I Im Prag des Expressionismus
Wie kam es dazu, daß deutsche Dichtung und Literatur in den zehner und zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts gerade in Prag mit so besonderer Kraft und Originalität gedeihen konnten? Welches Aggregat von Lebenskräften hatte an dieser dichterisch erfüllten und schöpferischen Atmosphäre Anteil? Ich sollte es wissen, denn ich wurde dort geboren, wuchs dort auf und war Zeuge und Teilnehmer jener mit weltweiten Ideen, immer neuen Formen und sittlichen Begeisterungen erfüllten deutschen Prager Geisteswelt. Aber ein rasches und eindeutiges Urteil über die Gründe dieser Erscheinung kann nicht gefällt werden, und die sozialen, biologischen oder sonst im Materiellen wurzelnden Voraussetzungen können mir nur teilweise behilflich sein. Ein Phänomen wie die Ansammlung einer auffallend großen Zahl schöpferischer Persönlichkeiten höchsten, hohen oder zumindest sehr beachtlichen Ranges während einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne auf dem engen Raum einer Stadt (wie ähnlich einst in Weimar oder in Concord, Massachusetts) ist in der Hauptsache immer etwas Sublimes und Metaphysisches. Die meisten der Prager deutschen Autoren waren Juden, aber sie waren von ihrer jüdischen Zugehörigkeit nur fallweise durchdrungen. Ihr deutsches Sprachbewußtsein bestimmte ihr Geschichtsbewußtsein stärker, als dies etwa ihr Stammesbewußtsein vermochte (um hier Begriffe zu verwenden, die der Prager Philosoph Felix Weltsch sehr überzeugend in einer Studie über Kafka aufgestellt hat). Eine gewisse, aber auch nur unvollkommene Stütze mag mir bei meiner Betrachtung die Idee der Gestalt und Gestaltsqualität bieten, die ja übrigens auch in Prag von meinem Lehrer Christian Freiherr von Ehrenfels und später durch den Prager Max Wertheimer entscheidend entwickelt wurde. Sie noch am ehesten ermöglicht den erkennenden Anblick des Geheimnisses einer literarischen Physiognomie, deren disparate Einzelzüge sich zu einer unanalysierbaren Gesamtschönheit vereinigen.
Die Prager deutschen Dichter und Schriftsteller hatten gleichzeitigen Zugang zu mindestens vier ethnischen Quellen: dem Deutschtum selbstverständlich, dem sie kulturell und sprachlich angehörten; dem Tschechentum, das sie überall als Lebenselement umgab; dem Judentum, auch wenn sie selbst nicht Juden waren, da es einen geschichtlichen, allenthalben fühlbaren Hauptfaktor der Stadt bildete; und dem Österreichertum, darin sie alle geboren und erzogen waren und das sie schicksalhaft mitbestimmte, sie mochten es nun bejahen oder auch dieses oder jenes daran auszusetzen haben. Jeder dieser Quellpunkte nun bezog seine Dynamik aus zwei Sphären: aus dem ortsgebundenen Pragertum und aus dem zentripetal anflutenden Böhmentum. Dieses wiederum bestand aus den teils ansässig gewordenen, teils von der deutschen Universität herangezogenen Sudetendeutschen; aus einem Grundstock tschechischen Landvolkes, das nach der Landeshauptstadt, später Staatshauptstadt, gravitierte; aus tschechischen oder auch deutschen Landjuden, die als mittlere Gutsbesitzer oder Gutspächter einen besonderen Typus darstellten; dann aber aus dem eingeborenen böhmischen, zum Teil auch tschechisch betonten österreichischen Adel (sowie dem deutsch, das heißt österreichisch katexochen empfindenden) mit seinen Palais in der Stadt und seinen prächtigen Landsitzen rundum in Böhmen, uralt und in manchen Fällen sogar noch in die Zeit der Premysliden-Könige zurückreichend, einem Adel also, dem selbst die Habsburger als relative Neuankömmlinge erscheinen mochten. All dies wirkte zusammen, mit alledem fand sich ein Dichter konfrontiert und geriet dadurch sehr bald aus der Sphäre örtlicher Gebundenheiten in die des Grundsätzlichen.
Tschechische Dichter und Schriftsteller, noch tief verstrickt in ihre nationalen Bestandskämpfe, konnten sich solcher Grundsätzlichkeit nicht anheimgeben, obschon sich Vorzeichen hiefür in der Literatur bei den Brüdern Josef und Karel Capek, bei mehreren eine gewisse Weltweite anstrebenden bildenden Künstlern und in der tschechischen modernen Musik ankündigten, jener Ausdrucksform also, die am ehesten und unmittelbarsten unter Beibehaltung des nationalen Stigmas ein künstlerisches Weltbürgertum erreichen konnte. Deshalb waren auch die persönlichen Beziehungen der Prager deutschen Dichter und Schriftsteller zu den tschechischen Malern und Musikern lebhafter als die zu den tschechischen Autoren. Die geradezu groteske Sprachbarriere wirkte dabei auch noch mit. Nicht alle deutschen Literaten waren mit der tschechischen Sprache vollkommen vertraut (obwohl das von den Juden unter ihnen weitgehend gelten konnte), und nur wenige tschechische Autoren sprachen Deutsch oder mochten es sprechen.
