Schweitzer Fachinformationen
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Louise hat ihr ganzes Leben nach der Liebe gesucht. Jetzt ist sie neunzig Jahre alt, und sie weiß, dass ihre Tage gezählt sind. Sie bereitet sich aufs Sterben vor. Eines Tages erhält sie jedoch ein Paket von einem unbekannten Absender: Darin liegen ihre alten Tagebücher. Louise erlebt durch diese Bücher erneut ihr Leben mit allen Höhen - und den zahlreichen Tiefen. Und sie stellt sich zwei Fragen: Wer hat ihr diese Bücher geschickt, und ist ihre Suche nach der Liebe wirklich beendet?
Ich war nicht immer so. Es gab eine Zeit, in der ich keine Neigung zum Verschwinden hatte. Meine Jahre mit dem Jungen - oder besser gesagt: der Junge selbst - hielten mich vom Verschwinden ab.
Die Verantwortung für ein Kind setzt in einer Frau besondere Kräfte frei. Es gibt ein Leben, bevor man ein Kind zur Welt gebracht hat - und ein Leben danach. Das Leben davor besteht vornehmlich aus dem Erfüllen der eigenen Sehnsüchte. Hin und wieder findet man auch die Zeit, die Sehnsüchte anderer zu erfüllen, Sehnsüchte, die einen erschaudern lassen, Sehnsüchte, mit denen man sein Geld verdient, und Sehnsüchte, die man unendlich genießt, weil die Erfüllung der eigenen Sehnsüchte manchmal mit der der Sehnsüchte anderer zusammenfällt. Aber solche Augenblicke sind selten, und letzten Endes bleibt die Erfüllung der eigenen Sehnsüchte bei Weitem die wichtigste Motivation in einem Leben. Manche Menschen geben ihres jedoch völlig auf und stellen sich ganz und gar in den Dienst der anderen: der Obdachlosen, chronisch Kranken, hungrigen Kinder in armen Ländern, Sektenführer oder Wale. Zu dieser Sorte Mensch gehörte ich nicht. Mein Leben stand gänzlich im Zeichen meiner selbst und dem Erlangen von allem, was mein Herz begehrte. Und ich begehrte viel, ich war außergewöhnlich gierig, wenn es darum ging, mein Herz zufriedenzustellen. Mit derselben Inbrunst wie eine Nonne, die unaufhörlich ihre Gebete aufsagt und sich vor einem Kreuz die Knie wundscheuert, erfüllte ich die Sehnsüchte meines Herzens.
Die Ankunft des Jungen löste allerdings eine große Umkehr aus. Schon, als er noch in meinem Bauch war, hörte ich ihn rufen und spürte, wie meine Sehnsüchte, die mir so viel bedeuteten, sich langsam, aber sicher in nichts auflösten. Als die Geburt näherrückte, waren alle Sehnsüchte verschwunden, und ich wusste, dass sich mein Leben nur noch um eine einzige Person drehte: um den Jungen, meinen Jungen.
Eigentlich war ich zu alt, um noch ein Kind zur Welt zu bringen. Nachdem mich unser Hausarzt auf seinem Behandlungstisch untersucht hatte, hatte er gesagt: »Die Wechseljahre. In Ihrem Alter hört die Menstruation auf, und Sie können keine Kinder mehr bekommen.«
Erleichtert war ich nach Hause gegangen, um mich wieder ungebremst in die Erfüllung meiner Wünsche zu stürzen. Die wucherten noch immer in mir und forderten meine ganze Aufmerksamkeit. Aber drei Tage später, während ich meine Sehnsüchte durch einen Theaterbesuch erfüllte, spürte ich plötzlich eine merkwürdige Bewegung in meinem Unterleib. Die Vorstellung hatte gerade angefangen, und ich traute mich nicht, aufzustehen und mich mit rotem Kopf bis zum Ende der Reihe durchzuzwängen. Nach ein paar Minuten, in denen ich noch zweimal dieselbe Bewegung spürte, stand ich dann doch auf und bahnte mir hastig einen Weg zum Mittelgang. Die bösen Blicke der Zuschauer, die für mich Platz machen mussten, ignorierte ich, und den Scherz des Künstlers auf der Bühne über meinen plötzlichen Aufbruch nahm ich gar nicht richtig wahr.
