameramann. Und ich - ich bin Klaus Hauser.«
Der Mann streckte die Hand aus und berührte damit fast die Frau.
»Anne Stern«, sagte die und ergriff zögernd Hausers Hand.
»Frau Stern, ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte der Mann mit übertriebener Ehrerbietung in der Stimme. »Und du, wie heißt du?«
Hauser beugte sich zu dem Jungen hinunter.
»Peter.«
Der Junge versteckte sich hinter dem Bein seiner Mutter.
»Peter! Wie alt bist du?«
»Vier.«
»Vier!«, rief Hauser aus und hielt sein Mikrofon Anne Stern vors Gesicht, nickte dann dem Kaugummikauer zu, der sich die Kamera auf die Schulter gewuchtet hatte.
»Frau Stern, erzählen Sie uns doch bitte, wie man sich hier in der DDR auf Weihnachten vorbereitet.«
Markus glaubte, er könne sich vorstellen, was Frau Stern jetzt durch den Kopf ging: Wenn sie nichts sagte, würde die Kamera ihre schroffe Weigerung festhalten, wenn sie jedoch antwortete, würde dieser unverschämte Kerl, der so stümperhaft ein Interview verlangte, das bekommen, was er wollte. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde Frau Stern schweigen, aber Hauser ließ nicht locker:
»Haben Sie sich schon überlegt, was Sie sich zu Weihnachten wünschen?«
Anne Stern starrte Hauser in die Augen und sagte dann:
»Freilich. Weihnachten ist ja in einer Woche. Ein passender Weihnachtswunsch könnte zum Beispiel sein, dass die Amerikaner ihre Raketen aus Westdeutschland abziehen.«
Markus fuhr zusammen. Hauser schien das Lächeln zu vergehen.
»Ahaa. Ja. Und weitere Wünsche? Haben Sie noch andere Wünsche?«
»Eigentlich nicht. Ich wünsche mir nur Frieden, richtigen Frieden. Der ist schwer zu bekommen, wenn im Nachbarland Dutzende von Raketen stationiert sind. Ich hoffe, dass Reagan und Kohl endlich verstehen, dass Krieg und das Androhen von Gewalt nicht dazu beitragen, Beziehungen zwischen Staaten aufzubauen. Wir in der DDR wünschen uns Frieden für hier und anderswo, zu Weihnachten und zu allen anderen Zeiten.«
Klaus Hauser lachte trocken. Wie jemand, der einen über seine Kräfte gehenden Kampf aufgegeben hat, führte er das Mikrofon weg von Anne Stern und hielt es Peter hin.
»Und du, Peter? Was wünschst du dir zu Weihnachten? Was wäre das Beste, was du zu Weihnachten bekommen könntest?«
»Ein Fahrrad«, sagte der Junge leise.
»Ein Fahrrad!« Hauser schien von Peters Antwort begeistert zu sein. »Hast du eine Lieblingsfarbe? Grün, oder vielleicht Blau?«
»Rot. Ich wünsch mir ein rotes Rad.«
»Na, das wäre ja was, ein rotes Fahrrad!«
Plötzlich zog Klaus Hauser sein Mikrofon von Peter fort, kehrte Anne Stern und dem Jungen den Rücken und trat vor die Kamera. Das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden, an seine Stelle war ein überbetonter Ausdruck von Sorge getreten.
»Der vierjährige Ostberliner Junge Peter wünscht sich zu Weihnachten ein rotes Fahrrad. Wie mag es diesem Wunsch ergehen? Hat die Mutter die Möglichkeit, den Wunsch ihres Sohnes zu erfüllen? Hier hinter der Grenze leiden die Ostdeutschen an ständigem Mangel. Sie können sich nicht immer das Nötigste leisten, Essen und Trinken, und auch wenn sie es könnten, sind doch so manche Grundbedarfsgüter im Handumdrehen ausverkauft. Es mangelt sogar an Zucker, Brot und Mehl, ganz zu schweigen von Kaffee und Früchten. Bananen hat man hier kaum jemals gesehen .«
Anne Stern stürmte aus dem Vorraum des Fernsehturms ins Freie und zog den kleinen Peter hinter sich her. Einen Augenblick lang wusste Markus nicht, was er machen sollte. Der Wind hinter den Glasscheiben wirbelte abgerissene Blätter, Müll und Schneeregen durch die Luft, und von dem Baum, der vorhin noch aufrecht dagestanden hatte, hing einer der unteren Äste abgespalten herab. Was, wenn der Frau und dem Kind jetzt etwas passierte? Einer plötzlichen Eingebung folgend stürzte Markus auf den Platz hinaus.
Der Himmel hing wie eine schwere Decke über dem Vorhang aus Tropfen, der sich überallhin ausgebreitet hatte. Markus rannte um die Ecke des Turms in Richtung Rathaus und Nikolaiviertel.Die Frau und der Junge waren nirgends zu sehen. Waren sie in eine andere Richtung gegangen, zum Palast der Republik oder zum Prenzlauer Berg? Einen Augenblick lang überlegte Markus, entschied sich dann für das Nikolaiviertel und rannte los, und da: die gelben Regenjacken. Die Frau stürmte mit ungewöhnlich großen Schritten in Richtung Rathaus, durch die eisige graue Luft, dass der kleine Peter nur so über die Pfützen flog.
»Frau Stern!«, rief Markus, doch der Sturm verschluckte seine Stimme.
Beim Rathaus verlangsamte die Frau ihre Schritte, blieb stehen und machte sich an den Stiefeln des Jungen zu schaffen. Markus erreichte sie.
»Frau...
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