Schweitzer Fachinformationen
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Janice Harrison geht an die Haustür, als die Klingel die Stille zerschrammt. Jahrzehntelang hat der Rost an der alten Glocke gefressen, sie krächzt nur noch, und eines Tages wird sie überhaupt keinen Ton mehr von sich geben, weil der Klöppel festsitzt oder sie einen Kurzschluss hat oder was sonst mit diesen Dingern passiert. Jedes Mal, wenn sie sagt, sie möchte den Elektriker anrufen, sagt Ronnie ihr, er habe eine Liste, was im Haus alles in Ordnung gebracht werden muss, die Klingel sei mit drauf, er werde sich drum kümmern. Er nimmt die Dinge gern selber in die Hand. Harry war mehr dafür, andere alles machen zu lassen.
Wegen eines Ziehens in der Hüfte braucht sie länger als sonst für den Weg von der sonnigen, abgenutzten Küche durchs Esszimmer, in dem die Rouleaus heruntergezogen sind, damit der Perser nicht verschießt und die polierte Platte des Mahagonitisches nicht austrocknet, ins Wohnzimmer, wo man jedes Mal um den niedrigen, einer alten Schusterbank nachgebildeten Tisch vor dem grauen kurzflorigen Plüschsofa herumgehen muss, sodass sich im Auslegeteppich eine helle Trittspur gebildet hat. Ein großer brauner Zenith-Fernseher, auf dem sich der staubige Schnickschnack ihrer Mutter drängt, starrt blind dorthin, wo früher der Barcalounger ihres Vaters gestanden hat. Sie halten sich kaum noch hier auf, hocken nicht mehr wie früher auf dem Sofa und sehen fern. Ronnie sieht sich lieber in der Küche in dem kleinen Sony die Abendnachrichten an, während er isst, und wenn Nelson nach der Arbeit zu Hause bleibt, hat er oben den Computer, er sagt, sich mit dem Computer zu beschäftigen, macht mehr Spaß als Fernsehen, weil es interaktiv ist. Mit seiner Frau Teresa war er nicht so interaktiv, die ist vor über einem Jahr mit beiden Kindern nach Ohio zurückgegangen. Er und Roy, der jetzt vierzehn ist, schicken sich gegenseitig E-Mails, meist anstößige Witze (diesen Sommer gab's einen besonders grässlichen: Weißt Du noch, als die Kennedys jeweils nur eine Frau ersäuft haben?), als ob der Austausch von E-Mails ebenso gut wäre, wie mit einem leibhaftigen Vater unterm selben Dach zu leben.
Oft hört Janice die Klingel überhaupt nicht, obwohl sie im Haus ist oder gleich hinten im Garten. Sie findet dann in die Tür geklemmte Benachrichtigungen von Lieferanten vor, die wieder abziehen mussten, oder Visitenkarten von Vertretern, die keine Gelegenheit bekommen hatten, ihre Sache vorzubringen. Sie ist dankbar dafür, aber es gibt ihr doch auch das Gefühl, isoliert zu sein; angenommen, jemand klingelte, den sie für ihr Leben gern sähe? Sie weiß allerdings nicht, wer das sein sollte. So viele, an denen ihr gelegen war, sind tot.
Die schwere Nussbaumtür mit den schmalen hohen Seitenfenstern aus Mattglas, das mit floralen Arabesken gemustert ist, diese Tür, durch die sie, mit einigen Unterbrechungen, fast ihr ganzes Leben lang ein und aus gegangen ist, hat sich in der Feuchtigkeit des Sommers, die nie Regen gebracht hat, verzogen und die ganze Zeit geklemmt. Jetzt, wo es endlich herbstlich wird, geht sie leichter auf, mit einem trockenen Knacken. Das Mädchen - eigentlich eine Frau, ungefähr in Nelsons Alter -, das auf der Vorderveranda steht, kommt ihr irgendwie bekannt vor. Ein breites weißes Gesicht, weit auseinander liegende Augen mit ein wenig Milch im Blau und in den Winkeln die ersten Krähenfüße. Um einiges größer als Janice, füllt sie ihr beigefarbenes Sommerkleid gut aus, der Baumwollstoff spannt überm Busen und über den Schenkeln. Sie hat sich einen marineblauen Sweater um die Schultern drapiert, wie die jungen Frauen im Immobilienbüro Pearson und Schrack, die ihre leuchtenden Computer bedienen und sehr geschäftsmäßig tun. Sie fragt: «Mrs. Angstrom?»
Janice ist verblüfft. «Das war mal», sagt sie. «Mein jetziger Mann heißt Harrison.»
Das Mädchen wird rot. «Verzeihen Sie, ich wusste das nicht. Ich hab nicht dran gedacht.» Die milchig blauen Augen des Mädchens weiten sich, und Janice fühlt, wie diese Fremde regelrecht zittert, wie ein Beben ihren sorgfältig und zurückhaltend gekleideten Körper durchläuft, ein Wesen, das da auf der Fußmatte im rechteckigen Schatten der Veranda mit den Backsteinsäulen steht, als sei es in einer Falle gefangen.
Hinter ihr, auf der Joseph Street, wischen Autos mit einem frischen trockenen Geräusch vorbei. Ein glänzend neuer ziegelroter Lexus steht am lichtgesprenkelten Bordstein, unter den einstweilen noch grünen Ahornen. Eine Wolke zieht vorüber, und der Schatten, den sie wirft, ist fast kalt; daran erkennt man die neue Jahreszeit, die Schatten sind schärfer und dunkler, und unter allem liegt der Gesang der Grillen. Wegen der schrecklichen Dürre in diesem Sommer verfärbt das Laub sich früh, die Blätter der Rosskastanien rollen sich an den Rändern braun ein, und der Rasen in den Vorgärten, wo die Leute nicht gesprengt haben, sieht wie platt gedrücktes Stroh aus, ein Anblick, den Janice aus Kindertagen kennt, wenn man dem Erdboden näher ist und der Sommer endlos scheint.