Auf der Toilette hielt ich meine Hände lange unter kaltes Wasser. Mir war sehr warm geworden, und auf diese Weise hoffte ich, etwas Abkühlung zu finden. Währenddessen schaute ich in den Spiegel über dem Waschbecken. Mir blickte mein Gesicht entgegen, das Gesicht, das ich immer länger betrachtete, weil ich älter wurde und dementsprechend mehr Zeit brauchte, um mich zurechtzumachen. Aber diesmal wirkte es anders. Meine Augen, meine Wangen, mein Blick strahlten etwas aus, das ich sofort wiedererkannte und das mich mit Angst und Freude erfüllte. Der Arzt hatte sich geirrt - ich war nicht in den Wechseljahren, ich war schwanger.
Am selben Abend rief ich meinen Mann an. Er war viel unterwegs und übernachtete in billigen Hotels. Auf einem Zettel neben dem Telefon lag eine Liste mit den Telefonnummern. Die zweite war die richtige. Eine flämische Dame stellte mich durch, und nach viel Rauschen und Knacken hörte ich die Stimme meines Mannes. »Ist etwas passiert? Was ist denn los?«
»Ich bin schwanger«, sagte ich.
Mein Mann sagte nichts. Ich hörte, wie er Luft holte, wie ein Bett knarrte.
»Hast du mich gehört? Ich bin schwanger, wir bekommen ein Kind.«
Wieder Schweigen, dann sagte er: »Ich setze jetzt meine Brille auf. Ohne Brille kann ich mich nicht orientieren.« Er tat es und richtete sich im Bett auf. Es war Viertel vor zehn, am nächsten Morgen musste er wieder früh aufstehen. »Bist du schon beim Arzt gewesen?«
»Ja, am Montag. Er sagte, ich sei in den Wechseljahren, aber heute habe ich gespürt, wie sich in mir ein Kind bewegt hat. Schon sechsmal, dreimal im Theater, zweimal im Taxi und einmal zu Hause.«
»Du warst im Theater?«
»Bei Wim Sonneveld. Er hat sogar einen Witz gemacht, als ich aufgestanden bin und mich zwischen den Leuten zum Ausgang durchgezwängt habe.«
»Du kannst nicht immer und ewig ins Theater und ins Kino rennen, Louise. Irgendwann muss Schluss damit sein.«
»Ab heute ist Schluss damit.«
»Ab heute?«
»Ich bekomme ein Kind, darauf muss ich mich vorbereiten.«
»Du hast dich doch in deinem ganzen Leben noch nie auf etwas vorbereitet.«
»Freust du dich denn gar nicht?«
»Wenn du ins Theater oder ins Kino willst - darauf bereitest du dich immer vor. Und auf das Kaufen von Kleidung und Schuhen bereitest du dich vor, sogar sehr gründlich.«
Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Mein Körper machte sich schon für die Ankunft des Kindes bereit, ich hatte keine Zeit zu verlieren. »Warum freust du dich denn nicht? Du wirst Vater.«
»Ich bin schon Vater, ich habe zwei erwachsene Töchter und zwei Enkelkinder.«
Die Tränen liefen mir über die Wangen. Mit einem Taschentuch trocknete ich mir die Augen. »Aber ich nicht«, erklärte ich. »Ich habe keine Kinder.«
Mein Mann seufzte. Er schlug die Decken zurück und stellte mit einem Rumms die Füße auf den Boden. »Ich will, dass du morgen zum Arzt gehst.«
»Das hatte ich sowieso vor.«
»Ich will, dass er dich gründlich untersucht.«
»Darauf werde ich bestehen.«
»Wir müssen ganz sicher wissen, dass du schwanger bist.«
»Wirst du dich dann freuen - wenn ich es bin?«
»Ja, dann werde ich mich freuen. Dann kaufe ich eine Flasche Jenever und eine Schachtel Zigarren. Die Flasche trinke ich höchstpersönlich aus, und die Zigarren verteile ich unter den Nachbarn und allen Ladenbesitzern in der Straße. Alle Welt soll wissen, dass ich ein Kind bekomme, ein Mann von fünfundfünfzig Jahren mit einem Haarteil und einem Kind.«
Die Schwangerschaft verlief beschwerlich. Ich war zu mager, sagte der Arzt, mein Körper nicht in der Lage, ein Kind zu versorgen. Im fünften Monat wurde ich stationär aufgenommen. Ich war völlig erschöpft. Mein Magen konnte kein Essen mehr bei sich behalten, die Kraft war mir aus dem Körper geflossen, und in meinem Bauch verhungerte das Kind.
