Schweitzer Fachinformationen
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PROLOG
Schlaf des Vergessens
3. August 2003. Graue Sperlinge durchschnitten den trüben Himmel in Richtung Mendocino, und der Spätnachmittagsnebel flatterte und bebte, als er übers Meer zur Steilküste wehte. Das schwindende Dämmerlicht verstreute seine letzten zarten Blütenblätter über den Larkspur Drive, während die jahrhundertealten Zypressen das Ende des Tages beweinten. Die Straße glänzte feucht vom Augustdunst und die weiß getünchten Mauern des Mendocino Coast Hospital leuchteten hell vor dem dunkel werdenden Himmel am Ende des Larkspur Drive.
Alfonso Madrigál lief durch die Schiebetür des Krankenhauses, steuerte den Empfang an und fragte nach Savannahs Zimmernummer. Dann begann er seinen einsamen Marsch durch die langen, freudlosen Korridore zu Zimmer 739 und malte sich aus, wie sie dort reglos und still unter sterilen weißen Laken lag.
Er klopfte an die Tür und eine blonde Frau Mitte zwanzig machte ihm auf.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.
»Ich heiße Alfonso Madrigál. Ich möchte Savannah Curtis besuchen.« Seine Stimme wurde sanft, fast zittrig, als er ihren Namen aussprach.
Die Frau öffnete die Tür weiter, um ihn einzulassen. »Ich bin Cassidy Hamilton, eine Freundin der Familie. Savannah schläft im Moment, aber, bitte, kommen Sie herein.«
Alfonso ging langsam auf das Bett zu; er spürte das Gewicht seiner Füße, als er die letzten Schritte seiner Reise zu Savannah Curtis hinter sich brachte, eine Reise, die ihn sechsundzwanzig Jahre seines Lebens gekostet hatte und die so weit gewesen war, dass man sie nicht in Meilen messen konnte.
Er wagte sich näher an die Schlafende heran. Erinnerungen an eine Jahreszeit mit zärtlichen Tagen übermannten ihn, an denen dumpfe Nebelhörner ertönten und die Klage einer spanischen Gitarre den Mendocino-Wind berührte. Er machte noch ein paar Schritte, vernahm die in der Ferne seufzende Brandung des Pazifik und lauschte dem Wasser, das immer volltönender wurde und zu einer Art Delirium anschwoll. Er betrachtete sie und wusste, dass sein Herz in der verzehrenden Hektik seines Lebens jede Nacht zu ihrem Gesicht zurückgekehrt war.
Er stand am Bett; die Worte, die er vor Jahren für sie geschrieben hatte, fielen ihm wieder ein.
Wie die Melodie des frischen Regens
und der Schwalbenschwingen
bist du.
Wie ein junger Farn,
der seine Blätter für tausend Morgen ausbreitet,
bin ich
Suche den Weg
zu der Lichtung im Wald
und finde den heiteren, stillen Schutz
in dir.
Was immer er getan hatte, um den Weg zurück zu Savannah zu finden, stellte seine gesamte Lebensleistung in den Schatten. Beim täglichen Blick in den Spiegel sah er einen Mann, der sich durch und durch gewandelt hatte, nur weil er sie gekannt hatte und von ihr geliebt worden war. Selbst an den Tagen, an denen die Qual, nicht bei ihr zu sein, so groß war, dass ihm der Tod verführerisch erschien, besänftigte der Gedanke an sie sein Herz. Die Hoffnung, Savannah wiederzusehen, war das, was ihm durch die Jahre half, der einzige Grund, Leid und Opfer zu erdulden. Jetzt schmeckte die Erfüllung seiner Sehnsucht süß und streichelte seine Seele.
Alfonso fasste nach der Hand der schlafenden Savannah und hielt sie fest. Die Dankbarkeit, ihr so nahe zu sein, zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Es gab so vieles, was er ihr erzählen musste, Dinge, die er ihr nie gesagt hatte, weil er nicht bereit dazu gewesen war - bis heute. Dass er ihr Gesicht unaufhörlich in dem riesigen, wogenden Meer aus Menschen in den Konzertstadien, Flamenco-Bars, tablaos und peñas gesucht hatte. Dass er jedes Mal, wenn er geglaubt hatte, ihre Eleganz, Anmut und Schönheit in jemandem entdeckt zu haben, enttäuscht wurde, weil er sich nur einem armseligen Abklatsch von ihr gegenübersah.
Cassidy Hamilton beobachtete ihn aus den Augenwinkeln; direkt ansehen wollte sie ihn nicht. Alfonso Madrigál. Der Mann, von dem Savannah gesprochen, über den sie in ihrem Tagebuch seitenlang geschrieben hatte. Er war leibhaftig hier, dieser Spanier aus Andalusien: sandfarbener Anzug, eins achtzig groß, bronzefarbene Haut, zurückgekämmtes, dunkles Haar mit grauen Strähnen und Locken im Nacken. Doch sein gepflegtes Äußeres und das gesetzte Auftreten konnten nicht die Wildheit verbergen, die hinter dieser Fassade schlummerte. Das flüssige Feuer in seinen Augen verriet ein hitziges Temperament, das seiner gediegenen Erscheinung widersprach. Cassidy schätzte ihn auf Anfang fünfzig, sein schlanker, muskulöser Körper unter dem schwarzen Hemd mit dem offenen Kragenknopf schien jedoch einem viel jüngeren Mann zu gehören.
