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Indessen war Eufrasia mit den Jahren immer magerer geworden. Dünn wie ein Christusdorn.
Sie aß wie ein Vögelchen.
Noch schweigsamer als früher, ging sie nur hinaus, wenn es sich nicht vermeiden ließ; meistens machte sie sich im Haus zu schaffen und verließ es nur für dringende Besorgungen oder um rasch etwas aus dem Gemüsegarten zu holen. Weil sie niemandem traute, blickte sie sich immer wieder misstrauisch um.
Sie wirkte müde, und ihrer Miene war abzulesen, dass sie zu nichts mehr Lust hatte, niemanden mehr sehen und niemanden mehr hören wollte.
Nicht einmal mehr den Gottesdienst besuchte sie.
Stets trug sie einen Rosenkranz in der Schürzentasche bei sich, den sie mitunter verzweifelt umklammerte, und betete Litaneien herunter, wobei sie lange beim Salve Regina verweilte und öfter als nötig, und indem sie sie betonte, zwei Wörter wiederholte: spes nostra, spes nostra, spes nostra.
Wenn sie nichts anderes zu tun wusste, zerkrümelte sie die Zeit mit dem Zählen der rot-violett verfärbten Knöchel ihrer von der Arthritis gekrümmten Hände.
Wenn Aniceto an ihr vorbeiging, vermied er es für gewöhnlich, das Wort an sie zu richten, und Eufrasia war inzwischen froh, nicht mehr krampfhaft ein Gespräch führen zu müssen.
Zwar kochte sie nach wie vor, aber nur einfache Gerichte. Stillschweigend war sie dazu übergegangen, sich ganz auf Ada Maria zu verlassen, die in die Rolle der Mutter geschlüpft war. Den Chicorée putzte Eufrasia noch immer gern; mit einem kleinen spitzen Küchenmesser entfernte sie die harten, keilförmigen Strünke und die gelben, verwelkten Blätter. Gern rührte sie auch das geschnittene Gemüse, während es im kochenden Wasser zappelte, sie mochte seinen leicht stechenden Geruch und beobachtete, wie es zusammen mit Knoblauch in der Pfanne brutzelte. Alles andere schien ihr nicht mehr von Interesse, sondern bedeutungslos geworden zu sein. Pietrinos schulterlange schwarze Haarmähne, seine mageren flinken Beine und die auf seiner Nase sprießenden Sommersprossen brachten Unruhe in die isolierte Welt dieser Frau, der es, ehrlich gesagt, unangenehm war, wenn das in die Zukunft weisende Kind hin und wieder zu ihr gehüpft kam. Eufrasia fühlte sich unwohl, zu schlaff und zu schwach für einen heranwachsenden Jungen. Ada Maria hingegen war ihr ein Trost, ihre klaren Vorstellungen ein Hoffnungsschimmer für sie. Und doch reichten die Kräfte des Mädchens nicht aus, um gewisse Spuren zu tilgen - die der Kröte -, die unauslöschlich in ihrem Gedächtnis eingebrannt waren.
Sie hatte versucht, darüber hinwegzukommen, zu tun, als ob nichts wäre. Natürlich hatte sie das.
Eine Zeit lang schien es ihr sogar, als ließe sich auf diese Weise alles wieder in Ordnung bringen: indem sie den Kopf in den Sand steckte.
Zu tun, als ob nichts wäre: Das war bisweilen eine gute Medizin.
Die ewigen Diskussionen waren jetzt vorbei, das schon. Genauso wie diese Qualen, sicher. Aber da waren noch immer diese unüberwindlichen Klippen vor ihr. Wobei ihr die Sache mit Teresina wirklich nichts ausmachte. Was nach wie vor auf ihr lastete, war die Erinnerung an die mit dem Kröterich verbrachten Nächte. Die ließen ihr keine Ruhe, machten sich immer wieder mit anmaßendem Wispern in ihren Gedanken breit. Ohne ihr je Frieden zu gönnen.
Eine Schneiderschere, die alles überlebt hatte, auch den Krieg, hütete Eufrasia wie ihren Augapfel; manchmal spielte sie damit, führte die Finger in die ringförmigen Griffe und rieb über die noch immer scharfen Blätter. Dann versuchte sie, sich die wenigen Augenblicke auszumalen, die es bräuchte, um sie sich in die Kehle zu rammen und so ihrem Leben mit einem einzigen Scherenstich ein Ende zu bereiten. Ein einziger Stoß würde genügen. Ein entschlossener Stoß. So, wie man es mit den Hühnern, den Truthähnen und Gänsen machte.
In null Komma nichts würde das Blut aus ihrem Körper fließen.
Sie spielte oft mit dem Gedanken. Dass sie es früher oder später tun würde.
Vielleicht vor dem Spiegel des Schlafzimmers, wo Aniceto abends verschiedene Schießhaltungen übte und wie man am besten den Gewehrschaft an die Schulter anlegte, um den Rückstoß im Moment des Abdrückens abzumildern.
Sie wollte durch die eigene Hand sterben, mit den Scherenblättern in der Kehle. Wie ein Huhn, das man dann rupfte und ins kochende Wasser gab.
Auf ihre Umgebung wirkte Eufrasia schweigsam und in sich gekehrt, womöglich resigniert, durchaus auch angeschlagen, aber im Grunde im Frieden mit sich. So kam niemand auf die Idee, dass sie sich mit gewissen Gedanken trug.
Wie dem auch sei, der Tod erhört nur selten die Wünsche der Menschen.
Eufrasia starb eines Nachts, mitten im Schlaf, ohne sich dessen bewusst zu sein, mit geschlossenen Augen, während ihr Mann ahnungslos neben ihr schnarchte.
Gar nichts ahnend.
