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Schwarz ist ein Sonderfall von Braun. Ebenso Weiß, wenn man genau hinsieht. Auf der Copacabana, dem demokratischsten, überfülltesten und gefährlichsten Strand von Rio de Janeiro, verschmelzen alle Farben zur jubilierenden, sonnensatten Farbe von Fleisch, die den Sand mit einer zweiten, lebendigen Haut überzieht.
An einem Tag nicht lange nach Weihnachten, Vor Jahren, als im fernen Brasilia die Militärs an der Macht waren, schien der Strand zu blenden, was an der Mittagsgrelle lag, an dem Gedränge der Leiber und an dem Salz, das Tristão in seinen Augen von den Brechern jenseits der Sandbank mitgebracht hatte. So heftig strahlte die Dezembersonne vom Himmel, daß in der Gischt der Brecher dort draußen jenseits der Sandbank immer neue, kleine, kreisförmige Regenbogen rund um den sprühenden Kopf des Jungen aufgeblitzt waren, wie Geister. Trotzdem fiel ihm, als er zu dem zerschlissenen T-Shirt zurückkehrte, das ihm auch als Handtuch diente, das hellhäutige Mädchen im hellen Bikini auf, das im Hintergrund stand, wo sich die Menschenmenge verlief. Hinter ihr erstreckten sich die Freiflächen für die Volleyballspieler und der Bürgersteig der Avenida Atlântica mit seinem wellenförmig gestreiften Mosaikpflaster.
Sie war in Begleitung eines anderen Mädchens, das kleiner und dunkelhäutiger war und ihr den Rücken mit Sonnenmilch einrieb. Unter den kühlen Berührungen krümmte sie den Rücken, drehte die Brüste nach einer Seite und die schmalen Halbkreise ihrer schon eingecremten Hüften nach der anderen. Es war weniger die Blässe ihrer Haut, die Tristãos schmerzenden Blick auf sie gelenkt hatte. Sehr helle Ausländerinnen aus Kanada oder Dänemark kamen an diesen berühmten Strand, auch Brasilianerinnen von deutscher oder polnischer Abkunft aus São Paulo oder aus dem Süden. Es war nicht ihre weiße Haut, sondern die provozierende Wirkung ihres knappen Badeanzugs, der mit der Haut verschmolz und den Eindruck völliger Nacktheit in aller Öffentlichkeit hervorrief.
Nicht völlig: Sie trug einen schwarzen Strohhut mit flacher Krone, aufgerollter Krempe und einem schimmernden, dunklen Band. Ein Hut von der Art, dachte Tristão, wie ihn ein Oberschicht-Mädchen aus Leblon zum Begräbnis ihres Vater tragen würde.
«Ein Engel oder eine Hure?» wandte er sich an seinen Halbbruder Euclides.
Euclides war kurzsichtig, und wo er nichts erkennen konnte, verbarg er seine Unsicherheit hinter philosophischen Fragen. «Kann ein Mädchen denn nicht beides sein?»
«Dieses Püppchen ist wie für mich gemacht», sagte Tristão impulsiv, aus jenen inneren Tiefen heraus, in denen sein Schicksal von jähen, unbeholfenen Schlägen geformt wurde, die ganze Stücke seines Lebens auf einmal losbrachen. Er glaubte an Geister und an das Schicksal. Er war neunzehn, und er war kein abandonado, denn er hatte eine Mutter, die aber eine Hure war und sogar noch schlimmer als eine Hure, denn im Suff schlief sie mit Männern ohne Geld und brütete Kaulquappenkinder aus wie ein menschlicher Sumpf aus Gleichgültigkeit und beiläufiger Lust. Er und Euclides waren im Abstand eines Jahres geboren worden. Keiner von ihnen wußte mehr von seinem Vater, als ihre völlig verschiedenen Gesichtszüge verrieten. Sie hatten gerade genug Zeit auf der Schule verbracht, um Straßen- und Reklameschilder lesen zu können, mehr nicht. Sie arbeiteten im Team, klauten und raubten, wenn der Hunger zu groß wurde, und fürchteten die Banden, die sie zu ihren Mitgliedern machen wollten, nicht weniger als die Militärpolizei. Diese Banden bestanden aus Kindern, die so gnadenlos und unschuldig waren wie Wolfsrudel. In Rio gab es damals weniger Verkehr und Gewalt und Armut und Verbrechen als heute, aber denjenigen, die damals dort lebten, erschien die Stadt lärmend und brutal und arm und kriminell genug. Schon seit geraumer Zeit hatte Tristão das Gefühl, daß er über die Kriminalität hinausgewachsen war und sich einen Weg in die Oberwelt suchen mußte, aus der die Reklame und das Fernsehen und die Flugzeuge kamen. Dieses ferne, bleiche Mädchen, so versicherten ihm nun die Geister, wies ihm den Weg.
Sein feuchtes, sandiges T-Shirt in der Hand, bahnte er sich den Weg zwischen den anderen fast nackten Körpern zu dem ihren, der im Bewußtsein, Beute zu sein, verkrampfter war als die übrigen. Auf seinem T-Shirt in verblichenem Orangerot stand LONE STAR, eine Werbung für ein Gringo-Restaurant in Leblon. In seiner schwarzen Badehose, die so eng anlag, daß sich die kompakte Wölbung seines Geschlechts abzeichnete, trug er in der kleinen Tasche, die für Münzen oder einen Schlüssel vorgesehen war, eine einschneidige Rasierklinge der Marke Diamant bei sich, die in einem Stück dicken Leders steckte, das er vorsichtig aufgeschlitzt hatte. Seine blauen Gummischlappen aus Taiwan hatte er unter einem Stranderbsenstrauch am Rand des Bürgersteigs versteckt.
