Kapitel 1
»Miss, darf ich Ihnen behilflich sein?«
Erschrocken zog Sophie ihre Hand zurück. An dessen Stelle schob sich ein sehniger Unterarm und griff nach dem Koffer.
»Aber der ist ja leer!«, stellte der zum Arm gehörende Mund verwundert fest. Es war ein hübscher Mund mit äußerst sinnlichen Lippen.
»Natürlich ist er leer«, erwiderte Sophie in einem perfekten Englisch, das ihren französischen Akzent zum Vorschein brachte. »Aber auf dem Rückflug wird er so voll sein, dass ich ihn nur noch mit Mühe werde schließen können.«
Der Mann neben ihr schenkte ihr ein offenherziges Lachen. »Verstehe, also zum Shoppen hier.«
»Oui, auch.«
Maren konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie hatte Sophie schon oft Englisch reden hören. Doch immer wieder entlockte ihr dieser französisch angehauchte Singsang ein Schmunzeln. Es hatte etwas beinahe Süß-Niedliches, das auf den ersten Blick so gar nicht zum energischen Auftreten ihrer besten Freundin passen wollte. Dennoch offenbarte es eine durchaus reizvolle Seite.
Von dieser schien sich auch der hilfsbereite Mann einlullen zu lassen. Während er den leeren Louis-Vuitton-Koffer vom Gepäckband hob und an Sophie aushändigte, schaute er ihr genau die eine Sekunde zu lange in die Augen, um ihr hoffnungslos zu verfallen.
Obwohl eine vierzehnstündige Reise hinter ihnen lag, wirkte Sophies Erscheinung frisch und unermüdlich.
Vielleicht, dachte Maren, sollte ich doch einmal die Wahl meiner Kosmetik-Produkte überdenken und auf Sophies Marke umsteigen.
Denn Maren fühlte sich alles andere als frisch und ausgeruht. Im Gegenteil: Sie war müde und gereizt. Die Enge des Sitzplatzes in der Überseemaschine hatte ihren langen Beinen schwer zu schaffen gemacht und der anschließende dreistündige Aufenthalt am Flughafen in Denver ihr schließlich den Rest gegeben. Sie wollte nur noch ins Hotel, ein heißes Bad nehmen und die Nachwehen des Jetlags halbwegs heil überstehen, bevor sie sich auf ihren nächsten Auftrag stürzen würde.
Sophie hingegen schien trotz der Strapazen in bester Flirtlaune zu sein. Sie konnte förmlich sehen, wie sie sich aufrichtete und ihren Körper anspannte, um ihre Vorzüge zur Geltung zu bringen. Und von denen gab es wahrlich einige. In einer grazilen Geste warf sie das rotgelockte Haar zurück und streckte die Schultern, um ihr Dekolleté in die perfekte Position zu bringen, das selbst in diesem Rollkragenbody verboten sündhaft wirkte.
Maren hingegen war nach der anstrengenden Reise in die USA nicht nach einem Gelegenheitsflirt.
Auch wenn die Jagdbeute gar nicht übel aussah. Anerkennend musterte sie die sich neben ihnen aus dem Nichts aufbauende Gestalt: groß und schlank mit breiten Schultern und einem ebenso breiten, einnehmenden Lächeln, das eine schneeweiße Zahnreihe preisgab. Passend zur Landschaft, auf die sie im Landeanflug blicken konnte. Der Mann schien ein gutes Stück jünger als sie selbst zu sein und war damit uninteressant für Maren. Sophie aber hatte ein Faible für junge Männer. Und dieses Exemplar schien ganz nach ihrem Geschmack. Er trug einen unifarbenen Zipperpulli und darauf einen Loop mit farblich passender Wollmütze. Das enge Oberteilt brachte seine sportliche Figur gut zur Geltung.
»Sind Sie denn auf Urlaub hier?« Er zog sich den Loop nach unten, um frei sprechen zu können. Maren entging nicht, dass er seine Frage ausschließlich an Sophie richtete. Sie selbst wurde bereits als störendes Objekt ausgeblendet, was ihr angesichts ihres Zustandes gar nicht unrecht war.
Der Mann sprach ein astreines Englisch, wie es nur ein Muttersprachler zustande brachte. Wie die meisten anderen Passagiere war er vermutlich in Denver zugestiegen.
»Nein«, erwiderte Sophie. »Wir sind beruflich hier. Und Sie?«
»Ja. Und nein. Eigentlich komme ich von hier, studiere aber in Denver Zahnmedizin.«
Innerlich lachte Maren auf. Damit wären dann auch die zu perfekten Zähne erklärt.
»Außerhalb des Studiums komme ich aber immer wieder zurück, zum Arbeiten.« Er nutzte die Atempause, um sich über die Mütze zu reiben. »Ich bin Skilehrer.«
»Ach?«, fragte Sophie angetan.
»Fahren Sie denn auch Ski?«
Sophie lachte übertrieben laut. »Sagen wir, ich schaffe es, mich auf den Beinen zu halten und den Idiotenhügel herunterzufahren, aber die Technik .«
»Nun, die könnte ich Ihnen beibringen.« Er lächelte verschmitzt. Und dann, als wäre es eine spontane Idee, fügte er hinzu: »Was halten Sie davon, wenn ich Sie einmal zu einer Schnupperstunde einlade?«
Maren konnte sich ein Aufstöhnen nicht verkneifen. Das hier war ein Dialog aus einem äußerst vorhersehbaren Flirtdrehbuch.
Wie auf Kommando griff der Fremde in seine Hosentasche und zückte eine Visitenkarte, die er beiden in die Hand drückte. »Rufen Sie mich doch einfach an, und wir vereinbaren was. Ich heiße übrigens Andrew.«
Maren ließ die Karte sofort in ihrer Gesäßtasche verschwinden.
