Kapitel 1
Das Gesicht, das nur aus einem Mund zu bestehen schien, schob sich näher heran. Ganz dicht. Sie nahm nichts anderes mehr wahr, als diesen Mund mit seinen vollen, sinnlich geschwungenen Lippen. Erwartungsvoll öffnete auch sie die Lippen und empfing einen Kuss, der ihr Blut kochen, sie dahinschmelzen ließ. Eine sanfte Berührung, die ein gewaltiges Verlangen nach sich zog. Niemals zuvor war sie derart geküsst worden. Zärtlich und wild und unwiderstehlich.
»Ich bin restlos begeistert, Mädels!«, holte Walter Stein sie mit dröhnender Stimme aus dem Tagtraum in die Realität zurück.
Dabei war es nicht einmal eine Träumerei. Vielmehr eine sich jäh ins Zentrum schiebende Erinnerung an einen äußerst intensiven Traum aus der vergangen Nacht. Ein Traum, der sie mit pochendem Herzen und glühendem Verlangen hatte aufwachen lassen. Und der Kuss von diesem eigenartigen gesichtslosen Wesen hatte ihr gefallen.
Sehr sogar.
Was ihr hingegen ganz und gar nicht gefiel, war, an diesem Ort zu sein. Mit diesen Personen, die für sie zum Sinnbild von Verrat geworden waren.
Ihr Vorgesetzter lehnte sich lässig gegen seinen massiven Schreibtisch und ließ seine Daumen in den Taschen seiner mausgrauen Anzughose verschwinden. »Die Fotos, der Artikel, einsame Spitze!«, begeisterte er sich.
Marens Mine blieb unbewegt. Schweigend. Abwartend. Die Augen fest auf ihren Chefredakteur gerichtet, und auf nichts anderes - was weniger an seinem nicht vorhandenen guten Aussehen oder Charisma lag, sondern daran, dass neben ihr Sophie saß. Die Hochverräterin in Person.
Eigentlich hätte Maren zufrieden sein sollen. Sich vielleicht sogar freuen müssen. Denn es kam äußerst selten vor, dass sich Walter in derartigen Lobhudeleien erging. Doch diesmal hatte zumindest er einen wirklichen Grund dazu. »Ihr habt mir die Story des Jahres geliefert!«
Nun riskierte Maren doch einen kurzen Blick zur Seite und sah Sophie breit lächeln. Natürlich. Dieses Biest! Sie sah aber auch eine deutlich gerötete Nase. Geschah ihr recht!
Sie selbst fühlte sich ebenfalls müde und völlig ermattet. Der Auftrag im bitterkalten Aspen hatte sie gesundheitlich arg mitgenommen. Obendrein steckte ihr noch immer der Überseeflug in den Knochen.
Sie schloss die Augen und wünschte sich fort aus dem Büro. Ganz weit weg.
Die Atmosphäre erdrückte sie.
Sie wollte nicht hier sein und für etwas gelobt werden, das ihr vollkommen gegen den Strich ging. Sie wollte Schlaf und eine narkotisierende Tablette des Vergessens. Zu viele unheilvolle Erinnerungen lagen in ihrer jüngsten Vergangenheit.
Vor allem aber wollte sie Sophie nicht derart dicht neben sich sitzen wissen.
Sie hatte gehofft, dass der Büroalltag sie ablenken würde, doch dem war nicht so. Dies waren die Schattenseiten, wenn man sich mit seiner Mitbewohnerin nicht nur die Küche und das Bad teilte, sondern auch den Arbeitsplatz. Sie konnte es drehen und wenden wie sie wollte: Vor Sophie gab es kein Entkommen.
Und so wurde sie jedes Mal aufs Neue daran erinnert, dass sie für den wohl größten Erfolg in ihrem Berufsleben nicht weniger als ihre Seele verkauft hatte. Wenn auch völlig unfreiwillig, so trug sie eindeutig eine Mitschuld daran. Doch dieser Umstand linderte den Groll auf dieses neben ihr sitzende rothaarige, lobempfängliche und vor sich hinschniefende Miststück nicht im Mindesten.
