Schweitzer Fachinformationen
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1976, Herbst. Abreise. Nach dem Herbst des Lebens die letzte Reise antreten. Still und heiter. Zeit, Ort und Gegend kauern im Unsichtbaren. Und wenn sie auftauchen, dann nur verschwommen, und sie verlieren sich wieder in der Unendlichkeit. Hier und dort werden eins. Heute und gestern. Nah und fern.
Eine Reise, eine wohltuende und endlose, ohne Eile, ohne Hindernisse, Müdigkeit und Schweiß. Eine Reise frei von Neid, Eifersucht, Feindschaft, bitterer Not und Krieg. Der Wunsch einer schönen Seele. Eine sehnsüchtig erwartete Reise.
Memduh Selîm.
Der ehrwürdige Memduh Selîm aus Wan geht fort. Er liegt ausgestreckt auf seinem Bett. Die Augen weit, ein Lächeln liegt auf seinem Gesicht. Dabei bleibt er taub und stumm. Seine großen Augen sind weit geöffnet, sie sehen aus wie zwei riesige Perlen. Die schwarzen Pupillen starren in die Leere über ihm. Wie im Traum. Die Falten der Jahre verraten keinerlei Zeichen der Unruhe. Die Haare weiß und zur Hälfte ausgefallen. Die Gesichtshaut spannt sich über den Knochen. Dünne Lippen. Der Hals wieder faltig.
Ein alter Mann.
»Memduh, Memduh .«
Er hört nichts, denn er ist bereits unterwegs, er geht seinen Weg.
Seine Frau Wîldan Xanim und ein paar junge Männer stehen um ihn herum. An seinem Ohr das Flüstern einer alten Frau, die aus dem Koran liest.
An allen vier Wänden stehen Bücherregale, die sich biegen unter dem Gewicht all der Bücher, Zeitschriften, Zeitungen und Papiere. Über den Regalen ein paar vergilbte Bilder: zwei Fotos und zwei Gemälde.
Und in der Mitte des Raumes er selbst: Memduh Selîm.
Tief in die Falten seines Traums versunken geht er fort. Doch in Wirklichkeit liegt er ausgestreckt auf dem Bett und geht nirgendwohin. Dinge, Orte, Erinnerung an Augenblicke bewegen sich auf ihn zu, überschwemmen ihn, umringt von ihnen geht er dennoch fort. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen: Ebene, Berg, Sommerweide, Tal und Wald werden eins, Meer und Himmel berühren sich, Menschen, Tiere verwandeln sich, gehen ineinander über. Das Ungewöhnliche aber, es gibt keine Furcht mehr, weder Kälte noch Wärme. Er sorgt sich nicht, denkt an nichts. Er atmet frei, aber kein Laut kommt mehr aus seinem Mund.
Ihm bleibt nur, seinen Weg zu gehen.
Ein wunderbarer Ort, voller Farben. Vielleicht ist es ein schattiger Wald oder gar eine kühle Sommerweide. Dort ist Memduh Selîm im Augenblick. Inmitten eines Schwarmes von Tauben schaut er aus der Höhe hinab auf die Erde. Neben ihm fliegen zwei Tauben, wollen in seiner Nähe bleiben. Ihre Farben, Flügel, Schnäbel und Augen kann er ganz deutlich erkennen. Ihre Augen gleichen klaren und schönen Wassertropfen. Lautlos gleiten sie dahin. Memduh Selîm betrachtet die Taube zu seiner Rechten und die zu seiner Linken. Die anderen Tauben - unterschiedlich in Farbe und Größe - fliegen in Scharen neben ihm. Memduh Selîm fliegt und fliegt auch wieder nicht, mal ist er oben und dann wieder unten, er geht und bleibt doch an seinem Platz.
Welch eine Stille! Alles ist in Stille getaucht. Über allem liegt ein Schleier unendlicher Ruhe.
»Schau, Memduh, unser lieber Gurgîn ist gekommen.«
Wîldan Xanim flüstert ihm ganz leise ins Ohr, nimmt seine rechte Hand zwischen ihre Hände und streichelt sie.
Die Stimme erreicht ihn nicht. Die Stille ist wie ein undurchdringlicher Schleier und verhindert, dass ein Laut ankommt. Memduh Selîm ist zwar mitten unter ihnen, er ist da und doch abwesend. Er ist auf dieser Welt und ist es nicht.
In Paaren treten die jungen Männer zu ihm heran und setzen sich an das Kopfende. Wîldan Xanim in ihren schwarzen Kleidern weicht nicht von seiner Seite. Sie hoffen, Memduh Selîm möge von seiner Reise lassen, um bei ihnen zu bleiben.
»Onkel Memduh, mein Vater und die Verwandten meiner Mutter und alle Kurden aus Qamislo grüßen dich und wünschen, dass Gott dir Gesundheit schenken möge.«
Jetzt erkennt Memduh Selîm auf seiner Reise von Weitem eine Stadt. Dann wieder erscheint sie ihm nahe. Er betritt die Stadt aber nicht. Sie ist von Mauern und einigen hohen Türmen umgeben. Sie sind gewaltig, aus großen schwarzen Steinquadern. An einigen Stellen sind sie verfallen. Löcher und Risse haben sich in dem Mauerwerk aufgetan. Hinter den Mauern und Türmen sind die Dächer der Stadt zu sehen. Einige Gebäude ragen empor, die meisten aus schwarzem Gestein, nur einige wenige aus weißem. Die Stadtmauern sind von einem Wassergraben, Wiesen und Bäumen umgeben. Innerhalb der Mauern kein einziges Lebenszeichen, keine Vögel, keine Fische, keine Tiere - nicht ein einziges Lebewesen.