Für die deutsch schreibenden Prager bildete die zuweilen freundschaftliche, zumeist politisch turbulente und streitlustige - von antisemitischen Anwandlungen auch tschechischerseits nicht völlig freie - Symbiose und Wechselwirkung, dieses Durcheinanderglühen des alchemistischen Prager Schmelztiegels, die causa causarum eines literarischen Freimuts, der sich sehr bald seinen dichterischen Ausdruck in allen Rängen schuf und für den um jene Zeit die Bewegung, die man Expressionismus nannte, ein machtvolles Entbindungsmittel darstellte. Denn vermöge seines nationalen, sozialen und konfessionellen Facettenreichtums bot ihnen Prag in der Tat das geistige Potential einer Groß- und Weltstadt, viel brillanter als so manche weit volkreichere europäische Metropole.
Zwar hatte in Prag schon vormals ein deutschsprachiges literarisches Eigenleben bestanden, und wir können seinen Spuren sehr genau folgen, wenn wir den Verbindungen Goethes mit Böhmen nachgehen und in der Folgezeit dem Schaffen der »Achtundvierziger« sowie noch später dem der Dichter der »liberalen Ära«, die mit Friedrich Adler und Hugo Salus noch in meine Jugendentwicklung herüberreichte. Auch Rilke wurde jener »liberalen Ära« noch mancherlei schuldig, doch leitete er zugleich den Ausbruch der Deutschprager Dichter ins Europäische ein. Seit Rilke datiert die Epoche, deren Leistungen dann unter dem entscheidenden Einfluß Max Brods durch Kafka und Werfel eine mondiale Streuung erlangten. Derartiges war vorher aus Prag nicht gekommen, obwohl während des ganzen 19. Jahrhunderts dort so viel Deutsch gesprochen wurde, daß die hunderttürmige goldene Hauptstadt der Tschechen oberflächlicherweise manchen Unwissenden beinahe schon als »deutsche Stadt« galt, eine Mißdeutung, die später bittere Folgen haben sollte.
Rilke hatte die tschechische Umwelt nachhaltig vom Volkstum aus erlebt. »Böhmischen Volkes Weise« klang ihm im Ohr und mag sich mancher Wortformung und Satzwendung bei ihm mitgeteilt haben. Das ist Schicksal, dem sich keiner in keinem Lande entziehen kann noch soll, denn es ist auch Bereicherung des eigenen. Aber Rilke wandte sich zeitig von Prag ab. Mit den Menschen und den Geschicken der Stadt und des Landes hat er zu wenig gelebt, Schmerz und Glück zu wenig mit ihnen geteilt. Das aber konnte nicht von Paul Leppin oder Franz Werfel, nicht von Paul Kornfeld oder Max Brod, nicht von Felix Weltsch, dem philosophischen Kopf, nicht von dem religionsweisen Hugo Bergmann, von Willy Haas, dem kritischen Mentor, oder Egon Erwin Kisch, dem »rasenden Reporter«, gelten. Und selbstverständlich am allerwenigsten von Franz Kafka, in dem Prag daheim ist wie Zürich in Keller oder Concord in Thoreau. Alle genannten Prager lebten mit der Stadt, verdankten ihr das Beste, wurden Zeugen der ansteigenden politischen Vehemenz der Tschechen, des immer mehr nachlassenden Lebenswillens der Habsburger Monarchie, zugleich aber im Gelände der deutschen Literatur, das sie geistig mitbewohnten, der Befreiung der literarischen Ausdruckskräfte von den Residuen der Baumbach-Ära. Bei diesem revolutionären Prozeß konnten sie gerade in Prag übernationaler sein als wo immer sonst in deutschen Landen.
Sprachlich und atmosphärisch verfügten sie über einen direkteren Zugang zu den großen Russen. Ich las zum Beispiel Tolstoj und Dostojewskij nicht bloß in deutscher Übersetzung, sondern auch tschechisch, und das bedeutet, diese Autoren nicht nur vermöge des Verstandes, sondern gleichsam aus einem verwandten Herzen heraus zu begreifen. Die moderne tschechische Malerei, radikal und kühn vorstoßend, riß weite Sichten nach Frankreich auf. Die ungeheuere natürliche Musikalität der Tschechen umgab uns, und die besten Zeugnisse des in Prag lange gepflegten, nun aber schon hinsinkenden Wagnerismus wurden bereits von den Schöpfungen einer durch Alexander von Zemlinsky, den Lehrer und Schwager Schönbergs, heraufgeführten neuen musikalischen Epoche überboten. Freilich konnten und wollten wir uns den Wirkungen Hauptmanns und Wedekinds im Drama, denen Georges und Hofmannsthals in der Lyrik nicht entziehen, aber Prag blieb eine autochthone, noch mehr: eine geistig autarke Welt, die zum Beispiel ein Karl Kraus - obschon selbst aus Mittelböhmen stammend - von Wien aus überhaupt nicht mehr verstand und jedenfalls völlig verkannte.
Aber nicht mehr der sentimentale Zauber Prags konnte die dichterischen Emotionen der dortigen deutschen Expressionisten auslösen (wie er mit gotischer und barocker Magie noch die Verse der Adler und Salus getönt hatte), sondern das realistische Leben, das sich Verwandelnde, darin die Gottheit ist, das Soziale, das Humane und Weltfreundschaftliche, das schlechthin Europäische, zu dem gerade diese Stadt der unaufhörlichen kämpferischen Antithesen stündlich herausforderte. Unter solche Forderung waren die Deutschprager Dichter viel entschiedener gestellt als die auf ihr Nationalgefühl verpflichteten Tschechen oder die Sudetendeutschen draußen im Lande. (Ich redigierte eine Zeitlang eine literarische Zeitschrift, die ich geradezu >Der...