Zu Hause
Inhaltsverzeichnis
"Mutti schu Hause?" Das ist immer die erste Frage, wenn Mädi und Bubi vom Spielplatz heimkommen.
Bubi klingelt stürmisch an der Haustür. Fräulein Minna öffnet schon. Sie hat die Frage gehört und schüttelt lachend den Kopf. "Nein, sie ist ausgeflogen. Aber erst sagt man doch schön guten Tag, Mädi!"
"Guten Tag, Minnachen! Aber nun sag bloß schnell, wohin is Mutti geflogen. In den Himmel?" Das kleine Mädchen hängt sich zärtlich an Minnas dicken, roten Arm. Denn weiter hinauf reicht es nicht.
"Schon möglich", lacht Minna.
"Mit dem Fernrohr?" erkundigt sich nun auch Bubi erwartungsvoll.
"Kann schon sein."
"Aber Minna, reden Sie doch den Kindern nicht solche Märchen ein", sagt Frau Annchen ärgerlich. "Mutti ist in die Stadt gefahren und kauft dort ein."
Bubi ist mit Frau Annchens Erklärung gar nicht einverstanden.
Er hätte es viel schöner gefunden, wenn Mutti mit dem langen Fernrohr in den Himmel geflogen wäre. Aber vielleicht irrt sich Frau Annchen, und Minna hat doch recht, denkt der kleine Mann.
Bubi presst das Naschen gegen die verschlossene Glastür.
Die Tür ist immer fest verschlossen. Denn hinter dieser Tür befindet sich der Balkon, auf dem Vatis großes Fernrohr steht. An das dürfen die Kinder nicht heran. Aber Bubi und Mädi dürfen auch nicht auf den Balkon hinaus, damit sie nicht hinunterfallen können. Auf den wilden Bubi muss man besonders achtgeben, weil er überall hinaufklettert.
"Mädi, glaubst du, dass Mutti in das Fernrohr eingestiegen is und damit in den Himmel geflogen?" Bubi stellt sich das ungefähr so wie eine Fahrt mit der Bahn vor.
"Nein", sagt Mädi und begrüßt das Schaukelpferd. "Nein, da geht sie bestimmt nicht 'rein."
"Es isch doch aber so mächtig lang, bis in den Himmel!"
Bubi ist da ganz anderer Meinung als sein Schwesterchen.
Für Mädi ist Bubis Schaukelpferd bedeutend wichtiger als das Fernrohr. Sie liebt es mehr als ihre Puppen. Es heißt Braunchen und hat einen roten Sattel. Aus dem Park hat sie ihm in ihrem Eimerchen Grasfutter mitgebracht.
"Da hascht du, Braunchen, schaftiges Grasch! Hascht du Hunger, Braunchen?" Braunchen nickt mit dem Kopf und lässt sich das Grünfutter schmecken.
"Pferde fressen lieber Heu, Mädi, das ist getrocknetes Gras", meint Frau Annchen.
"Warte mal, Braunchen, wir müschen das Grasch erseht trocknen." Mädi holt dem Pferd das Mittagessen wieder aus dem Maul. "Du! Beisch nich!" Mädi häng das Gras auf die Puppenwäscheleine, die zwischen zwei Stühlen gespannt ist. Es baumeln schon ein paar Puppenhöschen daran. Damit das Gras nicht herunterfallt, macht es Mädi mit kleinen Puppenklammern fest. Nun kann es trocknen und Heu werden.
Frau Annchen kann gar nicht aufhören zu lachen. "Gras kann man nur in der Sonne trocknen, nicht auf der Leine, Mädi", sagt sie.
Aber Braunchen ist wütend, weil man ihm sein Mittagessen fortgenommen hat. Es schaukelt vor Ärger hin und her.
"Bischt du traurig, Braunchen?" Mitleidig umfängt das kleine Mädchen das Schaukelpferd mit seinen Armen.
Braunchen nickt.