Mit löffelweise verabreichtem Brei und einer Infusion hielten sie mich am Leben. Ich wurde langsam ein bisschen kräftiger, wenn davon überhaupt die Rede sein kann.
Die Frau im Bett neben mir, die sich in der letzten Woche ihrer Schwangerschaft befand und jeden Moment ihr Kind bekommen konnte, gab mir ein Stückchen Schokolade. »Sie brauchen Hilfe«, sagte sie, »Hilfe von unten und Hilfe von oben. Ich werde für Sie beten.«
Ich dankte ihr. Die Schokolade schmeckte gut, und ein bisschen Unterstützung von oben konnte nicht schaden.
Nach acht Monaten setzten die Wehen ein. Mein Körper stieß das Kind ab. Ich musste es loswerden, sonst würden wir es beide nicht überleben.
»Können Sie pressen?«, fragte der Arzt.
»Rufen Sie meinen Mann an«, verlangte ich. »Jemand soll meinen Mann anrufen.«
Eine Schwester legte mir einen kalten Waschlappen auf die Stirn. »Sie müssen pressen«, sagte sie. »Wenn eine Wehe kommt, müssen Sie pressen.«
Das tat ich, zwölf Stunden lang. Mein Mann war inzwischen eingetroffen und saß auf einem Stuhl vor der Glasscheibe. Er trug seinen besten Anzug. Mein Mann besaß viele teure Anzüge, aber zu diesem Anlass hatte er seinen allerbesten angezogen. »In diesem Anzug habe ich geheiratet«, sagte er zwischen zwei Wehen. »Für mein Kind ist mir nur das Beste gut genug.«
Niemand hörte ihm zu. Ich wurde beinahe ohnmächtig, eine neue Schwester schlug mir auf die Wangen, der Arzt holte eine Zange herbei, und ein wenig später kam das Kind zur Welt.
»Ein Junge«, rief eine andere Schwester, »es ist ein Junge.«
Mein Mann war aufgestanden. Ich sah, wie er näher kam. Es war früh am Morgen. Er weinte. Während meiner Schwangerschaft hatte er ständig wiederholt, er hätte gern einen Sohn, dass er schon immer gern einen Sohn wollte. Diesen Sohn hatte er jetzt bekommen, und zum ersten Mal sah ich meinen Mann weinen.
»Sehr blass ist er«, flüsterte er mir ins Ohr, »aber er ist da, unser Junge.«
Wenn ich einen Wunsch freihätte, wenn ein gnädiger Engel aus dem Himmel herabsteigen würde, um mir einen Wunsch zu erfüllen, dann würde ich ihn darum bitten, die Uhr um vierzig Jahre zurückzudrehen, damit unser Junge ein wenig länger etwas von seinem Vater gehabt hätte.
Aber Engel habe ich hier noch nie gesehen, und Wünsche werden nur in Märchen erfüllt. Etwas mehr als ein Jahr nach der Geburt unseres Jungen wurde mein Mann krank, und anderthalb Jahre später starb er in demselben Krankenhaus, in dem er einmal in seinem besten Anzug geweint hatte.
Beim Begräbnis schneite es. Es war Februar. Ich trug...
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