Kapitel 2
Sie versuchte die letzten Stunden, in denen alles über sie hereingebrochen war, Revue passieren zu lassen. Die ratlosen Gesichter. Das Gemeinschaftsmeeting im großen Konferenzraum, das so unheilvoll geendet hatte. Schließlich war es der Verlagsleiter Joachim Schramm persönlich, der Klarheit gebracht hatte: Walter Stein, der langjährige Chefredakteur der BLITZ, habe einen Herzinfarkt erlitten. Und niemand könne zum jetzigen Zeitpunkt sagen, wie schlimm es um ihn stand. Doch das Leben musste weiterzugehen. Wie auch der Redaktionsalltag. Vor allem der.
Als Schramm mit seiner pathetischen, Mut machenden Ansprache geendet hatte und sich nun auch der Konferenzraum leerte, war Maren als Einzige im Raum geblieben - auf Geheiß des Verlagsleiters hin. Er wollte ein Gespräch unter vier Augen mit ihr führen. Und er redete viel und sachlich routiniert. Maren verstand nicht alles. Genau genommen verstand sie seit dem Moment überhaupt nichts mehr, als Schramm ihr offenbart hatte, dass er sie in den Stand der Interims-Chefredakteurin berief. Mit sofortiger Wirkung.
Sie.
Ausgerechnet sie.
Und nun saß sie hier, in einem Büro, das so vertraut und doch wenig geliebt war. In einem Arbeitszimmer, mit dem sie viele Erinnerungen verband. Nicht die besten - beileibe nicht. Dieser Raum war stets ein Ort des Kampfes für sie gewesen. Um ihre Position gegenüber Stein zu behaupten. Um mehr oder weniger widerwillig seine Befehle entgegenzunehmen, sich gegen seinen Willen aufzubäumen oder Kritik an seinem Führungsstil zu üben, wenn sie es für angebracht hielt.
Nun konnte sie diesem Raum ein weiteres dunkles Kapitel hinzufügen. Nun war es auch der Ort, in dem ihr Vorgesetzter einen Herzinfarkt erlitten hatte. Hier an diesem Schreibtisch.
Und Sophie war nicht hier, um sie zu trösten oder ihr beizustehen. Denn Sophie hatte vor einiger Zeit ihrerseits die Chefredaktion bei IN PRIVATE in Berlin übernommen und würde diese Aufgabe gewiss mit Leichtigkeit, nein, mit Bravour meistern .
Als Erstes tat Maren das, was dieses Büro am dringendsten nötig hatte. Sie riss alle Fenster auf und versprühte ihr Parfüm. Es war nicht so, dass Walter Stein ein schlecht riechender Mann war. Eigentlich roch er überhaupt nicht. Aber das Büro müffelte. Nach antiquarischen Möbeln, kaltem Rauch, altem Papier, und seit heute Morgen auch nach Verfall und Vergänglichkeit.
In der zweiten Stunde überkam sie ein euphorisches Gefühl, das am ehesten einem Rausch glich. Unverhofft hatte ein tragisches Schicksal sie begünstigt und die Karriereleiter hinaufgestoßen. Nur wenig später folgte schlagartig das schlechte Gewissen, da sich dieses Hochgefühl von Walter Steins Tragödie nährte.
In der dritten Stunde erreichte sie dann einen Zustand, der sich nicht mehr abschütteln ließ: Panik.
Und nun saß sie da, auf einem Chefsessel, der ihr zu klobig war, hinter einem Schreibtisch, der ihr ebenfalls viel zu groß erschien und auf dem sich stapelweise Seitenausdrucke türmten, von denen ihr nicht einmal die Hälfte etwas sagte. Das Telefon klingelte. Das tat es schon lange. Aber sie war nicht mehr gewillt, ein weiteres Gespräch entgegenzunehmen, um sich noch ein Thema aufzubürden, mit dem sie nichts anzufangen wusste, das sie nicht interessierte. Analysen. Excel-Listen, Marketing-Budget-Umverteilungen . Herrje, sie war Journalistin, keine Buchhalterin! Zahlen interessierten sie nur auf ihrem Bankkonto - oder im Bett, wenn sie 6 und 9 lauteten.
Nach weiteren zwei Stunden in ihrer neuen Position warf sie schließlich das erste Mal das Handtuch und legte ihre glühende Stirn auf die kühle Tischplatte. Sie atmete tief durch den Mund, schloss die Augen und hegte nicht die Absicht, sie je wieder zu öffnen.
Doch das jammernde Telefon erwies sich als hartnäckig und dachte nicht im Traum daran, sein Wehklagen zu beenden. Maren hob den Kopf und las Lori Schneiders Namen auf dem Display, Walter Steins Sekretärin. Und bis auf Weiteres auch ihre . Also nahm sie das Gespräch entgegen.
»Und?«, fragte die vertraute Stimme der älteren Frau. »Schon gut eingelebt, Frau Janson?«
Maren war einen klitzekleinen Augenblick irritiert, so förmlich von Lori angesprochen zu werden. Normalerweise pflegten sie einen vertrauteren Umgang miteinander und duzten sich. Walter Steins Sekretärin nannte sie häufig einfach nur in einem mütterlich vertrauten Tonfall »Kindchen«- was Maren sehr gefiel.
