Schweitzer Fachinformationen
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Ich will nicht fliegen. Nadia hat recht, ich hätte wie Vince aus der Wohnung ausziehen, wir hätten sie auflösen sollen. Dann müsste ich jetzt nicht zum Flughafen fahren, ins Flugzeug steigen, zu Nadia nach Frankfurt fliegen. Ich will nicht. Lieber knete ich den Riemen meiner Tasche. In dieser Küche. Auf diesem Stuhl. Immer hier.
Am Ende des Flurs stehen die drei restlichen Umzugskartons von Vince. Zehn, elf, zwölf, dreizehn Jahre in Kartons - haben wir hier wirklich so lange zusammengewohnt?
Im Treppenhaus riecht es scharf nach Essig. Die letzten Stufen glänzen nass. Ein Mann wringt einen Lappen aus, er habe frisch gewischt. Wir stehen da, ich auf halber Treppe, er unten vor dem Treppenabsatz, und schauen auf das trocknende Holz der Stufen.
Im Taxi die Autobahn hoch nach Tegel, durch den Nieselregen, vorbei an Hausfassaden mit aufgemalter Werbung aus den Siebzigerjahren, an den drei großen Schornsteinen des Heizkraftwerks, dem Messeparkplatz, der aussieht wie ein weißer Roboter neben der Stadtautobahn. Nadia schreibt: Hab einen guten Flug, ich freu mich auf dich. Ich lege das Telefon neben mich auf die Rückbank. Ich würde es anschnallen, wenn das möglich wäre, und mit ihm reden wie mit einem Gefährten. Wo fliegen wir hin?, würde es fragen. Hoch, würde ich sagen, sehr hoch. Verliert der Himmel da seine Farbe? Sind die Sterne nah? Und gibt es dort eine Vorstellung von Zeit? Werden wir Netz haben? Es wurden viele Flüge gestrichen heute, sagt der Taxifahrer, wenigstens keine Terrorwarnung, in diesen Tagen weiß man nie.
In der Schlange zu den Gates schwellen einem Mann die Adern am Hals an, weil ich drängle. Wir müssen alle heute noch fliegen, zischt eine Frau. Beim Scanner muss ich die Schuhe ausziehen, ich sage, dass ich nur nach Frankfurt fliege, den Flug verpasse, wenn es hier nicht schneller geht. Der Mann mit den Einweghandschuhen besteht darauf, dass ich die Arme öffne. Während er mir unter die Achseln streicht, denke ich, dass das für viele die einzige Form einer Umarmung ist.
Am Gate zieht eine Frau vom Bodenpersonal gerade das Absperrband zu, draußen schließen die Türen des Busses. Falls es zu spät ist, will ich nach Hause, ins Bett, mit Mantel und Tasche, auf mich ist Frankfurt nicht angewiesen. Ist es zu spät?, frage ich, die Frau nickt, sagt, dass das System um Viertel vor schließe, ihr seien die Hände gebunden, wobei sie auf ihre Handgelenke schaut, auf dem linken ist eine Kaligrafie tätowiert. Sechzehn, sage ich, es ist sechzehn vor. Sie zieht meine Bordkarte über den Scanner, es piept. Die Frau öffnet erst die Absperrung, dann die Tür, der Bus, der bereits angefahren war, hält wieder, die Fluggäste schauen ausdruckslos. Beeilen Sie sich. Ich weiß nicht, sage ich. Hitze überkommt mich, unter den Achseln, zwischen den Schulterblättern, schnürt mir die Kehle zu. Der Regen hat zugenommen.
Die Menschen im Bus schauen mich an, auch die Busfahrerin dreht sich zu mir um. Die meisten stehen, haben Koffer zwischen den Beinen oder Taschen um die Schultern, halten Bücher oder Zeitungen in den Händen oder unter den Arm geklemmt, ein alter Mann trägt einen Strauß gelber Blumen. In meinem Rücken spüre ich die Kälte der Tür, gegen deren Glas ich lehne. Ein Mann mit eckiger Hornbrille und wenigen, dafür gekämmten Haaren grüßt mich: Guten Tag. Er ist klein, mit auffällig gerader Haltung und kurzem Hals. Ich nicke, um seinen Gruß zu erwidern. Wir sind ja noch gut in der Zeit, grinst er. Die dicken Brillengläser vergrößern seine Augen, die er hinter den halbgeschlossenen Lidern in unregelmäßigen Abständen bewegt wie eine Echse. Seine Nase ist so klein, dass sie unter der Brille fast verschwindet. Am Flugzeug steige ich als Erster aus dem Bus. Ich will nicht zusammen mit ihm auf der Treppe warten müssen.
Auf meinem Fensterplatz kauere ich mich in die Ecke. Mit geschlossenen Augen höre ich die Geräusche der Menschen, die ihre Plätze suchen: Eine Tüte knistert, Gepäckfächer klappen auf und zu, ein Kind zählt die Sitznummern ab, ein Baby weint. Das Dröhnen der Turbinen beginnt.