Am Abend, bevor er unter die Decke geschlüpft war, hatte er die Umhängetasche, den Patronengurt und die Flinte griffbereit am Fußende des Betts platziert. Mit äußerster Sorgfalt, wie der Priester den Altar für die Eucharistiefeier vorbereitet. Und war in Gedanken an die morgendliche Jagd sofort eingeschlafen.
Es war das Herz. Ein Infarkt. Kurz und schmerzlos.
Eufrasia lag auf der rechten Seite, die Hände auf der Brust, den Mund leicht geöffnet.
Als Aniceto aufstand, um sich zuerst zu Teresina zu begeben, ehe er in den Wald ging, war sie schon tot. Aber er bemerkte es nicht und entfernte sich auf Zehenspitzen, darauf bedacht, keine Geräusche zu machen. Und so war es Ada Maria, die ihre bereits steife Mutter entdeckte. Wenngleich sie auf Anhieb begriff - vielleicht gut so für sie -, dass Eufrasia gegangen war, flüsterte sie ein paar Mal ihren Namen, dann rief sie ihn flehend und brüllte ihn schließlich, in ihrem verzweifelten Versuch, sie aufzuwecken.
Pietrino war in der Schule.
Allein im Haus, kniete Ada Maria am Bettrand nieder und legte den Kopf neben Eufrasias Füße: um zunächst ein Ave-Maria zu sprechen, doch dann ließ sie tausend andere Worte folgen, als wollte sie dieser Frau, die selbst nie von Liebe gesprochen hatte, zum Abschied eine hauchzarte Spitze der Liebe klöppeln.
Ada Maria streichelte ihr über die niedrige, schmale Stirn. Es kostete sie einige Mühe, sie auf den Rücken zu drehen, und erst da weinte sie. Auf dem Nachtkästchen fand sie neben dem Bildnis des heiligen Antonius eine alte verrostete Schere, von der sie nicht wusste, warum sie dort lag, mit der sie aber jetzt das Nachthemd der Mutter durchschnitt, um es ihr besser ausziehen zu können, dann das dünne Unterhemd und die Unterhose. Dann bedeckte sie den Leichnam mit dem weißen Bettlaken, ging die Treppe hinunter, wusch sich die Hände und verließ das Haus.
Sie schaffte es ohne fremde Hilfe nicht.
Sie musste nicht zweimal überlegen, wen sie darum bat.
Auf der Straße begegnete sie einigen Menschen, die sie grüßte, ohne ihnen etwas vom Tod der Mutter zu sagen. Vor der kleinen Wegkapelle der Madonna delle Rose verneigte sie sich leicht, dann stieg sie schnell die Treppe hinauf und klopfte sachte an Teresinas Tür.
Ohne zu stammeln oder dass ihre Hände zitterten, ohne dass es ihr schwer ums Herz war, äußerte sie ihre Bitte.
Teresina kam ihrem Wunsch umstandslos nach. Sie nickte nur kurz zum Zeichen ihres Einverständnisses. Dann schloss sie die Tür hinter sich ab. Mit zwei Schlüsseldrehungen. Und folgte ihr.
Mit Schwämmen und einem Gemisch aus Wasser und Essig wuschen sie Eufrasia, schnitten ihr die Fingernägel, jede nahm sich eine Hand vor.
Schließlich zogen sie ihr ein fuchsiafarbenes festliches Gewand an, bestehend aus einem plissierten Rock und einer Bluse mit einer durchgehenden Reihe winziger wie Linsen anmutender Knöpfe und einer Jacke aus weichem Stoff mit schmalem Kragen. Ihre Mutter hatte es noch nie getragen; sie hatte auf eine passende Gelegenheit gewartet, vielleicht eine Taufe oder eine Hochzeit oder aber genau auf diesen Moment, da ihre Tochter es aus dem Schrank nahm.
Dann kämmte Ada Maria sie, löste die Knoten, dort, wo sich die wenigen, aber langen Haare verheddert hatten, und flocht sie zu einem dünnen Zopf, den sie ihr seitlich am Gesicht herabfließen ließ. Wie bei einem jungen Mädchen.
Teresina war so umsichtig, ihr noch ein wenig Watte in die Nasenlöcher zu schieben - und so sah die Verstorbene, würdig zurechtgemacht, aus, als schliefe sie, so wie es bei Toten keine Seltenheit ist.
Währenddessen lief Ada Maria in den Schuppen hinüber, um rasch etwas zu holen. Mit einem gezielten Blick fand sie eine Schachtel, der sie einen Schmetterling mit schwarzen, gelb melierten Flügeln entnahm. Wieder zurück, arrangierte sie ihn vorsichtig zwischen Eufrasias Fingern. Und zu guter Letzt drapierte sie den Rosenkranz um die verschränkten Hände, wickelte ihn um einen Finger, der inzwischen steif wie der Strunk eines Maiskolbens war.
Dann schlossen sie die Fensterläden, verteilten im ganzen Zimmer Kerzen, entzündeten sie und trugen Anicetos Schuhe, die er neben dem Bett stehen gelassen hatte, in den Keller. Nun fehlten noch Blumen. Jetzt, im Mai, gab es bereits Rosen in den Gärten: Sie wählten welche aus, deren Blüten schon geöffnet waren, sozusagen bereit, zu verblühen, und vielleicht aus diesem Grund besonders duftend.
Sie entfernten die Schüsseln mit dem schmutzigen Wasser und den Schwämmen. Dann räumten sie auf, machten bis in die letzten Winkel des Hauses sauber, wie für eine Hochzeit.
Zum Schluss begaben sie sich gemeinsam zum Pfarrer und zum Dorfarzt.
Allmählich trafen die Leute ein: Manche weinten, andere beteten, einige blieben stumm, waren aber sichtlich bestürzt angesichts Teresinas...
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