Sie überlegte kurz, ob sie anstelle einer Antwort einfach zu weinen beginnen sollte. Doch sie entschied sich dagegen und beließ es bei einem lebensverneinenden Seufzen. »Bitte nicht, Lori«, sagte sie stattdessen. »Ich bin's! Maren . Nur weil ich jetzt vertretungsweise deine Vorgesetzte bin, müssen wir uns doch nicht plötzlich siezen.«
»Na gut, Kindchen«, sagte die ältere Frau. Schon besser. Und dann: »Hast du dich denn schon mit deinem neuen Firmenhandy vertraut gemacht?«
»Nun ja, es hat ein großes Display und einen An- und Ausschalter.«
Lori lachte. »Im Großen und Ganzen hast du natürlich recht, aber es gibt eine Besonderheit. Ich hab dir eine Notfallnummer eingerichtet, unter der ich dich nur kontaktieren werde, wenn es wirklich, wirklich dringend ist. Bei Herrn Stein und mir hat sich dieses Vorgehen absolut bewährt, und ich empfehle dir dringend, dies beizubehalten.«
»Klar«, sagte Maren knapp. »Und woran erkenne ich den Notfall-Anruf?«
»Ganz einfach«, erwiderte Lori freudig. »Sobald du die Titelmelodie von Zwei glorreiche Halunken hörst, solltest du rangehen.«
»Von was?«, fragte Maren irritiert, woraufhin Lori die ersten Takte des Songs zu summen begann. Es klang schrecklich.
»Alles klar«, sagte sie schnell. »Ich werde es mir hinter die Ohren schreiben.«
»Und vergiss bitte nicht die Abteilungsleiter-Konferenz in einer halben Stunde. Herr Schramm hat noch einmal auf die Dringlichkeit dieser Sitzung hingewiesen.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Maren sofort. Wie hätte sie die Sitzung auch vergessen können, wenn sie bis vor ein paar Sekunden nicht einmal gewusst hatte, dass es sie überhaupt gab.
»Steht ja im Kalender. Und der liegt gleich vor dir.«
Gruselig, als hätte sie meine Gedanken durch das Telefon lesen können, durchfuhr es Maren unheilvoll.
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«
Maren schüttelte den Kopf, was eine unnötige Geste war, da Lori sie ja nicht sehen konnte. »Nein«, sagte sie matt. »Ich komme schon klar. Ich brauche jetzt nur einen starken Kaffee.«
Sie legte auf, griff nach einem Textmarker und hob den anstehenden wichtigen Termin hervor, der nun im Tischkalender neongrün aufschimmerte.
Dann stand sie von diesem viel zu niedrig eingestellten Sessel auf, der ihr bereits Nackenschmerzen bescherte, zog sich ihren Blazer über und öffnete die Tür, um sich den stärksten Kaffee zu holen, den der Kaffeeautomat auszuspucken in der Lage war.
Als sie schwungvoll die Tür aufzog, starrte sie in ein Gesicht, dessen Besitzer offenbar im selben Moment vorgehabt hatte, an die Tür zu klopfen.
Maren war nicht gerade klein, dennoch musste sie aufschauen. Es war ein hübsches Gesicht, das sie sichtlich erstaunt musterte. Mit dunklen Zügen und noch dunkleren Augen.
»Mark.« Sie stieß einen überraschten Aufschrei aus und erntete damit ein breites Grinsen, das eine Doppelreihe strahlend-weißer Zähne offenbarte.
»Ich wollte gerade .«
». mich sehen?«, fragte er auf charmant-verspielte Weise.
»Nein, eigentlich nicht, sondern .«
Ehe sie den Satz vollenden konnte, war Mark auch schon unter ihrem Arm hindurchgetaucht und in Walters Büro getreten.
»Komm doch rein«, murmelte sie, während sie die Tür schloss und dabei zusah, wie sich Mark auf dem gepolsterten Leder-Sofa fläzte, das auch in ihrer Wohnung eine gute Figur gemacht hätte. Sie stand noch eine Weile unentschlossen da, mit dem Türgriff in der Hand, und musterte Mark Lombardi.
Zwischen ihr und dem Hausfotografen der BLITZ knisterte es noch immer, auch wenn aus ihrer bittersüßen Affäre nie etwas Ernstes geworden war. Er war einfach ein gut aussehender Mann, doch heute hatte er etwas an sich, was ihn noch interessanter wirken ließ. Der untere Teil seines Gesichts wurde dominiert von dunklen Bartstoppeln, die er weitaus länger hatte wachsen lassen als drei Tage. Das gab seinen eigentlich sanften Zügen eine verwegene Erscheinung und betonte seine tiefgründigen Augen nur noch mehr.
Mark trug eine verwaschene, leger geschnittene Jeans und dazu nichts weiter als ein weißes, kurzärmeliges T-Shirt mit V-Ausschnitt, unter dem sich sein durchtrainierter Oberköper abzeichnete. Er sah aus, wie aus einer Cola-Light-Werbung entsprungen.
»Was willst du hier?«, fragt sie mit gespielter Schärfe und erntete ein breites Grinsen.
»Dir gratulieren.«
Maren betrachtete ihn skeptisch. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, was seinen Bizeps deutlich zur Geltung brachte. Wie er so dasaß und sie mit diesem Grinsen bedachte, fühlte sich Maren augenblicklich zurückversetzt, in die Berge der Rocky Mountains, wo sie ihren ersten gemeinsamen Auftrag erledigt hatten. Sie dachte an das Luxus-Chalet zurück, in dem sie sich als Flitterwöchler ausgegeben hatten und sie sich ernsthaft in ihn verliebt hatte. So sehr, dass sie ihm sogar in die Toskana hinterhergereist war, um die vielleicht aufwühlendsten und emotionalsten Tage ihres Lebens zu verbringen. Leider war der kurzen, dafür aber äußerst intensiven Liaison kein Happy End vergönnt gewesen. Dafür aber hatte das Schicksal sie zu wirklich guten Freunden werden lassen.
Nun war es an Maren, süffisant zu grinsen. Freundschaft...