«Meine Mutter ist vor zwei Monaten gestorben», setzt das Mädchen noch einmal an und holt tief Luft, damit das Zittern aufhört; mit beiden Händen hält sie sich eine kleine gestreifte Tasche vor den Bauch.
«Das tut mir Leid», sagt Janice. Nelson hat bei seiner Arbeit dauernd mit verrückten Leuten zu tun und sagt, man braucht keine Angst vor ihnen zu haben. Sie selber hat mit Leuten zu tun, die Häuser kaufen oder verkaufen wollen, die höchsten Summen, über die viele von ihnen sich je Gedanken machen müssen, und da reagieren manche auch nervös und irrational.
«Ich war nie verheiratet, sie war alles an Familie, was ich hatte.»
Also eine Bettlerin, trotz ihrer ordentlichen Aufmachung. «Das tut mir Leid», sagt Janice noch einmal, in abweisenderem Ton, «aber ich glaube nicht, dass ich helfen kann.» Sie hebt die Hand, um die schwere Tür zu schließen. Nelson ist im Therapiecenter, und Ronnie ist im Club und spielt Golf mit ein paar anderen Pensionären, sie ist also allein im Haus. Nicht, dass das Mädchen gewalttätig aussähe. Aber sie ist größer als Janice, großknochiger, von einer gefährlich fülligen Präsenz, mit der sie da steht, als hätte sie lange geschwankt und nun einen trotzigen Entschluss gefasst, wie eine Kundin, die den Sprung wagt und dreißigtausend mehr bietet, als sie sich leisten kann. Ihre Augenhöhlen sind leicht eckig und haben das Verquollene, das von Schlaflosigkeit kommt, und ihr Haar, fransig kurz geschnitten, wie man es heute trägt, ist ein Gemisch aus hellem Braun und dunklerem Braun, durchzogen von grauen Strähnen.
«Ich glaube das auch nicht», stimmt sie zu, «aber meine Mutter meinte, Sie könnten es vielleicht doch.»
«Habe ich Ihre Mutter gekannt?»
«Nein, Sie sind ihr nie begegnet. Aber Sie haben beide voneinander gewusst.»
Janice wünschte wirklich, Nelson wäre hier. Ein Blick würde ihm genügen, und er wüsste, was mit dieser Person nicht stimmt, und hätte gleich den richtigen Ausdruck dafür - manisch-depressiv, schizophren, paranoid, psychotisch. Wenn man psychotisch ist, sieht und hört man Dinge und kann morden, ohne es zu wollen, und vor Gericht dann ganz unschuldig wirken. Die lasierte Maserung des Nussbaumholzes unter ihrer Hand gibt zu verstehen, dass die Tür ein Schutzschild ist, dass man sie zuschlagen und dieser Begegnung ein Ende machen könnte, aber das Angenehme, Freundliche, Ruhige, das von dem Mädchen ausgeht, obwohl es so zittert und so verstört wirkt, hält die Tür offen. Die trockene warme Luft dieses frühherbstlichen Tages im südöstlichen Pennsylvania - die Kinder alle wieder sicher in der Schule verstaut, die vormittäglichen Straßen still, das Gemüse in den Hintergärten geerntet oder in Samen geschossen - liegt auf Janices Gesicht wie ein Hauch aus der Vergangenheit, und ihre Besucherin stammt aus derselben Gegend.
«Ich habe sie zum Schluss gepflegt, sie mochte Krankenhäuser nicht, sie hat sich in denen eingesperrt gefühlt», fährt die leise, behutsame, unsichere Stimme fort.
«Ihre Mutter», sagt Janice und lässt sich, ohne es zu wollen, auf das Mädchen ein.
«Ja, und als Krankenschwester konnte ich das natürlich - ihr die Medikamente geben und dafür sorgen, dass sie im Bett regelmäßig von einer Seite auf die andere gedreht wurde und all das. Eigenartig war nur, das für die eigene Mutter zu tun. Ihr Körper hatte doch so eine Bedeutung für mich. Sie mochte nicht angefasst werden, solange sie noch bei Kräften war. Mit manchen Leuten konnte sie ganz locker und unbefangen sein, aber ihre Privatsphäre hat sie geradezu fanatisch gehütet, auch mir gegenüber. Sie hat sich geweigert, mir irgendetwas zu sagen, außer, als sie dann wusste, dass sie sterben würde.»
Das Mädchen hat, während seine Nervosität nachließ, eine Etappe seiner Geschichte übersprungen, ohne es zu merken. «Was, sagten Sie, hat das alles mit mir zu tun?», fragt Janice.
«Oh. Ich glaube - ich glaube, Sie waren mit meinem Vater verheiratet.»
Ein Postauto zieht vorbei, einer dieser nasenlosen Vans, die sie jetzt benutzen, weiß mit rotem und blauem Streifen. Früher waren sie einfarbig grün, wie Militärfahrzeuge. Und Postboten waren Männer; jetzt kommt eine Postbotin zu ihnen, eine junge Frau mit langen sonnengebleichten Haaren und stämmigen gebräunten Beinen in Shorts, die ihre große Tasche in einem dreirädrigen Karren auf dem Gehweg vor sich herschiebt. Es ist noch zu früh, um diese Zeit kommt sie noch nicht, aber eine andere junge Frau ist zu sehen, sie tritt auf die Veranda der rechten Doppelhaushälfte drüben auf der anderen Seite der...
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