Und außerdem, erinnerte er sich, besaß er noch einen weiteren Schatz: einen Ring, den er einer ältlichen amerikanischen Touristin vom Finger gerissen hatte, messingfarben, mit den Buchstaben DAR in einem kleinen Oval - drei Buchstaben, die ihn immer aufs neue verblüfften, denn sie bedeuteten «schenken». Jetzt wollte er diesen Ring der bleichen Schönheit schenken, deren Haut, während er näher kam, stolze Angst und Abwehr ausstrahlte. Obwohl sie aus der Ferne groß wirkte, war Tristão um eine Handbreit größer. Ein Duft, der von ihrer Haut ausging - die Sonnenmilch oder eine Ausdünstung ihrer Überraschung und ihrer Angst -, brachte ihm den Geruch des mütterlichen Sumpfs zurück, einen schwachen, leicht medizinischen Geruch aus einer Zeit, als er mit Fieber oder Würmern krank in der fensterlosen Dunkelheit ihrer Hütte in der favela gelegen hatte und seine Mutter, noch nicht vom Alkohol verwüstet, noch eine Quelle der Barmherzigkeit, ein einhüllender Mantel von Fürsorge gewesen war. Sie mußte die Arznei von dem Missionsarzt unten am Fuß des Hügels erbettelt haben, wo jenseits der Straßenbahnschienen die Siedlungen der Reichen begannen. Seine Mutter war damals selbst noch fast ein Mädchen, so fest im Fleisch wie dieses hier, wenn auch ohne solche ranken Glieder, und er, er mußte eine Miniaturausgabe seiner selbst gewesen sein, mit Füßen und Händen, die fett waren wie aufgehende kleine Brotlaibe, und mit Augen, die wie kleine schwarze Perlen aus seinem Schädel strahlten. Aber das lag außerhalb der Erinnerung, dieser Augenblick, der den köstlichen, sanften Duft gespendet hatte, welcher ihn erfüllte wie ein schläfriger Schrei. Jetzt erwachte er, hier in dieser sonnigen, salzigen Luft, windwärts vom Leib dieses schönen Püppchens.
Gegen einen leichten Widerstand seiner feuchten, vom Meerwasser runzlig gewordenen Haut zog er den Ring von seinem kleinen Finger, auf den er genau paßte. Die alte Gringa mit dem lockigen, blaugefärbten Haar hatte ihn an dem Finger getragen, auf den der Ehering gehört hätte, an der anderen Hand. Er hatte sie unter einer kaputten Straßenlaterne in Cinelândia erwischt, während sich ihr Ehemann in das Schaufenster eines Nachtklubs um die Ecke vertiefte, das voller Fotos von Mulattentänzerinnen hing. Als er ihr die Rasierklinge gegen die Wange preßte, wurde sie schlaff, als wäre sie selbst eine Hure, diese alte, blauhaarige Gringa, die nur noch wenige Jahre von der Grube trennten und die gleichwohl den größten Horror vor einem Kratzer in ihrem faltigen Gesicht hatte. Während Euclides die Tragegurte ihrer Handtasche durchtrennte, zog ihr Tristão den messingfarbenen Ring herunter, und für einen Augenblick verschlangen sich ihre Hände wie die Hände von Liebenden. Und jetzt streckte er diesen Ring dem fremden Mädchen entgegen. Ihr Gesicht hatte im Schatten des schwarzen Hutes etwas von einem Äffchen, wölbte sich über dem kräftigen Gebiß, das zu lächeln schien, auch wenn ihre Lippen, so wie jetzt, weit von einem Lächeln entfernt waren. Voll waren diese Lippen, vor allem die obere.
«Darf ich Ihnen dieses unbedeutende Geschenk überreichen, Senhorita?»
«Warum sollten Sie, Senhor?» Auch die Höflichkeit dieser Anrede hatte etwas von einem Lächeln, obwohl der Augenblick gespannt war und ihre untersetzte Begleiterin beunruhigt wirkte, eine Hand schützend vor die Brüste im Bikini-Oberteil legte, als wären sie Kostbarkeiten, die gestohlen werden sollten. Aber es waren nur braune Säcke voll Glibber, von keinem größeren Wert als dem gewöhnlichsten, die Tristãos unverwandten Blick für keine Sekunde abzulenken vermochten.
«Weil Sie schön sind und, was seltener ist, sich Ihrer Schönheit nicht schämen.»
«Sich zu schämen ist nicht der Stil der Zeit.»
«Und doch schämen sich viele Frauen noch immer. Zum Beispiel Ihre Freundin hier, die ihre schweren Kelche verbirgt.» Die Augen des minderen Mädchens blitzten, doch als sie einen Seitenblick auf Euclides warf, fiel ihre Empörung in sich zusammen, und sie mußte kichern. Tristão verspürte einen Anflug von Ekel vor diesem komplizenhaften, unterwürfigen Geräusch. Das weibliche Bedürfnis nach Unterwerfung machte seinem kriegerischen Geist allemal zu schaffen. Euclides rückte einen halben Schritt im Sand näher, akzeptierte den kampflos aufgegebenen Raum. Er hatte ein breites, finsteres Gesicht, unbarmherzig und verwirrt und lehmbraun. Sein Vater mußte zum Teil von indianischer Abstammung gewesen sein, während sich Tristãos Vater rein afrikanischen Blutes gerühmt hatte, so rein, wie Blut in Brasilien nur sein kann.
Das weißschimmernde Mädchen reckte weiter sein Kinn in die Luft und sagte zu Tristão: «Es ist gefährlich, schön zu sein. So haben die Frauen gelernt, sich zu...
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