Wie eine Schaukel bewegt sich die Stadt, sie schwankt. Entfernt sich, kommt wieder näher. Die riesigen Gebäude scheinen sich zu vermehren, dann werden sie auf einmal wieder weniger. Und manchmal scheint es, als würden Wiesen und Bäume in der Ferne verschwinden, zu einem Ganzen verschmelzen. Memduh Selîm möchte wissen, welche Stadt es ist, vergebens. Die Stadt liegt jetzt wieder in weiter Ferne.
»Onkel Memduh, wir haben alle deine Bücher neu geordnet. Schau mal, die kurdischen Bücher sind in diesen Regalen. Und diese ganze Seite ist den türkischen vorbehalten. Und diese vier Fächer auf der linken Seite sind für die französischen Bücher. In den anderen sind die arabischen, englischen und russischen . Und die Zeitungen, Zeitschriften und all die anderen Sachen haben wir in diese Kisten gepackt. Geordnet natürlich.«
Memduh Selîm, der Meister der Träume, schwebt mitten in einem bunten Traum. Er ist ganz anders - früher vergifteten grässliche Alpträume seine Nächte. Nachts wachte er in Schweiß gebadet und schreiend auf. Manchmal träumte er auch etwas Schönes. Benommen vor Wonne, ließ er sich dann froh und glücklich in die Wogen der Träume fallen.
Der Traum dieser letzten Reise jedoch ist nicht angenehm und auch nicht schrecklich. Wie soll man ihn nur beschreiben? Es ist der Traum seiner letzten Reise.
Eine weite Ebene. Ganz in gelbliche Farbe getaucht, verschmilzt sie mit dem Horizont. Sie flimmert und zaubert Luftspiegelungen hervor. Kleine Hügel erheben sich aus der Ebene. Aber Memduh Selîm erkennt sie nicht wieder, ihre Farben wechseln und überlagern sich, glänzen wie ein Regenbogen. Auch die Ebene verändert sich. Mal wird sie ganz sandig, dann trägt sie Wiesen und Felder, dann wieder Steppen. In der Ferne sind merkwürdige Lebewesen zu erkennen. Auch sie sind ihm fremd, wechseln die Formen. Jetzt scheinen sie zu Raubtieren zu werden, die in Rudeln umherziehen, dann wieder wachsen ihnen Flügel, und sie erheben sich in Scharen in die Lüfte. Kein Wasser, kein Baum sind in der Ebene zu sehen.
Inmitten all dieser Bewegung bleibt allein der Klang der Musik sich gleich, wohltönend. Verschiedene Melodien kommen aus der Ferne, von dort, wo Horizont und Ebene sich vereinen. Was sind das für Melodien? Sie erinnern an europäische Sinfonien des 18. Jahrhunderts, dann aber an kurdische Volkslieder oder Klaviersonaten, dann wieder an klassische arabische Musik oder persische Verse. Die Ebene wandelt sich im Rhythmus der Melodien. Doch diese Laute kommen von sehr weit her, aus der Stille, die einer Melodie gleicht .
»Memduh, beweg dich doch, sag etwas, erzähl uns von den Tagen in Wan und Stembol, lies uns aus deinen Büchern vor, lache, weine, schreie, erzähl von deiner Schwester, erzähl von den Tagen in Antaqiya . Nur, um Gottes willen, sag doch etwas.«
So spricht Wîldan Xanim zu ihm, die an seiner Seite sitzt und sein Gesicht betrachtet. Memduh Selîms Blick ruht auf ihr, seine Lippen wollen sich öffnen und ein Lächeln andeuten, vergebens. Nur seine großen Augen belohnen sie mit einem Blick, der zu lachen versucht.
»Onkel, Onkel! Hörst du mich? Ich komme aus der Stadt. Die Kurden aus Damaskus fragen nach dir . Das Wetter ist heute sehr schön, es ist warm. Soll ich die Fenster öffnen?«
Memduh Selîm sieht auf seiner Reise auch ein Fenster, eine riesige Öffnung zwischen Erde und Himmel, die sich langsam weitet. Dahinter sieht man ein klares, blaues Meer, es breitet sich aus zwischen Himmel und Erde. Die Sonnenstrahlen tanzen und glitzern auf dem Wasser. Ganz ruhig liegt das Meer da, keine Welle kräuselt sich, und alles ist still. Memduh Selîm schaut auf das Wasser und die Strahlen. Er ist im Wasser, dann wieder ganz in Licht getaucht. Plötzlich teilt sich das Wasser vor ihm, zwei weiße Tauben steigen empor und fliegen davon. Ihre Federn sind weiß wie Baumwolle. Sie kreisen ein paar Mal über dem Meer und verschwinden dann langsam in der Ferne. Dann öffnet sich das Meer erneut, wie eine Venus taucht ein nacktes Mädchen auf und fliegt fort. Ein schönes Mädchen mit langen Haaren. Sonnenstrahlen fallen auf den weißen Körper und bringen die Tropfen, die an ihm herabperlen, wie Perlmutt und Diamanten zum Glänzen. Die Spitzen der festen Brüste glänzen, sein Körper funkelt feuerrot. Es erscheint groß, dann wieder klein wie ein Kind. Das Mädchen fliegt auf Memduh Selîm zu und nähert sich ihm, erreicht ihn aber nie. Es kreist ein paar Mal um ihn herum, fliegt mal höher, mal tiefer. Die Lippen des Mädchens bewegen sich, doch Memduh Selîm kann sie nicht hören. Dann fliegt das Mädchen auf in die Ferne, das Gesicht ihm zugewandt, und verschwindet in der Weite seines Traumes.
Mit dem Mädchen entzieht sich auch das Meer. Wieder...
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