Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Wenn im Wald ein Feuer brennt und niemand sieht es .
In Kanada ist diese Vorstellung nicht nur eine philosophische. Zehn Prozent der weltweiten Wälder liegen in diesem Land, und ausgedehnte Bereiche davon sind unbewohnt. Aber »ausgedehnt« ist eine untaugliche Beschreibung, wenn es um Kanada, seine Wälder oder seine Brände geht. Will man die Größe dieses Landes begreifen, sollte man sich in Great Falls, Montana, in ein Auto setzen und auf der I-15 nach Sweetgrass an der kanadischen Grenze fahren. In Coutts, Alberta, angekommen, stelle man den Kilometerzähler zurück und fahre gen Norden. Nun richte man sich am besten auf mehrere Tage hinterm Steuer ein. Mit den Rocky Mountains unmittelbar zur Linken führt diese Route am westlichen Rand der Prärie entlang durch Lethbridge, Calgary und Red Deer - Weizen- und Rinderland. Hat man die nördliche Metropole Edmonton einmal hinter sich gelassen, ist man mehr oder weniger allein auf der Straße, umgeben von weiter und karger subarktischer Prärie - Feldern, die gefroren oder nahezu überschwemmt sind und kaum als Viehweiden taugen.
Auf der Hauptstraße, die inzwischen nicht mehr breiter ist als der Weg durch ein Wohngebiet, ziehen Weiler mit nur einem blinkenden Licht und einer Tankstelle vorbei, und erst fünfzig Meilen weiter taucht der nächste auf. Östlich und westlich verlaufen Schotterstraßen bis zum Fluchtpunkt, und von Menschenhand geschaffene Bauwerke wirken jetzt immer sonderbarer: Hier steht eine schulhausgroße ukrainische Kirche mit ihrer blechernen Zwiebelkuppel allein in einer windumtosten Einsamkeit, die so tief ist, dass sie an die russische Steppe erinnert. Dort stürzt eine Scheune asymmetrisch unter dem Gewicht von hundert schweren Jahren ein, die sie zur Hälfte in der geballten Faust des Winters verbracht hat, während die Menschen längst fort waren. Weiter geht es zu einem vier Hektar großen See, der so verblüffend blau ist, dass Reflexion, selbst die des Himmels von Alberta, als Erklärung nicht ausreicht. Irgendwo auf dem Weg überquert man eine unsichtbare Grenze, hinter der die Hirsche den Elchen, die Krähen den Raben und die Kojoten den Wölfen weichen. In North Star werden die weiten, offenen Flächen, für die Alberta berühmt ist, von niedrigen Mischwäldern und Moorlandschaften abgelöst, die stark an Sibirien erinnern. Legt man in einem einsamen Ort namens Indian Cabins schließlich eine Kaffeepause ein, ist bereits der nächste Tag angebrochen und man hat mittlerweile fast 1 000 Meilen zurückgelegt. Und noch immer befindet man sich in der Provinz Alberta.
Hier oben in der landumschlossenen Subarktis scheinen die Dinge überdimensionale Ausmaße anzunehmen: Seen können von der Größe her mit Binnenmeeren konkurrieren und die darin lebenden Forellen an die 50 Kilo wiegen; große Wildtiere, darunter die größte Bison-Art des Kontinents, sind zahlreicher vertreten als Menschen. Im Wood Buffalo National Park, dem zweitgrößten Nationalpark der Welt, stößt man auf den größten bekannten Biberdamm der Welt. Der 2007 mithilfe eines Satelliten entdeckte Damm ist mehr als doppelt so lang wie der Hoover-Damm und scheint noch zu wachsen. Im Jahr 2010 machte sich ein abenteuerlustiger Mann namens Rob Mark aus New Jersey auf, ihn zu besuchen. Er war angeblich der erste Mensch, dem dies gelang, aber es war ein schwieriges Unterfangen. »Das Laub ist so dicht«, berichtete Mark der CBC, »dass man nicht sehr weit sehen kann . und im Sumpfland, das folgt, fällt das Gehen unheimlich schwer. Schließlich steckt man total im Morast.« Das erklärt, warum sich in den wärmeren Monaten so wenige Fremde hierher verirren und warum der Winter die bevorzugte Jahreszeit für Überlandfahrten ist. »Die Moskitos«, ergänzte Mark, »sind die reine Pest.«[1]
Eine Ausnahme vom allgemeinen Gigantismus bilden die Bäume, die selten höher als zwanzig Meter oder älter als hundert Jahre sind. Diese Wälder, eine wechselnde Mischung aus Kiefern, Fichten, Espen, Pappeln und Birken, sind als boreale Wälder bekannt, und was ihnen an individueller Größe fehlen mag, machen sie durch ihre schiere Anzahl wieder wett. Der boreale Wald, der die nördliche Hemisphäre in einem zirkumpolaren Band umgibt, ist das größte terrestrische Ökosystem und umfasst fast ein Drittel der gesamten Waldfläche der Erde (mehr als fünfzehn Millionen Quadratkilometer - eine Fläche, die größer ist als alle fünfzig US-Bundesstaaten zusammen).[2] Ein volles Drittel Kanadas ist von borealen Wäldern bedeckt, dazu zählt die Hälfte Albertas. Weiter westlich, über die Rocky Mountains, durch British Columbia, den Yukon, Alaska und über die Beringstraße nach Russland (wo er als Taiga bekannt ist), erstreckt sich der boreale Wald bis nach Skandinavien. Unbeeindruckt vom Atlantischen Ozean, erobert er Teile Islands, bevor er in Neufundland erneut Fuß fasst und sich westwärts fortsetzt, um den Kreis zu vollenden: ein grüner Kranz, der den Globus krönt.