"Sieh mal, Frau Annchen, wie es aussieht! Gansch traurig sieht das arme Braunchen aus. Es weint!"
"Holzpferdchen können nicht weinen!" erklärt Bubi. Er kommt sich wieder sehr viel älter und gescheiter vor. Er hat jetzt endlich auch genug überlegt, ob Mutti wohl in das Fernrohr hineingegangen ist.
Weil Mädi sich mit seinem Schaukelpferd beschäftigt, läuft Bubi zu ihrem Puppenwagen, der in der anderen Ecke steht.
Dort sind die Puppen noch viel wütender auf Mädi als Braunchen. Mädi kümmert sich wirklich nicht viel um ihre Puppenkinder. Sie spielt viel lieber mit Bubis Spielsachen.
Sie denkt nicht daran, dass Puppen genauso Hunger haben wie Schaukelpferde. Neidisch sehen die Puppen zu, wie Mädi jetzt das Gras von der Leine nimmt und Braunchen damit füttert. Denn Mädi findet, das Gras sei schon trocken genug.
Die Puppen bekommen beim Zusehen großen Appetit auf Puppenspinat aus Gras. Aber Braunchen lässt für sie nichts übrig.
Doch jetzt werden die armen Puppen aus ihrer Ecke hervorgezogen.
Bubi packt sie alle in den Puppenwagen hinein.
Da liegen Eischen mit der verbeulten Nase, die einarmige Lilli, der lahme Hampelmann, Nauke mit der Pauke, der Filzdackel Fifi und Schnäuzchen, das weiße Kaninchen, alle bunt durcheinander.
"So, nun kommen wir doch auch einmal ein bisschen ins Freie, Fräulein Lilli", meint Nauke mit der Pauke mit froher Stimme.
"Ja, wenn Bubi nicht wäre! Mädi ließe uns verhungern, verdursten und ohne Licht und Luft ersticken." Lilli ist furchtbar böse auf ihre Puppenmutter. Das ist auch kein Wunder!
Vor zwei Tagen hat sich Lilli den Arm zerschlagen. Mädi denkt nicht daran, wie weh das ihrem Kind tut. Wenn Bubi der Puppe nicht einen Verband aus Zeitungspapier gemacht hätte, wer weiß, ob Lilli überhaupt noch am Leben wäre.
"Siehst du, jetzt fahren wir spazieren, und du musst in deinem Stall bleiben", ruft Eischen im Vorüberfahren dem Schaukelpferd zu. Die Puppen können das Braunchen alle nicht leiden, weil es Mädis Liebling ist und ihnen vorgezogen wird.
Aber ach, es ist kein großes Vergnügen, mit Bubi spazierenzufahren.
Quer durch die Wohnung geht es in wilder Fahrt, über Türschwellen, Bausteine und Eisenbahnschienen, ganz gleich, was im Weg liegt. Bubi saust - rrr - mit dem Puppenwagen durch die Zimmer.
Rrr - Eischen und Lilli kreischen vor Entsetzen über die wilde Reise. Nauke mit der Pauke stöhnt; er ist schon ganz schwindlig. Genauso geht es dem alten Hampelmann. Fifi kläfft aufgeregt. Nur Schnäuzchen quiekt vor Vergnügen. Je wilder Bubi fährt, um so besser gefällt es dem Kaninchen.
Rrr - da ist Bubi im Wohnzimmer an das Tischchen angefahren, auf dem die schöne Vase mit den Blumen steht.
Klirr - ein Glas-, Wasser- und Blumenregen ergießt sich über die entsetzten Fahrgäste im Puppenwagen. Eischen bekommt noch einen Kratzer auf die verbeulte Nase.
Entsetzt blickt auch der kleine Kutscher auf das Unheil. das er angerichtet hat.
"Paputt!" sagte jemand hinter ihm. Mädi schaut erschreckt auf das Durcheinander.
"Kaputt heißt es", bessert Bubi mit zitternder Stimme aus.