Noch immer betrachtete er die schlafende Savannah. In der rechten Hand hielt er eine große Mappe mit verstärkten Ecken und einem elastischen Band als Verschluss. Das braune Leinen war ausgebeult, als enthielte die Mappe seltsam geformte Objekte, die nicht in eine so schmale Tasche gehörten. Während Cassidy beobachtete, wie er sich die Mappe auf den Schoß legte und daran herumfingerte, empfand sie eine eigenartige Vertrautheit mit dem Mann, dem sie bis zu diesem Tag noch nie begegnet war.
Sie wusste von ihm nur das, was Savannah ihr einmal erzählt und was sie in dem Tagebuch gelesen hatte, kannte die Songs, die er geschrieben, und die, zu denen er die Inspiration geliefert hatte. Dennoch hatte Cassidy das Gefühl, Alfonso Madrigál besser zu kennen als ihr eigen Fleisch und Blut.
Sie erschrak, als sich Alfonso unvermittelt zu ihr drehte und sagte: »Klären Sie mich bitte auf - wie geht es ihr?«
»Na ja, Sie wissen wahrscheinlich schon, dass sie vor einigen Tagen einen Autounfall hatte; sie hat schwere Kopfverletzungen davongetragen und lag ein paar Tage im Koma. Gestern ist sie Gott sei Dank wieder zu sich gekommen, aber seither schläft sie die meiste Zeit. Oh, und die Aufnahmen des Computertomographen zeigen keinerlei Hinweise auf Hirnblutungen. Ihr Arzt meint, dass ihr Zustand verhältnismäßig stabil sei.« Cassidy zauderte einen Moment, bevor sie sich dazu durchringen konnte, ihm die schreckliche Nachricht zu übermitteln. »Allerdings sollte ich Sie vorwarnen. Sie wird Sie nicht erkennen, wenn sie aufwacht.«
»¿Perdóneme? Entschuldigen Sie, ich glaube, ich hab Sie nicht richtig verstanden.« Sein alarmierter Unterton entging ihr nicht.
»Savannah leidet unter Amnesie.«
Bleierne Stille senkte sich über das Krankenzimmer, kaum dass die Worte ausgesprochen waren. Cassidy sah, wie ein Funken in Alfonsos Augen aufloderte und wieder erlosch, an seine Stelle trat ein düsterer Schimmer.
Cassidy fuhr fort: »Ihr Langzeitgedächtnis ist gestört und sie kann sich an ihr Leben vor dem Unfall kaum noch entsinnen. Genau genommen weiß sie nicht einmal mehr etwas von dem Unfall. Sie erinnert sich noch an ihren Namen, aber sonst an sehr wenig. Durch das Trauma hat sich auch ih.«, sie stockte einen Moment, ». ihre Persönlichkeit verändert. Seien Sie also nicht überrascht, wenn sie ganz anders ist als die Savannah, die Sie kennen.«
Nach einem scheinbar ewig langen Schweigen ergriff Alfonso das Wort. »Rechnet man damit, dass sie ihr Gedächtnis wiedererlangt?«
»Der Arzt sagt, dass man das derzeit noch nicht mit Sicherheit bestimmen kann. Vielleicht kommen die Erinnerungen in einem Monat wieder. Vielleicht in ein paar Jahren. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass die Amnesie dauerhaft ist.«
Draußen rollte eine dichte Nebelwand vom Meer herein, die nur noch fahles Sonnenlicht durchdrang. Alfonso schaute zum Fenster. Seine Schultern sackten nach unten, als er die Ellbogen auf die Schenkel stützte, den Kopf leicht senkte und den Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger rieb. Er gab kein Wort von sich.
Cassidys Herz litt mit ihm, und sie versuchte sich vorzustellen, was ihm in diesem Augenblick durch den Kopf gehen mochte. Die tiefen Empfindungen, die ihn bewegten, konnte sie nur erahnen - Regungen, die nur eine andalusische Seele fühlen konnte. Sie musterte ihn über Savannahs Bett hinweg und glaubte, ein verzweifeltes Wimmern zu hören, aber seine Lippen schienen sich nicht zu bewegen. Es war, als ginge ein großer Schmerz von ihm aus - ein Schmerz, der Cassidy an eine Zeile aus einem Text von Federico García Lorca erinnerte, den Savannah oft zitiert hatte:
Man weiß nur, dass der Dämon das Blut peinigt wie ein Scherbenhaufen.
Sie dachte an die vielen Dinge, die Alfonso noch nicht über Savannah wusste. Cassidy kannte den wahren Grund für Savannahs Trennung von Alfonso; sie wusste, warum sich Savannah entschieden hatte, irgendwo zu leben, wo er sie nicht finden konnte, wusste, welche Umstände zu dem Autounfall geführt hatten und warum alles, was Savannah tat, irgendwie mit Alfonso zusammenhing, auch wenn er keine Ahnung davon hatte. Sie fragte sich, was Alfonso tun würde, wenn er von den schmerzhaften Geheimnissen erfuhr, die Savannah ihm all die Jahre...
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