So dicht die borealen Wälder vom Straßenrand aus auch erscheinen mögen, in ihrem Inneren erstrecken sich Feuchtgebiete mit mehr Süßwasserquellen als in jedem anderen Biom. In diesem Sinne ähnelt der boreale Wald einer Art hemisphärischem Schwamm, der von Bäumen bedeckt ist, deren Milliarden Kilometer lange Wurzeln die Kontinente in einem unterirdischen Gewebe aus Kett- und Schussfäden miteinander verbinden. Wenngleich nicht so eindeutig als Gewässer erkennbar wie Floridas Everglades, erfüllen die zahllosen Seen, Teiche, Moore, Flüsse und Bäche der borealen Zone doch eine ähnliche Funktion: Sie sammeln, speichern, filtern und spülen frisches Wasser. Milliarden von Vögeln, die Hunderte von Arten repräsentieren, leben in diesem Ökosystem und durchwandern es.
Ein Grund, warum die Bäume nie sehr groß oder sehr alt werden, liegt darin, dass sie trotz des vielen Wassers regelmäßig abbrennen. Dazu sind sie bestimmt. So gesehen ist die boreale Waldlandschaft ein Phönix unter den Ökosystemen: Sie wird buchstäblich im Feuer wiedergeboren und muss verbrennen, um sich zu regenerieren. Das tut sie auf zufällige, patchworkähnliche Art alle fünfzig bis hundert Jahre. Dieser kolossale Lebensraum speichert ebenso viel, wenn nicht sogar mehr Kohlenstoff als alle tropischen Wälder zusammen, und wenn er brennt, explodiert er wie eine Kohlenstoffbombe. Das nordamerikanische Epizentrum dieser stratosphärischen Explosionen liegt in Nord-Alberta. Aus diesem Grund steht jede Stadt hier oben, ob groß oder klein, vor demselben Dilemma: Wo die Häuser aufhören, beginnt der Wald. Dort gibt es Bären, Wölfe, Elche und sogar Bisons, aber das Gefährlichste, das in diesen Wäldern lauert, ist Feuer. Unter den richtigen Bedingungen kann ein großes boreales Feuer wüten wie ein Weltuntergang, brüllend und unaufhaltsam. Diese Brände können Tausende von Quadratkilometern Wald samt allem, was sich darin befindet, in Flammen aufgehen lassen und sind nicht zu kontrollieren.
Der Chinchaga-Brand von 1950, das größte jemals in Nordamerika verzeichnete Feuer, trieb sein Unwesen fast im Verborgenen und wurde nur von einer Handvoll Menschen wahrgenommen. Er brach im Juni desselben Jahres an der Grenze zwischen British Columbia und Alberta aus und fraß sich mehr als vier Monate lang in östlicher Richtung durch Nord-Alberta. Dabei wurden etwa 1,6 Millionen Hektar (16 000 Quadratkilometer) Wald in Mitleidenschaft gezogen. (Diese Fläche ist etwa halb so groß wie Belgien.) Das Feuer erzeugte eine Rauchwolke, die so riesig war, dass sie an ein Sargtuch erinnerte und als »The Great Smoke Pall of 1950« bekannt wurde.[3] Sie stieg bis zu vierzigtausend Fuß in die Atmosphäre auf.[4] Ihr kolossaler Kernschatten senkte die Durchschnittstemperaturen um mehrere Grad und veranlasste Vögel, sich mittags zum Schlafen niederzulassen. Auf ihrem Weg um die nördliche Hemisphäre verursachte sie seltsame visuelle Effekte - so gab es zum Beispiel unzählige Berichte über lavendelfarbene Sonnen und blaue Monde.[5] Vor dem Chinchaga-Brand war über Effekte in diesem Ausmaß zuletzt nach dem Ausbruch des Krakatoa im Jahr 1883 berichtet worden.[6] Carl Sagan zeigte sich von den Auswirkungen des Chinchaga-Brands so beeindruckt, dass er fragte, ob sie denen eines nuklearen Winters ähneln könnten.[7]
? ? ?
Die National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) gibt in Zusammenarbeit mit Brandforschern aus Kanada und Mexiko jedes Jahr ein Dokument mit dem Titel North American Seasonal Fire Assessment and Outlook heraus, in dem sie die Wahrscheinlichkeit von Wildfeuern auf dem gesamten Kontinent vorherzusagen versucht. Dieser Outlook enthält für jeden Monat der Brandsaison Karten, die farblich gekennzeichnet sind, wobei Rot die Wahrscheinlichkeit einer erhöhten Feueraktivität und Grün die eines Rückgangs anzeigt.[8] Wie schon 2015 zeigten die Monatsdarstellungen für 2016 viel mehr Rot als Grün, und die Karte für Mai zeigte mehr Rot als alle anderen: Zusätzlich zu großen Teilen Mexikos, des Mittleren Westens der USA und ganz Hawaii bedeckte Rot einen Großteil des südlichen Kanadas - von den Großen Seen bis zu den Rocky Mountains. Es handelte sich um ein riesiges Gebiet, das den größten Teil der aktiven Erdölfelder in Alberta umfasste. In der Mitte dieser heißen Zone, umgeben von Wald, lag Fort McMurray.
Fort McMurray ist in Nordamerika eine Anomalie. Knapp eintausend Kilometer nördlich der US-Grenze und eintausend Kilometer südlich...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.