Im Fenster bewegen sich eckige Fahrzeuge. Hallo, sagt ein Mann neben mir. Die Echse. Wir haben eine leichte Verspätung, aber die holen wir sicher ein. Ich habe es nicht eilig, sage ich. Er runzelt die Stirn.
Wir fliegen.
Wir müssten schon über Magdeburg sein, gibt der Mann nicht auf und lockert seinen Kragen. Draußen ist es weiß.
Irgendwann kündigt der Pilot durch die Lautsprecher die Landung an. Er habe die Landegenehmigung aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens in Frankfurt erst jetzt erhalten, wir hätten circa dreißig Minuten Verspätung. Von mir aus können wir noch Stunden über der Stadt kreisen. Die Echse lächelt mir zu. Was führt Sie nach Frankfurt? Ich besuche meine Freundin, sage ich. Alles ist falsch an diesem Satz. Ich bin eine Motte und kreise um die Stadt. Die Echse sagt, dass sich ein Besuch in Frankfurt immer lohne. In dem Moment fällt das Flugzeug in ein Luftloch, die Echse ruft: Huch, und lacht verlegen, als hätte ich sie bei etwas Unanständigem ertappt. Dann fallen wir wieder.
Zum ersten Mal begreife ich körperlich die Bedeutung der Sicherheitsgurte. Meine Organe vollziehen eine andere Bewegung als der Körper, der sie umschließt. Sie ziehen auseinander, der Magen verformt sich, presst gegen die Lunge, erschwert das Atmen. Ein Gefühl nah an Übelkeit, aber anders.
Ich sehe den Lärm in der Kabine, höre ihn nicht, sehe nur: nasse Augen von Kindern, feuchte Wangen, Finger, die sich in die Stoffe der Vordersitze krallen, die Echse drückt ihren Kopf in den Schoß, die wenigen Haare sind strähnig nass vom Schweiß. Ich stelle mir vor, wie wir immer weiter fallen, wie das die letzten Minuten meines Lebens sind, vor dem Aufprall.
Vorne knallt ein Buch auf den Gang. Auch hinten ein Knall, ich schaue mich um, die Toilettentür schlägt auf und zu. Ein Mann boxt mit der Faust gegen die Rückenlehne seines Vordermanns. Er trägt Hemd und Krawatte, die kurzen blonden Haare sind stumpf, er schlägt noch einmal gegen den Sitz. Ich erkenne ein Lächeln in seinem Gesicht. Auch der Mann neben der Echse lächelt, aber: Freude und Schmerz sind nicht zu unterscheiden. Er hält sein Buch geöffnet auf dem Schoß und versucht, weiterzulesen, wann immer etwas Ruhe einkehrt. Woher diese Sicherheit? Oder misst er diesem Augenblick keine Bedeutung bei: nur eine Minute unter all den Minuten, die das Leben abgezählt hat. Im Nacken der Echse glänzt der Schweiß.
Ich habe meine Mutter lange nicht mehr gesehen. Wenn ich verunglückte, würde sie das nicht ertragen. Nicht ertragen heißt das Leben, wie sie es kennt, nicht mehr weiterführen. Nicht ertragen heißt den Staub in der Wohnung siegen lassen. Nicht ertragen heißt die Gardinen weder auf- noch zuziehen. Den Teekessel auf der Herdflamme vergessen. Verschimmeltes Toastbrot rösten. Ich weiß, dass wir nicht abstürzen werden. Und doch: Die Möglichkeit besteht. Die Müdigkeit heute Morgen, der Mann, der das Treppenhaus putzte, der Taxifahrer. Ich hätte diesen Flug nicht nehmen dürfen, sage ich vor mich hin, ich hätte diesen Flug nicht nehmen dürfen. Die Echse schaut mich von unten an, ihre Augen wirken in diesem Winkel riesig.
Nadia würde sicher versuchen, mich zu erreichen, aber mein Telefon wäre aus. Sie würde Vince anrufen, der wüsste von nichts, würde sagen, dass schon alles in Ordnung wäre. Bei meiner Mutter würde Nadia nicht anrufen, nicht heute. Nadia, die auf meine Mailbox sprechen würde, erst sanft, dann mit leichtem Zorn in der Stimme, dann wütend, dann verletzt, Stunden später Angst. Meine Mutter in fünf Jahren, Vince in fünf Jahren, die Asche, zu der mein Körper geworden wäre, in fünf Jahren. Ich weiß, wir stürzen nicht ab. Nadia, die sich ihren Sohn um die Brust geschnallt hätte, die in Frankfurt geblieben wäre, die am Main entlanglaufen und im Gehen das Abschlusskapitel ihrer Doktorarbeit planen würde. Vince in einer hundertzwanzig Quadratmeter großen Loftwohnung mit dem ferngesteuerten Auto seiner Tochter....
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