Seit ihrer Rückkehr aus den Rocky Mountains vermied sie jegliche Kommunikation mit Sophie und hatte sie nicht mehr an sich herangelassen. Genau genommen hatte sie seitdem niemanden mehr an sich herangelassen. Zu viel war passiert. In ihrem Job, in ihrem Privatleben. Ihre Welt stand in Flammen.
»Die erste Auflage ist bereits komplett ausverkauft, und die zweite wird uns auch schon aus den Händen gerissen. Dazu haben wir den Absatz um zwanzig Prozent gesteigert. Die Fotos von diesem Lombardi . Belissima!«
Maren verkrampften sich die Eingeweide, als sie unvorbereitet mit heruntergelassener Deckung von diesem Namen getroffen wurde. Lombardi.
»Die Bilder sind fantastisch. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was wir nochmals zusätzlich für die Lizenzen einnehmen werden. Alle Welt wird unsere Fotos kaufen müssen, wenn sie über die Turteltäubchen berichten möchten.«
Maren sog scharf die Luft ein. Die sogenannten »Turteltäubchen«, das waren die Popsängerin Tricia Jones und Hollywood-Schauspieler Stan Watson. Den beiden wurde schon lange eine Affäre nachgesagt, aber bislang fehlte es an handfesten Beweisen. Bis jetzt. Denn genau diese Beweise hatten Maren, Sophie und Mark, der neue BLITZ-Fotograf, im winterlichen Aspen geliefert.
»Ich könnte euch umarmen!« Walter Stein deutete eine weltumspannende Geste an. »Also, wenn ihr nicht so lädiert wärt.« Angewidert ließ er die Arme wieder sinken.
Sophie antwortete ihm mit einem im Taschentuch versenkten Niesen.
Auch Marens Nase könnte ein Taschentuch gut vertragen, doch lieber würde sie an ihrem Rotz ersticken, als Sophie um eines zu bitten. Schniefend fragte daher: »War's das jetzt, können wir gehen?«
Walter Stein musterte sie gründlich. »Mit dieser roten Nase könntest du dich vor einem Rentierschlitten spannen lassen und Geschenkpäckchen verteilen.«
»Bin eben erkältet«, näselte Maren trotzig. Zerknirscht flüchtete sie sich mit einem Blick aus dem Fenster. Doch alles was sie sah, waren dunkle Wolken, die ihren Schneeregen in unbeirrter Schonungslosigkeit seit nunmehr drei Tagen auf Hamburg herabfallen ließen. Das nasskalte Wetter setzte nicht nur ihrem Körper zu, sondern auch ihrem arg angekratzten Gemüt.
Sophie schloss sich mit einem weiteren Nieser an. Diesmal schaffte sie es jedoch nicht, das Taschentuch rechtzeitig hervorzuziehen. Walter wich ein Stück auf seinem Sessel zurück.
»Meine Güte, Mädels.« Er verzog unwillig das Gesicht. »Ich wüsste ja zu gerne, was ihr dort im Schnee getrieben habt.« Abrupt schoss seine Hand nach oben. »Nein, lieber nicht! Ist ja auch völlig egal. Wichtig ist, dass das Ergebnis stimmt.« Ein breites Grinsen spaltete sein Gesicht. »Und bei Gott, das tut es!«
Maren fand, dass er es sein lassen sollte. Für sie gehörte dieser Mann zu der Sorte Menschen, denen das Lachen alles andere als vorteilhaft zu Gesicht stand.
»Und es soll euer Schaden nicht sein«, setzte er hinzu. »Selbstverständlich werdet ihr an dem Auflagenverkauf provisionsbeteiligt.« Sophie riss begeistert die Augen auf. Marens waren noch immer zu engen Schlitzen zusammengezogen. Es behagte ihr nicht, mit dieser Person so eng beieinander in einem Zimmer zu sitzen. Sie dulden zu müssen.