»Schnupperstunde?« Sophies Gesicht erhellte sich. In ihrem Blick lag dieser gewisse Glanz, den Maren nur zu gut kannte. »Das klingt ganz nach meinem Geschmack.«
Maren biss sich auf die Zunge. Es war nicht so, dass sie ihrer Freundin einen Flirt missgönnte. Aber Sophie hatte es sich wirklich einfach gemacht und ihr während des gesamten Fluges die Vorbereitungen überlassen, damit sie in Ruhe ihr Schlafdefizit aufarbeiten konnte. So hatte es an Maren gelegen, sich mit den Einzelheiten ihres neuen Auftrages vertraut zu machen und sich durch das dicke Exposé zu wälzen, das ihnen Walter Stein, ihr Chefredakteur, aus unzähligen Computerausdrucken zusammengeschustert hatte.
Dabei war der Grund ihrer Reise durchaus reizvoll und erforderte beinahe so etwas wie detektivischen Spürsinn. Denn Walters Auftrag lautete, das Promigeheimnis des noch jungen Jahres zu lüften.
»Das musst du verstehen«, hatte Sophie während des Flugs erklärt, als Maren ihr die Schlafmaske vom Gesicht lupfte. »Hinter mir liegen die stressigen Weihnachtsfeiertage, da habe ich einiges an Schlaf aufzuholen.«
»Du hasst doch Weihnachten!«
»Stimmt schon, aber ich hab ein Faible für Weihnachtsmänner.«
Maren hatte keine Lust auf ausgiebige Streitgespräche gehabt und ihre Freundin schlafen lassen. Da sie in der Enge unmöglich ein Auge hätte zumachen können, hatte sie die Zeit genutzt, um ihre Hausaufgaben zu machen. Sie wusste nun alles über die junge bildhübsche Sängern Tricia Jones, die seit zwei Jahren an der Spitze der internationalen Pop-Charts stand und bereits als neue Madonna gehandelt wurde. Zum Beispiel, dass sie beinahe seit ebenso langer Zeit mit einem Medienmogul liiert war, der viele Jahre älter war als sie selbst. Das war an und für sich nichts Unübliches. Interessant wurde es allerdings mit der Affäre, die ihr angedichtet wurde. Und zwar mit niemand Geringerem als Stan Watson - Hollywoods heißestem Jungschauspieler, der bei der diesjährigen Award-Verleihung unter den Oscar-Nominierten gewesen war.
Sie konnte die Sängerin gut verstehen. Ihn hätte Maren ebenfalls nicht von der Bettkante geschubst - auch ohne Oscar.
Sie wartete geduldig darauf, bis sich Sophie von dem zuvorkommenden Skilehrer auf die französische Art - mit drei Wangenküsschen - verabschiedete und gut gelaunt auf ihren hohen Absatzstiefeln zu ihr herüber stakste.
Andrew winkte den beiden im Vorbeigehen zu und schien blendender Laune. »Willkommen in Aspen, Colorado, die Damen.«
Maren warf ihm eine halbherzige Hand zurück.
»Das fängt ja schon mal gut an«, lachte Sophie. »Einen besseren Start für unseren neuen Auftrag hätte ich mir gar nicht wünschen können.« Schwungvoll drehte sie sich zu Maren und musterte sie erwartungsvoll. »Und jetzt?«
»Jetzt suchen wir diesen Mark.«
Die Suche nach Mark Lombardi war schon fast ein eigener Auftrag zu nennen, denn er war der neue Starfotograf der BLITZ, und schon jetzt hielt ihr Chefredakteur große Stücke auf ihn. »Seid nett zu dem Neuen und vergrault ihn mir nicht schon bei seinem ersten Job«, hatte er Maren und Sophie eingeschärft, woraufhin die Damen erbost aus ihren Stühlen aufgesprungen waren.
»Denkt nur an John. Nicht zuletzt wegen euch arbeitet er nicht mehr für uns.«
Diese Aussage hatte vor allem Sophie nur noch übellauniger gemacht. Es stimmte, dass sie nicht die Finger von dem blonden Stammfotografen hatten lassen können, aber das tat der Qualität der gemeinsamen Aufträge nie einen Abbruch. Im Gegenteil. Die Zusammenarbeit mit John war stets auf absolut professioneller Basis erfolgt - in jeder Hinsicht. Und dass er sich letztendlich in die Praktikantin verliebt hatte, dafür konnten weder sie noch Maren etwas.
Maren zumindest hatte aus dieser Geschichte gelernt und sich geschworen, nie wieder eine persönliche Beziehung mit einem Arbeitskollegen einzugehen. Von Sophie natürlich abgesehen. Auch wenn sie sie bei ihrer jetzigen Reise nur zu gerne auf den Mond schießen würde, so war sie nicht nur ihre Kollegin, sie war auch ihre Mitbewohnerin und obendrein ihre beste Freundin.
Und als solche kämpften sie sich nun gemeinsam durch das überfüllte Terminal in Richtung Ausgang.
»Unglaublich«, schimpfte Sophie. »Man sollte meinen, dass die Leute nach Weihnachten genug von dem ganzen Schnee haben sollten.«
»Das Gegenteil ist der Fall«, erklärte Maren. »Gerade jetzt ist die Hochsaison in den Rocky Mountains.«
»Und wir beide mittendrin. Wunderbar!«
Maren konnte sich ebenfalls Angenehmeres vorstellen, als im tiefsten Winter in die verschneite Berge zu reisen. Sie fror schon jetzt. Dabei hatten...