Er möchte sich am liebsten in einem Mauseloch verkriechen, denn schon eilt Frau Annchen herbei. Sie ahnt etwas Böses.
"Das ist ja eine schöne Bescherung! Die schöne Vase ist zerbrochen! Das kommt von deinem Toben! Warte nur, wenn Mutti wieder nach Hause kommt." Die gute Kinderfrau ist wirklich böse. Sie hat Bubi schon so oft verboten, mit dem Puppenwagen durch alle Zimmer zu rasen.
Aber Bubi ist anderer Meinung. Er denkt, das kommt nicht nur vom Toben, sondern daher, weil so viele Möbel in den Zimmern herumstehen, an die man anfahren kann. Doch er traut es sich nicht zu sagen, weil Frau Annchen böse ist.
In diesem Augenblick klingelt es an der Tür. Sicher ist das Mutti! Nein, dass sie auch gerade jetzt kommen muss! Frau Annchen hat noch nicht einmal die Scherben weggeräumt und die Überschwemmung aufgewischt. Bubi wünscht in dem Moment, dass Mutti wirklich mit dem großen Fernrohr in den Himmel gereist wäre. Von dort wäre sie doch nicht so schnell zurückgekommen.
Aber es ist nicht Mutti. Bubi und Mädi atmen erleichtert auf.
Denn Mädi fühlt sich genauso schuldig wie Bubi, obwohl sie doch eigentlich nichts angestellt hat. Aber das ist so bei Zwillingen.
Vor der Tür steht Mathilde, das Dienstmädchen der alten, nervösen Frau Lehmann. Sie wohnt im Parterre. Frau Lehmann lässt um Ruhe bitten. Vorhin hat sie geglaubt, ein Eisenbahnzug sei über ihren Kopf gefahren. Bei solch einem Krach könne sie ihr Nachmittagsschläfchen nicht halten.
Frau Winter möge doch dafür sorgen, dass ihre Kinder nicht so lärmen.
Mathilde geht wieder, nachdem sie ihre Botschaft ausgerichtet hat. Sie hat keinen besonderen Eindruck bei Bubi und Mädi hinterlassen; denn Frau Lehmann schickt jeden Tag herauf und bittet um Ruhe, im Winter sogar zweimal im Tag, weil Bubi und Mädi da mehr zu Hause sind. Bubi meint, sie sei eben alt und nervös und kann keinen Kinderlärm mehr vertragen.
Frau Annchen räumt die Scherben weg. Bubi wird in einen anderen Kittel gesteckt, denn er ist patschnaß. Aber weder Mädi noch Bubi denken daran, die armen, nassen Puppenkinder im Puppenwagen umzukleiden. Es ist ihnen ganz gleich, ob sich die Armen einen Schnupfen holen. Auch Mädi bekommt ein frisches Kleidchen. Nun endlich sieht sie wie ein Mädchen aus. Niemand kann sie mehr mit Bubi verwechseln.
Schon wieder klingelt es, gleich zweimal hintereinander.
Das ist Mutti! Sonst laufen ihr die beiden Kleinen jubelnd entgegen. Heute aber bleiben sie in ihrem Kinderzimmer.
Bubis Herz macht poch - poch.
"Komm, Mädi, wir wollen Versteck spielen!" Bubi ist plötzlich verschwunden. Wenn man eine Vase zerschlagen hat, ist es besser, man versteckt sich.
Draußen hört man schon Muttis liebe Stimme.
"Ja, wo bleiben denn meine beiden Kleinen? Freuen sie sich denn gar nicht auf ihre Mutti?" Mädi hält es nicht länger im Kinderzimmer aus. Sie läuft hinaus und drückt das Gesicht an Muttis helles Sommerkleid.
"Nanu, Mädi, was hast du denn? Ist etwas passiert?" Merkwürdig - Mutteraugen sehen sofort, ob etwas geschehen ist.
"Was paschiert",...