»Und wenn ich ehrlich bin, könntet ihr einen Urlaub vertragen. Außerordentlich, meine ich. Also quasi obendrauf. Zu eurem Jahresurlaub.«
»Ernsthaft?«, fuhr Sophie aus dem Sitz, und ihre Miene hellte sich auf.
Maren witterte eine Falle.
»Ernsthaft«, bestätigte Walter mit gönnerhaftem Blick. »Ihr habt es euch verdient. Also?«
»Auf jeden Fall«, sagte Sophie.
»Auf gar keinen Fall«, sagte Maren, weniger aus Überzeugung sondern einfach aus Protest, um nicht mit Sophie einer Meinung zu sein.
Ehe Walter ins Detail gehen konnte, klingelte das Telefon. »Die Verlagsleitung«, sagte er mit einem Blick auf das Display. »Vermutlich geht es um die Quartalsgratifikation.« Er rieb sich die Hände. »Also, raus mit euch und nehmt mein Angebot an. Die Einzelheiten könnt ihr mit Lori bequatschen.« Forschend sah er Maren an. »Dieser Lombardi hat übrigens keine Sekunde gezögert, als ich auf den Sonderurlaub zu sprechen kam.«
Maren schluckte hart. Mark Lombardi hatte also nicht hingeschmissen, wie er es in Aspen kurz vor seiner Abreise angedroht hatte.
Sie wollte gerade zu einer Frage ausholen, als Walter sie mit einer Handbewegung, die keinen Widerspruch duldete, aus dem Büro scheuchte. Ohne aufzusehen trottete Maren Sophie hinterher und schlug direkt danach aus Protest die andere Richtung ein. Diese führte sie direkt vor Loris Schreibtisch.
»Kindchen, du siehst fürchterlich aus.«
Maren bekam augenblicklich ein Kloß im Hals, als sie das gutmütige Gesicht der Chefsekretärin sah, in dem sie ernsthaftes Bedauern las. »Ach was«, winkte sie ab. »Geht schon wieder.«
Lori reichte ihr das dringend benötigte Taschentuch.
Nach einem ausgiebigen Schnäuzer bedankte sich Maren bei ihr.
»So etwas wie du gehört nach Hause ins Bett«, meinte Lori.
Maren schauderte es beim Gedanken, allein im Bett zu liegen und sich unfreiwillig der Berg- und Talbahn ausliefern zu müssen, die Runde um Runde in ihrem Kopf drehte. Ohne Ausstiegsmöglichkeit, und die nächste Fahrt rückwärts .
»Walter hatte eben erwähnt, dass Mark Lombardi ebenfalls schon hier gewesen ist?« Mit einem Räuspern versuchte sie beiläufig zu klingen, doch das gelang ihr irgendwie nicht.
Lori musterte sie argwöhnend. »Ja, vor ein paar Tagen.« Sie tackerte sich durch einen Papierstapel. »Ein interessanter Mann«, fügte sie hinzu und konnte sich ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen.
»Bei unserem letzten Gespräch«, druckste Maren herum, »schien er nicht mehr . ganz so sicher zu sein, ob die Arbeit bei der BLITZ tatsächlich etwas für ihn ist.«
»So?« Lori sah über den Rand der spitzen Brille zu ihr auf. »Diesen Eindruck hat er mir gar nicht gemacht. Zumindest ist er sichtbar gut gelaunt aus Steins Büro gekommen - was ja nicht unbedingt allzu häufig vorkommt.« Sie zwinkerte ihr verschwörerisch zu und startete einen weiteren ohrenbetäubenden Tackerangriff.
Maren nutzte die Pause, um noch einmal ins Taschentuch zu schnäuzen.
»Stein hat erwähnt, dass...